Matthäus 11
Vers 1
Und es geschah, als Jesus seine Befehle an seine zwölf Jünger vollendet hatte, ging er von dort weg, um in ihren Städten zu lehren und zu predigen. Mt 11,1
Erinnern wir uns? All die vielen Belehrungen, die wir im Kapitel 10 des Evangeliums nach Matthäus finden, haben ihren Ausgangspunkt in der Aussendung der Jünger durch den Herrn Jesus. Wir sind uns gewohnt, dass Befehlshaber Leute aussenden, während sie selbst sich im Hintergrund halten. Der General erteilt die Befehle aus dem sicheren Bunker, weit entfernt vom Feindesland, der Chef gibt seine Anweisungen aus der Chefetage oder gar vom Golfplatz aus. Nicht so der Herr Jesus! Wenn Er Diener aussendet, bleibt Er nicht zurück, sondern Er geht voraus. Nachdem Er Seine Anweisungen erteilt hatte, ging Er selbst voran in die Städte, um dort (weiter) zu lehren und zu predigen.
Man darf den Effekt eines vorangehenden Vorbildes nicht unterschätzen. Der Herr Jesus wusste um die Schwachheit Seiner Jünger. Er hätte sie wie ein Eselstreiber mit der Peitsche vor Sich hertreiben können, aber Er zog es vor, wie ein Hirte Seinen Schafen voranzugehen. Davon dürfen auch wir lernen. Es ist nicht gut, wenn wir unsere schwächeren oder jüngeren Geschwister im HERRN zu Dingen antreiben oder gar anpeitschen. Besser ist es, voran zu gehen und sie mitzuziehen. Vielleicht ist es Deine Gabe und Berufung, als Evangelist auf den Strassen zu predigen. Und vielleicht kennst Du einen jungen Bruder, der dieselbe Gabe und Berufung hat. Dann nimm ihn an der Hand, geh mit ihm in die Stadt, stell Dich vor ihn und zeig ihm vor, wie Du evangelisierst. Das ist hundertmal besser, als ihm immer wieder in den Ohren zu liegen, er müsse halt endlich mal auf die Strassen gehen.
Die israelitische Armee hat seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 einige ganz aussergewöhnliche Erfolge gefeiert. Natürlich hat der HERR Seine Hand im Spiel gehabt. Ein Teil des Erfolges ist aber auch darauf zurückzuführen, dass Führung in der israelitischen Armee anders ausgelebt wird als in anderen Armeen. Die Israeliten haben nämlich das göttliche Prinzip der Nach-Folge verinnerlicht. Die Anführer senden ihre Männer nicht aus. Im Einsatz hört man vielmehr den typischen Ruf: «Acharai!» – «Folge mir nach!» Die Anführer gehen ihren Männern voraus. Wir tun gut daran, dieses göttliche Prinzip in unserem Zusammenwirken ebenfalls zu verinnerlichen.
Vers 2
Als aber Johannes im Gefängnis die Werke des Christus hörte, sandte er durch seine Jünger Mt 11,2
Johannes der Täufer war zwischenzeitlich von Herodes verhaftet und ins Gefängnis geworfen worden, worüber Matthäus erst in einem späteren Kapitel (Mt 14) berichtet hat. Wir werden die Umstände und Gründe für die Verhaftung bei der Betrachtung jenes Kapitels näher beleuchten. Hier sei nur so viel gesagt, dass Johannes verhaftet wurde, nicht weil er ein Verbrechen begangen hätte, sondern weil er das Wort Gottes treu gemäss seinem Auftrag gepredigt hatte.
Der Auftrag des Johannes hatte ja, wie wir bereits gesehen haben, darin bestanden, das Volk Israel zur Umkehr aufzurufen. Dieser Aufruf hatte direkt mit der frohen Botschaft in der Verbindung gestanden, dass der lang ersehnte Messias nun endlich kommen würde. Im Zusammenhang mit der Taufe Jesu machte Johannes klar, dass er ganz genau wusste, wen er da gerade taufte. Noch deutlicher schildert es sein Namensvetter in seinem Evangelium: «Am folgenden Tag sieht er Jesus zu sich kommen und spricht: Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt! Dieser ist es, von dem ich sagte: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir ist, denn er war eher als ich» (Joh 1,29.30). Johannes der Täufer wusste also ganz genau, dass Jesus der Christus, der Messias, der Heiland nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt war, also derjenige, auf den Israel so lange gewartet hatte.
Nun sass er im Gefängnis. Aber er hörte, was durch den Herrn Jesus alles geschah. Das zeigt uns zweierlei: Erstens müssen die grossen Taten des Herrn Jesus wirklich allgemeiner Gesprächsstoff gewesen sein, d.h. grosses Aufsehen erregt haben, wenn die Kunde davon sogar bis in die Gefängnisse vordrang, und zweitens hörte Johannes der Täufer von aussergewöhnlichen Taten, die seinen Glauben nach aller Logik anfachen mussten. Aber das Ergebnis war ein anderes, wie wir in den folgenden Versen sehen werden.
Vers 3
und liess ihm sagen: Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten? Mt 11,3
Die Kunde von Jesu Taten fachte nicht etwa den Glauben des Johannes an, sondern erschütterte ihn! Ja, sein Glaube wurde so tief erschüttert, dass er sich plötzlich nicht mehr sicher war, dass Jesus wirklich der Christus war! Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte Johannes, dessen grosse Lebensmission darin bestanden hatte, genau diese Tatsache bekannt zu machen, der so forsch aufgetreten und den HERRN so deutlich bezeugt hatte, plötzlich solche Zweifel hegen?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns in die Situation von Johannes dem Täufer versetzen. Das Neue Testament war noch nicht geschrieben; man kannte erst die Schriften des Alten Testamentes. Diese verhiessen einen Retter für Israel, der das Volk befreien, in sein Land zurückführen und dort eine ewige Herrschaft aufrichten würde. Obwohl das Alte Testament zahlreichen Hinweise auf die Leiden des Messias enthält, müssen wir fairerweise einräumen, dass es ohne das Licht des Neuen Testamentes kaum möglich ist zu verstehen, dass bereits die Schriften des Alten Testamentes von zwei zeitlich getrennten Kommen des Messias sprechen. Die Juden haben das jedenfalls nicht verstanden und deshalb gemeint, der Messias komme einmal, um dann sofort die Segnungen des messianischen Friedensreiches aufzurichten.
Johannes der Täufer verstand sich folglich als eine Art Herold, d.h. als einen Läufer, der die Ankunft des grossen Königs ankündigt. Er war überzeugt, dass der Herr Jesus innerhalb kürzester Zeit die Römer aus dem Land vertreiben und das Königreich Israel wieder aufrichten würde. Aber nichts dergleichen geschah. Johannes sass nun schon einige Zeit im Gefängnis und es machte nicht den Anschein, dass er bald befreit werden würde. Der Messias, den er angekündigt hatte, kämpfte nicht, eroberte nicht, machte keine Anstalten, irgendwas an der Lage des Volkes zu ändern. Johannes der Täufer wurde von Zweifeln heimgesucht, weil der HERR nicht das tat, was er erwartet hatte. So gesehen sind seine Zweifel einigermassen verständlich.
Wir stehen ständig in derselben Gefahr. Wenn wir eigene Vorstellungen davon entwickeln, wie Gott (unserer Meinung nach) handeln müsste, wenn wir eigene Erwartungen hegen, dann werden wir über kurz oder lang enttäuscht werden, weil der HERR nicht diesen, unseren Erwartungen, sondern Seinem Willen entsprechend handeln wird. Das kann uns vor den Kopf stossen – nicht, weil der HERR willkürlich handeln würde, sondern weil wir falsche Vorstellungen gepflegt haben. Solche Enttäuschungen können schmerzhaft und schwierig zu bewältigen sein, aber sie sind heilsam. Das Wort sagt es ja: Es sind Ent-Täuschungen, ein Wegfallen von Täuschungen. Sie führen uns in die volle Wahrheit.
Vers 4
Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und verkündet Johannes, was ihr hört und seht: Mt 11,4
Wie hätten wir Johannes dem Täufer geantwortet? Hätten wir Verständnis für seine unerwarteten Zweifel gehabt? Oder hätten wir seine Frage als einen unterschwelligen Vorwurf interpretiert, wir sollten nun gefälligst endlich mal für ihn einschreiten? Der Herr Jesus, unser grosser Hoherpriester, der Mitleid mit unseren Schwachheiten hat, weil Er in allem in gleicher Weise versucht worden ist wie wir, ausgenommen die Sünde (Hebr 4,15), antwortete mit aller nur erdenklichen Milde und Nachsicht. Er wies Johannes gewissermassen an, sich die Augen zu reiben und nochmals genau hinzusehen. Darin mag wohl ein feiner Tadel enthalten gewesen sein, aber in erster Linie bringt die Antwort ein tiefes Verständnis für diesen treuen Diener zum Ausdruck. Es ist, wie wenn der Herr Jesus hätte ausrichten lassen: Ich weiss, dass Du etwas anderes erwartet hast und mit Deiner Situation haderst; aber schau einmal weg von Dir und hin zu Mir, zu dem, was hier um Mich herum geschieht! Oft antwortet der Herr Jesus ähnlich auf unsere Zweifel und Unsicherheiten und in aller Regel ist dies eine Medizin, die bei vielen Nöten und Leiden hilft: Wegschauen von uns, hin auf Ihn! «Daher, heilige Brüder, Teilhaber der himmlischen Berufung, betrachtet den Apostel und Hohen Priester unseres Bekenntnisses, Jesus!» (Hebr 3,1).
Für uns heute ist dieser Blick ein Blick des Glaubens, denn wir können den Herrn Jesus nicht mehr physisch sehen, da Er in die Himmel aufgefahren ist und Sich zur Rechten der Majestät gesetzt hat. «Wenn wir Christus auch nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr so» (2.Kor 5,16). Johannes der Täufer und die Juden im Allgemeinen wandelten noch durch Schauen; und sie werden einst wieder durch Schauen wandeln. Der jüdische Gottesdienst ist geprägt von Dingen zum Anschauen und Anfassen: Tempel, Gewänder, Musikinstrumente, Opfertiere, Zeremonien, besondere Festtage, Weihrauch, Öl und Salben etc. sind alles Dinge, die unsere natürlichen Sinne ansprechen. Aber wir Christen «wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen» (2.Kor 5,7). Unser Gottesdienst kommt ohne Dinge aus, die unsere natürlichen Sinne ansprechen, ausgenommen den Tisch des Herrn und die Wassertaufe. Wer die neutestamentlichen Lehrbriefe aufmerksam studiert, wird feststellen, dass der christliche Gottesdienst keine besonderen Gebäude, keine Priesterklasse, keine Gewänder, keinen Altar, keine Opfertiere, keinen Weihrauch, kein Öl, keine Salben, ja nicht einmal Musikinstrumente kennt. Es gibt keine besonderen Zeremonien und keine Festtage. Alles, was man landläufig als typisch für einen christlichen Gottesdienst ansieht, ist eigentlich in seinem Kern jüdisch, nicht christlich. Der wahre christliche Gottesdienst zeichnet sich durch eine bis zum Äussersten gehende Schlichtheit aus, weil er gerade nicht die Seele des Menschen, sondern den Geist ansprechen soll.
Die Antwort des Herrn Jesus an Johannes den Täufer ist daher auch heilsgeschichtlich typisch: Dem Juden wurde gesagt, dass er seine Augen öffnen und sich umsehen soll. Dem Christen in einer ähnlichen Situation wurde nichts dergleichen gesagt, sondern vielmehr: «In der folgenden Nacht aber stand der Herr bei ihm und sprach: Sei guten Mutes! Denn wie du meine Sache in Jerusalem bezeugt hast, so musst du sie auch in Rom bezeugen» (Apg 23,11).
Vers 5
Blinde werden sehend, und Lahme gehen, Aussätzige werden gereinigt, und Taube hören, und Tote werden auferweckt, und Armen wird gute Botschaft verkündigt. Mt 11,5
Was gab es denn zu sehen und zu berichten? Wirklich Aussergewöhnliches! Blinde konnten wieder sehen und Lahme wieder gehen – Heilungen, die selbst heute noch, trotz allen technischen Fortschrittes, unsere kühnsten Vorstellungen übertreffen. Aber mehr noch! Aussätzige wurden gereinigt. In Israel hatte es davor nur einen einzigen biblisch bestätigten Fall einer Reinigung eines israelitischen Aussätzigen gegeben, nämlich jenen von Miriam, der Schwester Moses (4.Mose 12). Unter den Juden war deshalb anerkannt, dass nur der Messias selbst Aussätzige reinigen konnte. Taube konnten wieder hören. Wir werden noch einen ganz besonderen Fall betrachten, der ebenfalls ein deutlicher Hinweis darauf gewesen ist, dass der Herr Jesus wirklich der Messias war. Aber dann gab es noch mehr zu berichten, als wäre das noch nicht genug! Sogar Tote wurden wieder auferweckt. Von ähnlichen Fällen berichtet die Bibel nur im Zusammenhang mit den von den Juden als mit den grössten Propheten angesehenen Gottesmännern Elia und Elisa. Eine Fülle von Zeichen bestätigte also, wer der Herr Jesus war. Aber die Zeichen und Wunder waren nicht der Hauptteil Seines gesegneten Dienstes; hauptsächlich diente Er, indem Er predigte, Armen die gute Botschaft verkündigte. Dieser letzte Punkt war eine weitere Erfüllung von messianischen Prophezeiungen. So ruft der Knecht des HERRN etwa nach Jes 61,1 aus: «Der Geist des Herrn, HERRN, ist auf mir; denn der HERR hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Elenden frohe Botschaft zu bringen, zu verbinden, die gebrochenen Herzens sind, Freilassung auszurufen den Gefangenen und Öffnung des Kerkers den Gebundenen» (Jes 61,1). Der Herr Jesus bezog diese Stelle in einer Predigt in der Synagoge in Nazareth einmal direkt auf Sich (Lk 4,14ff.). Wir können auch an Ps 146 denken, wo es heisst: «Er schafft Recht den Bedrückten, er gibt den Hungrigen Brot. Der HERR macht die Gefangenen frei. Der HERR öffnet die Augen der Blinden. Der HERR richtet die Gebeugten auf» (Ps 146,7.8). Was für eine ermutigende Botschaft durften die Jünger also ihrem Meister Johannes überbringen!
Vers 6
Und glückselig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt! Mt 11,6
Die Person und das Wirken des Herrn Jesus mochte bei den Juden – gerade bei den wirklich gottesfürchtigen Juden! – einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen, denn einerseits war offenkundig, dass Er jene Werke vollbrachte, die nur der lang ersehnte Messias vollbringen konnte, aber andererseits war Er in Demut unterwegs, ohne Herrscherallüren, ohne Armee und ganz offensichtlich auch ohne das geringste Interesse, die Römer aus dem Land zu werfen. Wir müssen uns dabei in Erinnerung rufen, dass die Juden, die nur das Alte Testament hatten, nicht in der Lage gewesen waren zu erkennen, dass der Messias zweimal kommen sollte, einmal in Demut auf dem Fohlen eines Esels (Sach 9) und einmal in Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels (Dan 7). Sie konnten deshalb das, was sie erlebten, nicht richtig einordnen. Der Messias handelte nicht so, wie sie es erwartet hatten.
Darin bestand nun eine Glaubensprobe: Würden sie ihre Erwartungen über Bord werfen und Ihm bedingungslos vertrauen, obwohl Er Sich nicht so verhielt, wie sie es erwartet hatten, oder würden sie Ihn verwerfen und auf Einen warten, der ihren Erwartungen entsprechen würde? Das Wort, das hier mit «Anstoss nehmen» übersetzt wird, geht auf das Wort «skandalon» zurück, das ursprünglich eine Falle respektive einen Teil einer Falle bezeichnet, wobei wir in erster Linie an eine Stolperfalle denken können. Wir haben das Wort eingedeutscht und verwenden es im übertragenen Sinn noch immer gemäss der ursprünglichen Bedeutung. Wenn wir von einem Skandal sprechen, dann denken wir an etwas, worüber jemand gestolpert ist, respektive an etwas, was jemanden zu Fall gebracht hat. In späteren Reden des Herrn Jesus werden wir noch sehen, dass Er diesen Gedanken in anderer Form wieder aufnimmt, wenn Er von Sich als einem Felsen respektive Stein spricht: Einige stolpern über den Stein, weil er ihnen im – eigensinnigen – Weg liegt, auf andere wird er in der Zukunft einmal fallen, aber wieder andere klammern sich an den Stein und finden dabei einen Halt, den sie nirgendwo anders finden können. Glückselig ist, wer nicht über den Herrn Jesus stolpert, sondern sich an Ihn klammert!
Vers 7
Als die aber hingingen, fing Jesus an, zu den Volksmengen zu reden über Johannes: Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen anzuschauen? Ein Rohr, vom Wind hin und her bewegt? Mt 11,7
Die Antwort des Herrn Jesus an Johannes den Täufer war eine Antwort in Gnade, die aber doch einen gewissen Tadel enthielt und zudem als leicht abweisend hätte empfunden werden können. Allerdings war der Herr Jesus weit davon entfernt, Seinen ausgezeichneten Diener abweisend zu behandeln. Das sehen wir in diesem Abschnitt, der mit Vers 7 beginnt. Der HERR ist so gütig! Wenn Er mit uns rechten, uns zurechtweisen oder gar uns züchtigen muss, dann ist das immer eine Sache zwischen Ihm und uns, etwas Persönliches, etwas Intimes. Ein verständiger Vater züchtigt seine Kinder nicht in der Öffentlichkeit, um sie nicht blosszustellen. Er zieht sich mit dem Kind zurück und handelt dort mit ihm unter vier Augen. So geht auch der HERR vor. Wenn es um die Beziehung zu Dritten geht, dann stellt Er Sich – wie ein liebender Vater – nicht etwa auf die Seite der Dritten, um zusammen mit diesen gegen Sein Kind vorzugehen, sondern immer auf die Seite Seines Kindes. Der Herr Jesus mochte Johannes wohl unter vier Augen fein tadeln, aber wenn die Volksmengen Kritik an Johannes geübt hätten, wäre Er ihnen entschieden entgegen getreten! Ja, wir sehen hier, dass Er die Gelegenheit sogleich nutzte, bevor auch nur irgendjemand ein Wort sagen konnte, um Seinen Diener vor allen zu ehren. So gütig ist der HERR!
Da Johannes der Täufer zunächst mit aller Entschiedenheit Jesus als Messias verkündigt, später aber selbst Zweifel an dieser Tatsache geäussert hatte, hätte man ihm den Vorwurf machen können, er sei ein Wendehals, jemand, dessen Fähnchen gerade so weht, wie der Wind geht, ein Opportunist. Man hätte ihn ein Rohr nennen können, das vom Wind hin und her bewegt wird, mal links, mal rechts. War Johannes der Täufer ein solcher Mensch? Waren die Leute vergeblich in die Wüste zu ihm hinausgegangen? Diese Frage ist vom Herrn Jesus als erste geklärt worden.
Vers 8
Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Menschen, mit weichen Kleidern bekleidet? Siehe, die weiche Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. Mt 11,8
War Johannes der Täufer ein Rohr gewesen, das vom Wind hin und her bewegt wurde? Der Herr Jesus stellte diese Frage in den Raum, ohne sie direkt zu beantworten – und doch war da eine Antwort zu finden. Er stellte nämlich gleich eine zweite Frage: War Johannes ein vornehmer, privilegierter Mensch, der gut reden hatte, weil es ihm an nichts fehlte? Nein, das Gegenteil war der Fall! Die privilegierten Menschen waren am Königshof zu finden, nicht in der Wüste. Die Menschen wussten ja selbst, wie Johannes dort gelebt hatte. Er hatte nur die nötigste Kleidung getragen und nur das Nötigste gegessen. Er war das Gegenteil eines Höflings gewesen.
Und damit war auch die erste Frage beantwortet: So wenig, wie Johannes ein verwöhnter Jüngling war, so wenig war er ein Opportunist gewesen. Ja, er war das Gegenteil von beidem gewesen! Was er in der Wüste gepredigt hatte, war nicht das Motto der Stunde gewesen, sondern vielmehr eine Botschaft, die Anstoss erregt hatte. Selbst auf maximalen Druck hin war Johannes der Täufer nicht einen Millimeter von seinem Auftrag abgewichen. Er hatte nicht einmal zurückgezogen, als man ihm mit dem Tod und dem Gefängnis drohte, und er war schliesslich tatsächlich im Gefängnis gelandet.
Vers 9
Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, sage ich euch, und mehr als einen Propheten. Mt 11,9
Wenn wir alle drei Fragen des Herrn Jesus zusammen nehmen, stellen wir fest, dass es drei rhetorische Fragen gewesen sind (das sind Fragen, auf die keine Antwort erwartet wird) und dass die (nicht erwartete) Antwort auf alle drei Fragen «Nein» gelautet hätte. Johannes der Täufer war kein Wendehals, kein verwöhnter Jüngling und auch kein Prophet gewesen – kein Prophet nach der Erwartung der Menschen, die der Herr Jesus hier angesprochen hat. Wenn Johannes der Täufer ein Prophet gemäss ihren Erwartungen gewesen wäre, wäre er einfach eine Sensation gewesen, eine Sehenswürdigkeit, etwas, das man einmal gesehen haben musste. So war es einmal Hesekiel ergangen. Er war ein Prophet des HERRN gewesen, der eine ernste Botschaft an das Volk Israel in Babel richten musste, aber sie hatten ihm nicht richtig zugehört, sondern waren jeweils nur gekommen, um ihre Sensationslust zu befriedigen: «Und siehe, du bist ihnen wie einer, der ein Liebeslied singt, der eine schöne Stimme hat und gut zu spielen versteht; und sie hören deine Worte, doch sie tun sie nicht» (Hes 33,32). Johannes der Täufer war nicht nur ein Prophet in diesem Sinne gewesen, sondern weit mehr als das. Die folgenden Verse werden deutlich machen, wie wichtig er im Heilsplan Gottes gewesen ist.
Vers 10
Dieser ist es, von dem geschrieben steht: »Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg vor dir bereiten wird.« Mt 11,10
Der HERR hatte jahrhundertelang durch viele Propheten zu Seinem Volk Israel gesprochen. Aber das Volk wollte nicht hören. Selbst der kleine Überrest, der aus der Gefangenschaft in Babel zurückgekehrt war, war widerwillig. Kurz nach der Rückkehr sprach der HERR durch Haggai und Sacharja nochmals zum Volk, etwas später trat Maleachi auf, dessen Name übersetzt bedeutet: «Mein Bote». Er sprach vom Boten des HERRN, von einem anderen Maleachi, einem weiteren Propheten, aber nach ihm kam vorerst niemand mehr. Vierhundert Jahre schwieg der HERR! Ausserbiblische Berichte schildern, was das Volk in diesen vierhundert Jahren des Schweigens alles durchleben musste. Es war eine schreckliche Zeit!
Der Prophet, den Maleachi angekündigt hat, sollte nicht nur der nächste, sondern in einer gewissen Weise auch der letzte Prophet sein, denn er sollte die dann unmittelbar bevorstehende Ankunft des lange ersehnten Messias für Israel ankündigen. In Mal 3,1 heisst es: «Siehe, ich sende meinen Boten und er wird den Weg vor mir her bereiten. Und plötzlich kommt zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht, und der Engel des Bundes, den ihr herbeiwünscht, siehe, er kommt, spricht der HERR der Heerscharen». Das Zitat dieser Stelle in Mt 11,10 weicht in einem entscheidenden Punkt vom Original ab: Hatte Maleachi einen Boten angekündigt, der direkt vor dem HERRN selbst den Weg bereiten sollte, hat Matthäus von einem Boten gesprochen, der eine andere Person («vor deinem Angesicht … deinen Weg vor dir») ankündigen sollte. Das ist ein feiner, aber deutlicher Hinweis darauf, dass der Herr Jesus, auf den die Stelle in Mt 11,10 bezogen wird, Gott der HERR selbst ist, auf den sich das Original in Mal 3,1 bezieht.
Die Stelle in Mal 3 bezieht sich allerdings, wenn man etwas weiter liest, auf das zweite Kommen des HERRN in Macht und Herrlichkeit und damit auf den Tag des Zornes Gottes, auf den Tag des jüngsten Gerichtes. In einer gewissen Weise hat sich diese Prophetie mit dem ersten Kommen des Herrn Jesus also noch nicht erfüllt. Aber in Mk 1,1 finden wir diesbezüglich etwas Interessantes: Markus zitiert dieselbe Stelle (Mal 3,1), schreibt sie aber aber nicht Maleachi, sondern Jesaja zu, der mehr vom ersten Kommen des HERRN in Gnade gesprochen hat. Damit macht Mk 1,1 deutlich, dass Mal 3,1 eine Doppelbedeutung hat. Diese Prophetie hat sich beim ersten Kommen des HERRN erfüllt, aber noch nicht vollständig respektive nicht im Sinne des gesamten Kapitels 3 des Buches Maleachi, und sie wird sich noch einmal erfüllen, wenn der Herr Jesus zum zweiten Mal kommen wird.
Am Ende von Maleachi wird der kommende Prophet mit Elia verglichen. Elia gilt bis heute unter den Juden als einer der grössten Propheten überhaupt. Im Ansehen der Juden steht er praktisch auf einer Stufe mit Mose. Indem Maleachi den kommenden Propheten mit Elia vergleicht, zeigt er also die Wichtigkeit und die Bedeutung dieses Propheten auf. Die Jünger des Herrn Jesus haben diesen Bezug zwischen Elia und Johannes erkannt, aber die Aussagen des Herrn Jesus auf die entsprechende Frage, ob Johannes dieser Elia sei, scheinen etwas widersprüchlich zu sein. Wir werden uns damit noch näher beschäftigen, wenn wir zu den entsprechenden Stellen kommen. Hier nur so viel: Johannes der Täufer war selbstverständlich nicht Elia, der aus dem Himmel zurückgekehrt war, aber er war jener grosse Prophet, der «in dem Geist und der Kraft des Elia» aufgetreten ist (vgl. Lk 1,17).
Vers 11
Wahrlich, ich sage euch, unter den von Frauen Geborenen ist kein Grösserer aufgestanden als Johannes der Täufer; der Kleinste aber im Reich der Himmel ist grösser als er. Mt 11,11
Aber Johannes war noch mehr als der letzte Prophet, mehr als der Herold des Messias. Wie einst Simson war er schon von der Zeugung an – lange vor der Geburt! – zum Nasir (vgl. 4.Mose 6) berufen. Eine solche Berufung war höchst selten. Anders als Simson hat Johannes aber nie mit dieser – im Unterschied zum «echten», freiwilligen Gelübde des Nasirs gewissermassen aufgezwungenen – Berufung gehadert, sondern ihr in einer Konsequenz nachgelebt, die ihresgleichen sucht. Abgesehen von den leichten Zweifeln, die seine Frage an den Herrn Jesus durchscheinen lässt, berichtet uns die Bibel nichts Negatives von ihm, was als aussergewöhnlich bezeichnet werden muss. Selbst Mose und Elia hatten ihre Unzulänglichkeiten, von denen die Bibel offen berichtet. Gekrönt wird diese Aussergewöhnlichkeit durch die Worte des Sohnes Gottes selbst, dass unter den von Frauen Geborenen kein Grösserer aufgestanden sei als Johannes der Täufer. Was für eine Aussage! Von allen «normalen» Menschen war Johannes der Täufer der Grösste!
Aber der Kleinste im Königreich der Himmel wird grösser sein als Johannes der Täufer. Diese Aussage deckt gleich mehrere wichtige Wahrheiten auf: Erstens gibt es Abstufungen im Ansehen der Menschen bei Gott; es gibt – unter den natürlichen Menschen wie auch unter jenen im Königreich der Himmel – Kleinere und Grössere; zweitens haben die Menschen im Königreich der Himmel allesamt ein wesentlich höheres Ansehen bei Gott als die natürlichen Menschen; selbst der Kleinste im Königreich der Himmel ist noch grösser als der Grösste unter den von Frauen Geborenen. Das bedeutet, dass der Eintritt in das Königreich der Himmel ausnahmslos immer zu einem grossen Plus führt, weil er zumindest zur Folge hat, dass man selbst den Grössten von den unter Frauen Geborenen überflügelt. Drittens gehörte Johannes der Täufer ganz offensichtlich nicht zu jenen im Königreich der Himmel. Die allermeisten Christen sind nicht fähig, diese dritte Aussage biblisch einzuordnen und zu erklären.
Was ist denn das Königreich der Himmel? Wer schon länger hier mitliest, kennt die Antwort: Es ist das künftige Königreich Gottes, das Er auf dieser Erde unter der Herrschaft Seines Messias aufrichten wird, das lang ersehnte Friedensreich für Israel, das tausend Jahre andauern wird. «Die Himmel» ist einer der vielen Ersatznamen für den von den Juden nicht ausgesprochenen Gottesnamen JHVH. Der verlorene Sohn sagt sich beispielsweise, dass er gegen den Himmel gesündigt habe (Lk 15,18.21). In Dan 4,23 heisst es, dass die Himmel regieren, wobei der Zusammenhang deutlich macht, dass damit die Oberhoheit Gottes gemeint ist. Das Königreich der Himmel ist also ein Synonym für das Königreich Gottes, wie es in den anderen Evangelien genannt wird. Damit ist nicht die ewige Herrlichkeit in den Himmeln gemeint, sondern die Herrschaft Christi auf dieser Erde, die tausend Jahre andauern wird. Bedenken wir, dass sich insbesondere das Matthäus-Evangelium an Juden richtet und dass die Botschaft im ersten Teil immer lautete, dieses Königreich sei nahe gekommen. Es war das Königreich, das die Juden erwarteten; sie wussten allesamt, was das bedeutete. Wir dürfen das nicht uminterpretieren, weil wir sonst ein Chaos anrichten und die Erkenntnis der wahren Botschaft der Bibel verschleiern.
Die Herrschaft Christi war damals noch nicht in diesem Sinne angebrochen. Johannes der Täufer hat den Tag nicht mehr erlebt und selbst für uns heute liegt der Anfang dieses Königreiches noch in der Zukunft. Man könnte sagen, dass es dieses Königreich (zumindest in dieser Form) noch gar nicht gibt und dass es folglich auch noch keine Menschen gibt, die sich in diesem Königreich befinden, die zu diesem Königreich gehören. Alle Gläubigen werden aber einmal entweder durch die Auferstehung oder durch die Entrückung in dieses Königreich eingeführt werden, auch Johannes der Täufer. Weil das aber damals (und bis heute) noch nicht geschehen war, betrachtete der Herr Jesus Johannes als jemanden «draussen». So genau ist das Wort Gottes! Wir sollten es bei der Bibelauslegung ebenso genau nehmen und uns nicht von traditionellen Gedankenkonstrukten in die Irre führen lassen.
Vers 12
Aber von den Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt wird dem Reich der Himmel Gewalt angetan, und Gewalttuende reissen es an sich. Mt 11,12
Dieser Vers ist nicht ganz einfach zu verstehen, weil er wohl ein Wortspiel enthält. Wie immer bei der Bibelauslegung sollte man beim klar verständlichen Teil beginnen und diesen dann Licht auf den weniger leicht verständlichen Teil werfen lassen. Zunächst einmal ist eindeutig, worauf sich die Aussage des Herrn Jesus in zeitlicher Hinsicht bezogen hat, nämlich auf einen Zeitabschnitt, der (erst) mit Johannes dem Täufer begonnen hatte. Wir haben bereits wiederholt gesehen, dass das Reich der Himmel nicht etwa die himmlische Herrlichkeit im Sinne unserer typischen christlichen Hoffnung, sondern das lang ersehnte Königreich für Israel auf dieser Erde bezeichnet. Dieses Reich wird definitiv hier sein, wenn der Herr Jesus zum zweiten Mal kommt und Seine Herrschaft auf dieser Erde aufrichtet. Der Plan zur Aufrichtung dieses Reiches ist von Gott aber schon von Grundlegung der Welt an gefasst worden. In einer ersten Phase hat Er häufig und detailliert davon gesprochen; das Alte Testament ist voll von Hinweisen auf dieses Königreich. Natürlich erwarteten die Juden, dass sich an diese erste Phase gleich die Aufrichtung des Reiches als zweite und letzte Phase anschliessen würde. Aber diese Erwartung wurde enttäuscht.
Die zweite Phase begann mit dem Auftreten von Johannes dem Täufer. Was kennzeichnete diese Phase? Es waren zwei Dinge, mit denen wir uns im Zuge der Betrachtung des Matthäusevangeliums schon mehrfach beschäftigt haben, nämlich die Ankündigung, dass das Königreich nun nahe gekommen sei, und damit verbunden der Aufruf, Busse zu tun. Obwohl sich bei genauer Betrachtung bereits den alttestamentlichen Prophetien entnehmen lässt, dass nicht einfach alle Juden bloss durch ihre Abstammung an den Segnungen dieses Königreiches teilnehmen werden (schon im Alten Testament finden sich zahlreiche Hinweise auf die Notwendigkeit einer Busse und einer neuen Geburt), war in den Tagen von Johannes dem Täufer die Ansicht verbreitet, dass jeder Mensch, der seine Abstammung auf Abraham, Isaak und Jakob zurückführen könne, automatisch Anteil am Königreich Gottes hatte. Diese Auffassung hatte Johannes der Täufer bereits zu Beginn seines Dienstes entschieden als falsch verworfen, wie wir bei der Betrachtung von Mt 3 gesehen haben.
Die grosse Masse der Juden, allen voran die religiösen Führer, lehnten das von Johannes und dem Herrn Jesus gepredigte und angebotene Königreich entschieden ab. Sie wollten ein Königreich nach ihren eigenen Vorstellungen haben und sich nicht den Bedingungen unterwerfen, die Gott aufgestellt hatte. Das Königreich Gottes stand ab den Tagen von Johannes dem Täufer also im Begriff zu kommen, aber jene, für die es in erster Linie kommen sollten, wehrten sich entschieden dagegen. Sie taten dem Königreich der Himmel Gewalt an, wobei das griechische Wort vor allem die Kraft oder eben die Entschiedenheit bezeichnet, mit der man sich gegen das Königreich der Himmel wehrte. Physische Gewalt ging jedoch damit einher, was sich nur allzu deutlich in der Ermordung von Johannes dem Täufer, der Kreuzigung des Herrn Jesus und der Ermordung praktisch aller Apostel gezeigt hat. Der erste Versteil von Mt 11,12 bezieht sich also auf diese – gewissermassen «unerwartete» – Reaktion auf das Kommen des Königreiches Gottes, nämlich auf die entschiedene Ablehnung.
Wer hat denn aber das Reich Gottes mit Gewalt – oder eben: Entschiedenheit – an sich gerissen? Bezieht sich auch dieser Versteil auf die religiösen Führer der Juden oder auf die grosse Masse der Juden? Wohl kaum! Sie wollten das Königreich ja gerade nicht an sich reissen, sondern haben es von sich gestossen! Sie wollten nicht dieses Königreich, sondern ein anderes, nicht diesen Messias, sondern einen anderen! Es geht also gar nicht darum, dass Unbefugte, denen der HERR den Zutritt zum Königreich der Himmel verwehren müsste, versuchen, gewaltsam in dieses Reich hineinzudringen, denn das wäre ja ein direkter Widerspruch zum ersten Versteil und würde zudem auch den Tatsachenberichten in den Evangelien widersprechen. Natürlich hat es später und bis heute immer wieder Menschen gegeben, die sich gewaltsam Zutritt zu etwas haben verschaffen wollen, an dem sie kein Anrecht haben, aber das hat nicht in den Tagen von Johannes dem Täufer, sondern erst viel später begonnen. Die präzise Zeitangabe in Mt 11,12 weist uns also den Weg zur richtigen Auslegung.
Erleichtert wird das Verständnis, wenn wir «Gewalt» durch «Entschiedenheit» ersetzen: Das Königreich Gottes wurde von der Masse der Juden mit Entschiedenheit abgelehnt, aber Menschen mit Entschiedenheit rissen es an sich. Bedenken wir, dass die Juden fälschlicherweise annahmen, ihre Abstammung sei bereits das Ticket für den Zutritt; sie würden also gewissermassen einfach so in das Königreich Gottes hinein rutschen. Aber das war ja gerade nicht der Fall. Man musste Busse tun, seine Sünden bekennen und zu Gott umkehren, um Zutritt zum Königreich zu erlangen. Es benötigte also eine aktive Entscheidung des Glaubens, eine Entschiedenheit, das Königreich «an sich zu reissen», sich Zugang zu diesem Reich zu verschaffen. Gerade weil die religiösen Führer und die grosse Masse der Juden das aber ablehnten, benötigte es umso mehr Entschiedenheit. Es wäre einfacher gewesen, mit dem Strom zu schwimmen, als sich gegen die generelle Haltung aufzulehnen.
Die Aussage von Mt 11,12 lautet also: Das Königreich der Himmel, wie Johannes der Täufer und der Herr Jesus es gepredigt haben, wurde von den religiösen Führern und der grossen Masse des jüdischen Volkes mit Entschiedenheit abgelehnt, weshalb es von jenen, die in dieses Königreich hineingehen wollten, eine mindestens ebenso grosse Entschiedenheit benötigte, sich gegen die allgemeine Haltung zu stellen.
Vers 13
Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis auf Johannes. Mt 11,13
Die Botschaft der alttestamentlichen Propheten hat in erster Linie darauf abgezielt, das Volk Israel auf einen Missstand hinzuweisen und zur Umkehr zu Gott zu bewegen. Häufig haben die Propheten schlimme Dinge angekündigt, die dann auch tatsächlich eingetreten sind, wenn das Volk nicht auf ihre Warnungen gehört hat. Das Gesetz hat das Leben in Israel geordnet. Andererseits bilden «das Gesetz und die Propheten» aber auch den Hauptteil des Alten Testamentes; manchmal bezeichnet dieser Ausdruck auch einfach das gesamte Alte Testament (das sich eigentlich aus dem Gesetz, den Propheten und den Schriften zusammensetzt). Beide Dinge gehören also zu dem einen grossen Wort Gottes, zu der einen grossen Botschaft, die Gott an die Menschen gerichtet hat.
Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Bibel als eine zusammenhangslose Sammlung von verschiedenen Schriften zu sehen. Alle Schriften zusammen bilden die eine, grosse Schrift. Wer die Bibel einmal komplett – wie jedes andere Buch auch – von vorne bis hinten durchliest, stellt fest, dass darin eine grosse Geschichte erzählt wird, die sich von den Anfängen der Erde und der Menschheit bis zum Ende dieser Erde erstreckt. Wir werden darin viele Geschichten finden, aber feststellen, dass sie alle zusammen eine einzige grosse Geschichte bilden.
Beim aufmerksamen Lesen der Bibel werden wir auch feststellen, dass sich alles um einen bestimmten Mittelpunkt dreht, dass alles auf ein grosses Thema ausgerichtet ist, nämlich um den Sohn des lebendigen Gottes, den Herrn Jesus Christus. Er selbst ist das wichtigste Thema der Bibel! Das Gesetz ist ein Erzieher auf Ihn hin (Gal 3,24), die Propheten haben über Ihn und über die Zeit, die mit Seinem Kommen beginnen soll, geweissagt (1.Petr 1,10–13; Hebr 1,1.2).
Der letzte Prophet, der das Kommen des Herrn Jesus angekündigt hat, ist zugleich sein Herold gewesen: Johannes der Täufer. Er hat nicht – wie das Gesetz und die Propheten vor ihm – über eine künftige Zeit gesprochen, sondern die Erfüllung der Weissagungen aller Propheten und des Gesetzes angekündigt. Beispielsweise hat er ausrufen können: «Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!» (Joh 1,29). Er hat also gewissermassen den Abschluss sowohl der Zeit der alttestamentlichen Propheten als auch des Gesetzes gebildet. Dann ist das Königreich Gottes da gewesen und dann hat man begonnen, ihm Gewalt anzutun.
Vers 14
Und wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elia, der kommen soll. Mt 11,14
Lange nach dem Ende des Dienstes von Elia hat der HERR den Juden einen weiteren Propheten in der Weise Elias angekündigt: «Siehe, ich sende euch den Propheten Elia, bevor der Tag des HERRN kommt, der grosse und furchtbare. Und er wird das Herz der Väter zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern umkehren lassen, damit ich nicht komme und das Land mit dem Bann schlage» (Mal 3,23.24). Da Elia nicht gestorben, sondern entrückt worden war, waren einige Juden der Ansicht, Elia selbst würde aus dem Himmel zurückkehren. Aber das ist nicht die Aussage der Bibel. Johannes selbst hat entschieden verneint, Elia zu sein (Joh 1,21). Vielmehr hat Gott einen weiteren Propheten wie Elia angekündigt, was sich dann in der Person von Johannes dem Täufer erfüllt hat: «Du sollst seinen Namen Johannes nennen … Und er wird vor ihm hergehen in dem Geist und der Kraft des Elia, um der Väter Herzen zu bekehren zu den Kindern und Ungehorsame zur Gesinnung von Gerechten, um dem Herrn ein zugerüstetes Volk zu bereiten» (Lk 1,13.17).
Der Herr Jesus hat das alles bestätigt und mit aller Deutlichkeit festgehalten, dass Johannes der Täufer «Elia, der kommen soll» gewesen ist. Aber Er sagte: «Wenn ihr es annehmen wollt». Diese Tatsache (im Glauben) anzunehmen, bedeutete unweigerlich auch, zu glauben, dass Jesus der Christus (Messias) gewesen ist. Wir wissen aus den biblischen Berichten, dass viele Juden nicht bereit gewesen sind, das als Tatsache anzunehmen. Das änderte natürlich nichts daran, dass dies die Wahrheit war. Nur wurde sie von den meisten nicht als solche erkannt. Beachten wir, dass der Herr Jesus nicht sagte: «Wenn ihr es annehmen könnt», sondern: «Wenn ihr es annehmen wollt». Es brauchte keine besonderen intellektuellen Fähigkeiten, um die Wahrheit zu erkennen, sondern eine bestimmte Herzenshaltung, nämlich den Willen, Gottes Offenbarung als solche anzunehmen und Ihm zu vertrauen. Daran fehlt es leider den meisten Menschen bis heute. Manche Leute behaupten beispielsweise, sie könnten einfach nicht an eine göttliche Schöpfung glauben, aber die Wahrheit ist: Sie wollen nicht daran glauben. Andere sagen, sie würden nach Gott suchen, Ihn aber nicht finden. In Wahrheit wollen sie aber nicht den allein wahren Gott, sondern einen Gott nach ihren eigenen Vorstellungen finden. So könnte man noch hunderte von Beispielen anführen. Am Ende ist es immer eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.
Vers 15
Wer Ohren hat, der höre! Mt 11,15
Gott der HERR hat uns Ohren gegeben, damit wir hören – ist doch logisch! Nun ja, vielen Menschen ist allerdings nicht wirklich bewusst, dass alles, alle Dinge, alle Einzelheiten, einfach alles, von einem weisen Schöpfer zu einem bestimmten Zweck geschaffen worden ist. Die meisten Menschen vergeuden nämlich das, was sie erhalten haben, nach ihrem eigenen Gutdünken für sich selbst. Wer intelligent ist, nutzt seine Intelligenz, um Karriere zu machen, wer gut aussieht, nutzt sein Aussehen zu seinem eigenen Vorteil etc. Mit unseren Füssen gehen wir dahin, wohin wir wollen. Mit unseren Händen tun wir, was wir wollen. Mit unseren Augen sehen wir uns an, was wir wollen. Wir behaupten, der Sinn des Lebens bestehe darin, das Leben zu geniessen. Wir haben Augen, aber wollen nicht sehen, was Gott uns zeigt. Wir haben Ohren, aber wollen nicht hören, was Er uns sagt. Wir haben einen Mund, aber wollen Ihn nicht loben.
Wenn wir einmal einen Suchlauf durch die Bibel machen, was mit den technischen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, sehr einfach möglich ist (auch diese Dinge wurden uns zur weisen und gottgemässen Nutzung gegeben), werden wir feststellen, dass Ohren, die nicht hören wollen, ein immer wieder auftauchendes Thema sind. Zahlreiche Stellen in den alttestamentlichen Prophetenbüchern sprechen davon, dass Israel nicht auf das Wort Gottes hören wollte. Der Suchlauf liefert aber noch andere Ergebnisse: In Ps 115,6 und Ps 135,17 wird beispielsweise von den Götzen gesagt, dass sie zwar Ohren hätten, aber nicht hören würden. Da besteht ein nicht offensichtlicher, aber interessanter Zusammenhang zu den Leuten, die nicht hören wollen. Andere Stellen in der Bibel zeigen nämlich, dass Menschen mit der Zeit dem ähnlich werden, was sie verehren. So heisst es bspw. in Hos 13,3, dass die Menschen, die den nichtigen Götzen opfern, also Götzen, die in sich nichts sind, selbst wie nichts sein werden: «Darum werden sie sein wie die Morgenwolke und wie Tau, der früh verschwindet, wie Spreu, die von der Tenne weht, und wie Rauch aus der Luke». Auch in Hos 12,12 heisst es, dass die Götzendiener Nichtiges geworden seien.
Die Götzenbilder können zwar nicht hören, weil sie ja nur aus toter Materie bestehen. Aber selbstverständlich haben die Götzendiener nie einfach nur die Götzenbilder angebetet, als könnten diese Kunstwerke aus Holz oder Metall irgendwas bewirken. Der Götzendienst richtete sich schon immer an die Mächte, für die diese Götzenbilder symbolisch standen. In der Bibel wird uns ganz klar mitgeteilt, dass hinter diesen Götzenbildern Dämonen stehen: «Was sage ich nun? Dass das einem Götzen Geopferte etwas sei? Oder dass ein Götzenbild etwas sei? Nein, sondern dass das, was sie opfern, sie den Dämonen opfern und nicht Gott» (1.Kor 10,19.20). Das wussten schon die Götzendiener. Die Dämonen könnten zwar hören, denn sie haben auch Ohren, und sie glauben sogar, dass Gott Einer ist – und zittern (Jak 2,19), aber sie wollen nicht auf Gott hören. Menschen, die diese Dämonen verehren, werden ihnen gleich werden; sie werden auch nicht mehr auf Gott hören wollen. Sie werden Ohren haben, aber nicht hören. Stellen wir das nicht immer wieder in Gesprächen fest? Wir sprechen über an sich einfache Dinge, die offensichtlich sind, aber die Menschen hören nicht. Wieso? Weil sie nicht hören wollen! Je weniger sie hören wollen, umso mehr werden sie sich anderen Einflüssen öffnen, und je mehr sie sich anderen Einflüssen öffnen, umso weniger werden sie hören. Da besteht ein Zusammenhang, den man fast ein Naturgesetz nennen könnte.
Vers 16
Mit wem aber soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es ist Kindern gleich, die auf den Märkten sitzen und den anderen zurufen Mt 11,16
Der Herr Jesus hat nie «abstrakt» oder «theoretisch» gepredigt. Wer sich einmal die Mühe macht und die Evangelien danach durchforscht, wie Er Fragen beantwortet hat, wird auch feststellen, dass Er selten nur die gestellte Frage beantwortet, sondern oft Ausführungen gemacht hat, die die Zuhörer auf einer tieferen, grundlegenderen Ebene direkt angesprochen haben. So hat der Herr Jesus auch hier nicht einfach in einer allgemeinen Weise über Johannes den Täufer gesprochen, sondern anschliessend einen direkten Bezug zwischen der Botschaft und den Zuhörern hergestellt, indem Er die Frage aufgeworfen hat, wie sie, die Dastehenden, auf Johannes reagiert hatten. Wir sollten uns diesen Punkt merken, wenn wir selbst das Evangelium weitergeben. Es ist nicht gut, die Botschaft in einer «theoretischen» oder «abstrakten» Weise weiterzugeben, sondern wir sollten danach trachten, den Leuten klarzumachen, was das jetzt mit ihnen persönlich zu tun hat.
Wie hatten die Menschen also auf Johannes den Täufer reagiert? Mit wem sollte der Herr Jesus sie vergleichen? Bedenken wir, dass hier Juden angesprochen werden, also Angehörige des von Gott auserwählten Volkes, Kenner des Wortes Gottes, solche, die sich viel darauf einbildeten, ein Leben nach den göttlichen Regeln zu führen! Der Herr Jesus hat sie mit kleinen Kindern verglichen, die auf den Märkten sitzen, also mit Unmündigen, die Spiele spielen (wie wir in den folgenden Versen sehen werden). Sie hatten rein gar nichts verstanden; sie hatten sich nicht wie Erwachsene benommen, sondern wie kleine Kinder. Ein hartes Wort! Aber wir werden gleich noch sehen, dass es durchaus angemessen und berechtigt war.
Vers 17
und sagen: Wir haben euch gepfiffen, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht gewehklagt. Mt 11,17
Wer schon einmal Kinder genauer beobachtet hat, kann bestätigen, wie treffend die Beschreibung ist, die der Herr Jesus hier von Kindern auf den Märkten gegeben hat: In einem Moment sind sie fröhlich, im nächsten Moment weinen sie; ihre Laune wechselt ständig und abrupt. Zugleich erwarten sie, dass die Menschen um sie herum ihre Launen und ihre Ideen teilen. Wenn sie spielen wollen, haben sie kein Verständnis für Erwachsene, die gerade was anderes zu tun haben; wenn sie traurig sind, wollen sie, dass man alles stehen und liegen lässt, um sie zu trösten. Das Leben mit Kindern ist daher sehr intensiv, aber manchmal auch sehr anstrengend.
Der Herr Jesus beschreibt hier zunächst die Wechselhaftigkeit der Israeliten Seiner Zeit: Einmal waren sie fröhlich, haben (fröhliche Lieder) gepfiffen und erwartet, dass alle anderen zu ihrer Melodie tanzen würden; ein anderes Mal waren sie traurig, haben Klagelieder gesungen und erwartet, dass alle anderen mit ihnen wehklagen würden. Der HERR beschreibt aber auch diese Erwartungshaltung, also dass die Israeliten von den andern erwartet haben, dass diese nach ihrer Pfeife tanzen würden. Wenn die Juden gerade fröhlich waren, hatten sie kein Verständnis für ernste Botschaften; wenn sie gerade traurig waren, hatten sie kein Verständnis für Menschen, die ihre Trauer nicht teilten. Kurz gesagt hatten die Israeliten nur Verständnis für solche, die die Wellenbewegungen ihrer momentanen Gefühle mitgemacht haben.
Diese Tendenz kann man bei Kindern ungefiltert und mit voller Wucht beobachten, aber sie ist – mehr oder weniger gefiltert – ein Teil von uns allen. Sie ist an sich nichts Schlechtes; Menschen, die auf diese Weise mit anderen mitfühlen können, werden anerkennend als empathisch bezeichnet. Aber doch gibt es Situationen, in denen wir über unseren Schatten springen können müssen. Nur weil ich gerade fröhlich und glücklich bin, sollte ich mich nicht vor jeder Form von Ermahnung verschliessen. Und auch wenn ich gerade trauere, sollte ich doch ein Wort des Trostes zulassen oder die Freude meines Nächsten teilen können. Unsere Gefühlslage darf uns nie daran hindern, offen für das Sprechen des HERRN zu sein – auch wenn Er gerade auf eine andere Weise zu uns spricht, als wir es erwarten würden.
Vers 18
Denn Johannes ist gekommen, der weder ass noch trank, und sie sagen: Er hat einen Dämon. Mt 11,18
Johannes der Täufer ist eine beeindruckende Person gewesen. Er hat allein in der Wüste gelebt, sich von Heuschrecken und wildem Honig ernährt, nichts besessen, keine einflussreichen Freunde gehabt, aber doch ganz Judäa in Bewegung gebracht. Auch ausserbiblische Berichte bestätigen den Einfluss seines Dienstes sowie die moralische Vortrefflichkeit seiner Person. Viele Juden haben sich von ihm im Jordan taufen lassen und auf seine Predigt hin Busse getan.
Aber noch mehr Juden wollten seine Botschaft nicht annehmen. Sie haben nicht nur seine Predigt, sondern auch ihn selbst abgelehnt. Weil er nicht nach ihrer Pfeife tanzte, wollten sie ihn aus dem Weg schaffen. Also begannen sie, ihn zu verleumden und das, was ihn persönlich auszeichnete, einem dämonischen Wirken zuzuschreiben. Kann man diese Bosheit fassen?
Oh, wie wenig hat sich die Gesellschaft seither verändert! Willst Du hier in Europa als Christ leben? Kein Problem! Solange Du es nur nicht übertreibst! Kaum jemand hat etwas gegen ein wenig Religion einzuwenden. Solange Du auch ein wenig an den weltlichen Vergnügungen («Essen und Trinken») teilnimmst und mit Deiner Teilnahme Deine Zustimmung zum Treiben der Leute um Dich herum gibst, ist alles in bester Ordnung. Aber wehe, Du übertreibst es! Wehe, Du isst nicht und trinkst nicht! Dann wird Dir rasch ein rauer Wind ins Gesicht schlagen. Du kannst in dieser Gesellschaft gut als Sadduzäer leben (ein wenig Religion und viel Luxus) und es ist auch in Ordnung, wenn Du ein Pharisäer sein willst (mehr Religion und viel Disziplin), aber komm ja nicht auf die Idee, wie ein Johannes aus der Wüste heraus zu kommen und die Menschen zur Umkehr aufzurufen! Wir sind wohl ein christlicher Kontinent, aber vom Kern des christlichen Glaubens, von der wunderbaren Person unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus, des Sohnes des lebendigen Gottes, wollen wir nichts wissen. Das ist die grosse europäische Tragödie!
Vers 19
Der Sohn des Menschen ist gekommen, der isst und trinkt, und sie sagen: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder – und die Weisheit ist gerechtfertigt worden aus ihren Werken. Mt 11,19
Die Menschen störten sich daran, dass Johannes der Täufer kaum etwas ass und nichts zu sich nahm, das vom Weinstock kam, aber sie störten sich in genau derselben Weise daran, dass der Herr Jesus (natürlich innerhalb der Schranken des Gesetzes, denn Er wurde geboren unter Gesetz; Gal 4,4) mit Freude und Dankbarkeit alles ass und trank, was Ihm aus der Hand des himmlischen Vaters dargereicht wurde. Von Johannes behaupteten die Menschen, er habe einen Dämon, vom Herrn Jesus sagten sie, Er sei ein Fresser und Weinsäufer! Man konnte es ihnen wirklich nie recht machen; sie waren tatsächlich wie die kleinen, launischen Kindern auf den Märkten. Was nicht genau ihren Vorstellungen und Ansichten entsprach, war in ihren Augen verkehrt. Sie waren im höchsten Grade engstirnig und verbohrt.
Aber da gab es noch etwas, das sie am Herrn Jesus störte, nämlich Sein grosses Herz für Zöllner und Sünder. Sie, die so viel Wert auf ihren äusserlichen religiösen Schein legten, mieden die Zöllner und Sünder, so gut sie nur irgend konnten, aber Er wies offenbar keinerlei Berührungsängste auf. Abschätzig nannten sie Ihn einen Freund der Zöllner und Sünder. Aber wie treffend war und ist dieser Übername! Der Herr Jesus ist tatsächlich ein Freund der Sünder, ein Freund der Menschen! Und Gott sei Dank verhält es sich so, denn sonst wären wir alle verloren! Wäre Er kein Freund der Sünder, wäre Er nicht in diese Welt gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist (Lk 19,10). Wäre Er kein Freund der Sünder, hätte Er nicht Sein Leben gegeben, auf dass wir errettet werden können (vgl. Joh 15,13). Wie oft hat Er Menschen mit «Freund» angesprochen! Ganz besonders auffällig ist, wie Er Seinen Verräter Judas Iskariot immer wieder Seinen Freund genannt hat. Das ist nicht ironisch gemeint gewesen, sondern hätte das Herz dieses verhärteten Mannes erweichen und ihn von seinem falschen Weg abbringen sollen. Bis im letzten Moment hat der Herr Jesus gewissermassen um die Seele, um das Herz dieses Mannes gerungen!
Die Menschen lagen mit ihrer Ansicht über Johannes den Täufer ebenso falsch wie mit ihrer Ansicht über den Herrn Jesus. Sie hielten sich für weise, waren aber töricht, weil sie das Offensichtliche weder erkennen noch verstehen wollten. Doch die wahre Weisheit, die göttliche Weisheit von oben zeigte sich in dem, was Gott tat – ob es die Menschen nun annehmen wollten oder nicht. Die Weisheit rechtfertigte sich gewissermassen selbst. Viele haben in den letzten 2.000 Jahren die Werke der Weisheit als das erkannt, was sie sind. Bald werden alle Menschen die göttliche Weisheit anerkennen müssen. Niemand wird mehr leugnen können, was Gott alles getan hat.
Vers 20
Dann fing er an, die Städte zu schelten, in denen seine meisten Wunderwerke geschehen waren, weil sie nicht Busse getan hatten: Mt 11,20
Der gerechte Richter sieht alles, sowohl das Gute als auch das Schlechte, und Er beurteilt alles in einer vollkommenen Weise. Konnte der Herr Jesus Johannes den Täufer hoch loben, musste Er jene drei Städte, in denen Er die meisten Wunderwerke (griechisch: dynamis) getan hatte, scharf tadeln. Diese Städte hatten mehr von Seiner Macht (dynamis) gesehen als alle anderen Orte auf der Erde, aber die Menschen hatten sich dadurch nicht zur Busse leiten lassen. Das ist ein gutes Anschauungsbeispiel dafür, dass die Verantwortung umso höher ist, je mehr Vorrechte man geniesst.
Gott urteilt gerecht. Sein Urteil berücksichtigt alle Umstände des konkreten Falles. Ein Mensch, der wenig weiss, sich aber falsch verhält (und beispielsweise gegen sein Gewissen handelt), wird milder bestraft als ein Mensch, der genau weiss, was Sache ist, und ganz bewusst die Gebote Gottes übertritt. Wir wissen, dass von Natur aus kein Mensch Gott sucht (Ps 14; Ps 53; Röm 3). Gott muss die Menschen zu Sich ziehen, was Er auch effektiv tut. Je mehr Er Sich (menschlich ausgedrückt) um einen Menschen bemüht hat, umso leichter ist es für diesen Menschen, den entscheidenden Schritt zu tun. Niemand kann beispielsweise einem kleinen Kind einen Vorwurf machen, wenn es nicht fähig ist, eine Türe zu öffnen, weil es noch zu klein oder zu schwach ist. Wird das Kind aber von einem Erwachsenen hochgehoben, legt der Erwachsene die Hand des Kindes auf die Türfalle und drückt er zusammen mit dem Kind die Falle nach unten, sieht die Situation ganz anders aus. Wenn das Kind mit dieser Unterstützung die Türe nicht öffnet, gibt es nur eine Erklärung: Es will nicht! So mag es für den Angehörigen eines noch unentdeckten Naturvolkes im Dschungel, der sein ganzes Leben nie etwas von Gott, vom Herrn Jesus oder vom Kreuz gehört hat, ausreichen, wenn er auf sein Gewissen hört (vgl. Röm 2), obwohl das Gewissen niemals ein objektiver Massstab für Recht und Unrecht sein kann, sondern bestenfalls einem Kompass gleicht, der ungefähr nach Norden zeigt. Von einem Juden verlangt der HERR dagegen weitaus mehr, denn den Juden sind die Aussprüche Gottes anvertraut worden. Dieses grosse Vorrecht verpflichtet die Juden, dem Wort Gottes Gehorsam zu leisten. Sie werden nicht nach ihrem Gewissen, sondern nach dem offenbarten Wort Gottes beurteilt. Von einem Priester wird nochmals mehr als von einem gewöhnlichen Angehörigen des Volkes verlangt. Der Hohepriester muss schliesslich höchsten Ansprüchen genügen, weil er die grössten Vorrechte geniesst. Für die Christenheit gilt sinngemäss dasselbe: Wer mit dem Evangelium konfrontiert worden ist, dem Ruf zur Umkehr aber nicht gehorcht hat, ist schlimmer dran als der erwähnte Wilde im Dschungel. Für diesen Menschen wäre es einfacher gewesen, die zur Errettung ausgestreckte Hand Gottes zu ergreifen, weshalb es schwerer wiegt, wenn er es nicht tut. In der schlimmsten Situation befinden sich folglich nicht die unerreichten Wilden im Dschungel, sondern jene Menschen, die christlich-religiös sind, viel über Gott wissen, aber nie ihr Vertrauen allein auf Ihn gesetzt haben. Diese Menschen geniessen die höchsten Vorrechte, bekennen sich zum höchsten Namen im Universum und sind in ihren Herzen doch weit von Gott entfernt. Weil sie zudem oft meinen, sie seien ja so gut und fromm, dass ihr Eintritt in den Himmel nur noch eine Frage der Zeit sei, verstopfen sie unweigerlich ihre Ohren gegenüber jedem Aufruf zur Umkehr. Solche Menschen sind deshalb oft am schwierigsten mit dem Evangelium zu erreichen.
Vers 21
Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Wunderwerke geschehen wären, die unter euch geschehen sind, längst hätten sie in Sack und Asche Busse getan. Mt 11,21
Am See von Galiläa gab es drei Städte, die sehr nahe beieinander lagen: Bethsaida, Chorazin und Kapernaum (eigentlich: Kafr Nahum = Dorf des Trostes). Wir haben bereits in Mt 9,1 gelesen, dass Kapernaum «Seine eigene Stadt» genannt wurde, also jene Stadt, die man mehr als jede andere Stadt auf der Erde mit Ihm, dem Herrn der Herrlichkeit, in Verbindung bringen konnte, weil Er als Erwachsener die meiste Zeit dort gelebt hat. In jenem Gebiet geschahen folglich auch die meisten Wunderwerke. Diese drei Städte bekamen gewissermassen am meisten vom Herrn Jesus; sie waren ganz besonders bevorzugt.
Allerdings wissen wir, dass besondere Vorrechte immer mit einer besonderen Verantwortung einhergehen. In Chorazin und Bethsaida waren so gewaltige Wunderwerke geschehen, dass sogar gottlose Städte wie Tyrus und Sidon in Sack und Asche Busse getan hätten, wenn solches dort geschehen wäre! Die Einwohner von Bethsaida und Chorazin hatten es viel leichter, Gott zu finden, als jene von Tyrus und Sidon, denn Bethsaida und Chorazin gehörten noch zum Land Israel, waren von Israeliten bewohnt und waren deshalb seit Jahrhunderten vom Wort Gottes geprägt gewesen, während Tyrus und Sidon phönizische, kanaanitische Städte waren, in denen der Name des allein wahren Gottes kaum bekannt war. Die Schwelle zur Umkehr war in Bethsaida und Chorazin also schon von Beginn weg niedrig. Bei all den Wunderwerken, die in jenen Städten geschahen, hätte eigentlich nichts anderes als eine kollektive Umkehr zu Gott erwartet werden können. Aber nichts geschah! Die Schwelle zur Umkehr war in den Boden eingelassen worden, die Menschen wurden gezogen und geschoben, aber sie haben sich geweigert, umzukehren! Kann man das fassen? Was bleibt da anderes übrig, als ein «Wehe Dir!» auszurufen?
Am See von Galiläa gibt es heute Ruinen, die Kerazeh genannt werden. Man geht davon aus, dass es sich um die Überreste von Chorazin handelt. Wo genau Bethsaida gelegen hat, kann heute nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden, so komplett ist die Stadt von der Landkarte verschwunden. Wie ernst sind diese Tatsachen, wenn wir sie mit dem Wehe-Ruf des Herrn Jesus in Verbindung bringen!
Vers 22
Doch ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als euch. Mt 11,22
Dieser Vers belegt mit aller nur erdenklichen Klarheit, dass Gott gerecht richtet. Die Vorrechte von Tyrus und Sidon waren geringer als jene von Bethsaida und Chorazin. Folglich war auch der Grad der Verantwortlichkeit von Tyrus und Sidon geringer als jener von Bethsaida und Chorazin. Diesem Umstand wird der HERR im Gericht Rechnung tragen. Auch Tyrus und Sidon werden ihre gerechte Strafe empfangen, aber diese wird weniger schwer ausfallen als die Strafe von Bethsaida und Chorazin. Diesen Grundsatz finden wir ebenso deutlich in Lk 12,47.48 vorgestellt: «Jener Knecht aber, der den Willen seines Herrn wusste und sich nicht bereitet noch nach seinem Willen getan hat, wird mit vielen Schlägen geschlagen werden; wer ihn aber nicht wusste, aber getan hat, was der Schläge wert ist, wird mit wenigen geschlagen werden».
Sogar im weltlichen Recht ist dieses Prinzip fest verankert: Wer sich ein Fahrrad «borgt», um damit zum Bahnhof zu fahren (sog. Strolchenfahrt; kein Diebstahl, weil der Wille zur Aneignung fehlt), ist ebenso ein Straftäter wie jener, der seinen Nachbarn im Zorn ermordet. Beide Straftäter müssen verurteilt und bestraft werden. Aber die Strafe des Strolchen wird niedriger als jene des Mörders ausfallen.
Im Urteil und Gericht Gottes gibt es Abstufungen des Zorns, wie es auch Abstufungen der Liebe gibt. Wer behauptet, die meisten Menschen erwarte ein und dasselbe Schicksal, nämlich die Hölle, wo sie alle genau dieselben Qualen leiden werden, und es gebe nur eine Alternative dazu, nämlich den Himmel, wo alle genau dieselben Segnungen geniessen werden, tritt Gottes Gerechtigkeitssinn mit Füssen. Einen Richter, der nur den Freispruch oder die Todesstrafe kennen würde, müsste man als einen unfähigen Stümper bezeichnen. Aber Gott sollte so richten? Das sei ferne!
Weil die Bibel nur sehr wenige und auch nur vage Aussagen zu den Zeiten nach dem endgültigen Gericht über die Menschheit enthält und weil es uns schwer fällt, uns eine Vorstellung von jenen Dingen zu machen, wissen wir nicht genau, wie sich die Abstufungen im Gericht genau auswirken werden. Aber das bedeutet nicht, dass wir diese Abstufungen leugnen könnten. Verse wie Mt 11,22 zeigen ganz deutlich auf, dass es solche Abstufungen gibt.
Vers 23
Und du, Kapernaum, meinst du, du werdest etwa bis zum Himmel erhöht werden? Bis zum Hades wirst du hinabgestossen werden; denn wenn in Sodom die Wunderwerke geschehen wären, die in dir geschehen sind, es wäre geblieben bis auf den heutigen Tag. Mt 11,23
Die Einwohner von Kapernaum konnten – im Gegensatz zu allen anderen Menschen auf der ganzen Erde! – sagen, ihre Stadt sei des HERRN eigene Stadt. Die Menschen bilden sich immer etwas auf sich selber ein, wenn sie jemanden, der viel erreicht hat, als «einen von uns» bezeichnen können. Schafft es jemand, der in einem kleinen Kaff aufgewachsen ist, an die Spitze eines Leistungssports, werden im ganzen Dorf grosse Plakate, wenn nicht sogar Statuen aufgestellt, um der ganzen Welt zu zeigen: Schaut her, diese Berühmtheit ist einer von uns! Zu Seinen Lebzeiten war der Herr Jesus zwar bereits sehr bekannt, aber auch verachtet. Wenige Jahrhunderte später sollte Er von solchen, die Ihn nicht wirklich kannten, als ein bedeutender Religionsstifter bezeichnet werden. Dann hätten die Einwohner von Kapernaum auf den Plan treten und laut rufen können: Er war einer von uns! Hier hat Er gelebt! Hier hat Er drei Jahre lang viele Wunder getan! Statuen, Denkmäler und Museen wären eingerichtet worden und Kapernaum hätte sich gefühlt, als wäre sie bis zum Himmel erhoben worden.
Aber Gott urteilt anders. Wenn Er Sich mit einem Ort besonders verbindet, dann ist das eine ausserordentliche Gnade, die aber nach einer Reaktion verlangt. Wenn sich die Leute nur ein wenig in Seinem Licht sonnen, aber von Ihm selbst nichts wissen wollen, ist das eine schwere Beleidigung. Aber nicht nur das: Es zeigt auch mit aller Deutlichkeit, wie verhärtet die Herzen der Menschen sind. Sogar die ultrabösen Einwohner von Sodom, die es geschafft haben, den Namen ihrer Stadt für alle Zeiten zu einem Sprichwort des Schreckens werden zu lassen, hätten nicht eine solche Herzenshärte an den Tag gelegt wie die Einwohner von Kapernaum. Hätte der Herr Jesus dort so gelebt und gewirkt, wie Er es in Kapernaum getan hat, hätten die Sodomiter Busse getan und damit ihre Stadt vor dem Untergang gerettet. Wie reagieren wir auf Gottes Gnade? Nehmen wir, was wir kriegen können, um es für uns selbst zu vergeuden, oder lassen wir uns durch Seine Gnade näher zu Ihm hin ziehen, mit dem echten Verlangen, Ihm näher zu kommen?
Vers 24
Doch ich sage euch: Dem Sodomer Land wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als dir. Mt 11,24
Sodom und die umliegenden Städte gingen bekanntlich vor Jahrtausenden in einem Regen aus Feuer und Schwefel unter. Erst vor wenigen Jahrzehnten hat man im Ödland Ruinen gefunden, die die Überreste dieser Städte zu sein scheinen. Wie könnte es diesem Landstrich erträglicher als jedem anderen Landstrich der Welt ergehen? Diese Frage lässt sich nur aus der Ewigkeitsperspektive beantworten.
Wir tendieren alle dazu, das Hier und Jetzt viel zu wichtig zu nehmen. Wir klammern uns an alles, was wir halten können, ertragen keine Verluste und wollen jetzt das Maximum von allem haben. Wenn wir hier (vermeintlich) zu kurz kommen, hadern wir mit Gott. Diese Haltung ist falsch. Der HERR hat ein sehr viel höheres Ziel für uns als ein wenig Glück hier auf dieser Erde, das doch nur von kurzer Dauer sein kann. Er will uns vorbereiten für eine niemals endende und all unsere kühnsten Vorstellungen weit übertreffende Herrlichkeit. Dafür muss Er uns hier zeitweise «zu kurz» kommen lassen. Doch «das schnell vorübergehende Leichte unserer Bedrängnis bewirkt uns ein über die Maßen überreiches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit» (2.Kor 4,17).
Der Herr Jesus hat unsere Erziehung mit einem Rebschnitt verglichen (Joh 15). Auch ein Baum kann uns hierbei als ein Beispiel dienen: Viele kluge Menschen haben sich enorm viele Gedanken darüber gemacht, wie ein Obstbaum idealerweise aufgebaut sein muss. Das ist gar nicht so simpel, wie man sich vielleicht denken würde, denn man muss es über die Jahre hinweg schaffen, ein Gleichgewicht zwischen dem natürlichen Wachstumstrieb und dem Fruchttrieb (diese Triebe konkurrieren: je mehr Frucht, desto weniger Wachstum und umgekehrt) herzustellen. Aber das ist nicht alles. Die Blüten und Früchte müssen genügend «Luft» haben; nach einem Regen müssen sämtliche Teile des Baumes so rasch als möglich abtrocknen können, damit Pilze keine Chance haben. Zu steil wachsende Triebe bilden zu wenige Früchte, hängende Triebe bilden Früchte von schlechter Qualität. Die Krone muss heftigen Windstössen trotzen können. Diese und andere Ziele mehr erreicht man nur, wenn man den Baum von Anfang an konsequent zurecht schneidet. Jedes Jahr müssen ganze Äste herausgeschnitten und entfernt werden. Jeder Schnitt bringt einen Verlust und eine Wunde mit sich, die dann wieder verheilen muss. Auf lange Sicht ist aber jeder (richtige) Schnitt ein enormer Gewinn für den Baum. Wir sehen, dass alles eine Frage der Perspektive ist: Beschränkt man sich auf das Hier und Jetzt, ist ein Schnitt immer etwas Negatives; blickt man in die ferne Zukunft, ist ein (richtig angesetzter) Schnitt immer etwas Positives.
So ist es auch in unserem Leben: Was wir als negativ empfinden, sind vom Vater in den Himmeln perfekt angesetzte Erziehungsschnitte, die uns bereit machen, in Ewigkeit festzustehen. Bei Sodom musste der HERR zur ultima ratio greifen, die Notbremse ziehen. Sodom wurde gewissermassen auf den Stock zurückgesetzt (so nennt man das, wenn fast der gesamte oberirdische Teil einer Pflanze weggeschnitten wird). Das war eine radikale Massnahme, aber so kann Sodom dereinst vielleicht neu gesund austreiben. Wir würden sagen, schlimmer als Sodom kann es keine Stadt treffen. Der Herr Jesus hat ganz klar das Gegenteil gesagt. Wie drastisch kann das Eingreifen Gottes sein! «Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!» (Hebr 10,31).
Vers 25
Zu jener Zeit begann Jesus und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast. Mt 11,25
Das Urteil Gottes ist in so vielen Dingen so völlig anders als unser menschliches Urteil. Die Menschen mochten Kapernaum, Bethsaida und Chorazin glücklich preisen für die Gnade, die diesen Städten widerfahren war, aber Gott urteilt nach Verantwortlichkeit, wie wir gesehen haben. Gerade die Weisen und Verständigen dieser Erde urteilen oft falsch, denn sie rechnen nicht mit dem alles entscheidenden Faktor – mit Gott. Sie klammern Ihn aus ihren Überlegungen aus und müssen deshalb zu falschen Schlüssen kommen. Die Unmündigen dagegen wissen, dass sie nur Schafe – nicht besonders kluge Tiere – sind, die einen Hirten brauchen, der sie führt. Sie klammern sich an Gott, wofür die Weisen und Verständigen sie belächeln, aber gerade dadurch liegen sie goldrichtig. Der HERR kann ihnen Dinge offenbaren, die die Weisen und Verständigen nie herausfinden können. «Rufe mich an, dann will ich dir antworten und will dir Grosses und Unfassbares mitteilen, das du nicht kennst» (Jer 33,3).
Das folgende Beispiel bringt das schön auf den Punkt: Ein Evangelist sass auf einer Parkbank. Da setzte sich ein Professor neben ihn. Die beiden Männer kamen ins Gespräch und schon bald kam der Evangelist auf sein Lieblingsthema zu sprechen. Der Professor winkte verächtlich ab und meinte, das seien doch alles Märchen. «Wissen Sie, der Durchzug durch das Rote Meer war neusten Forschungsergebnissen zufolge gar kein Wunder. An jener Stelle reicht das Wasser zu gewissen Zeiten nämlich nur bis zu den Knöcheln», saagte er. Daraufhin entgegnete der Evangelist: «Herr Professor, wenn das stimmt, was Sie sagen, dann ist damals ja noch ein viel grösseres Wunder geschehen! Gott hat die gesamte ägyptische Armee in einer Pfütze ertränkt!» – Wir müssen uns bewusst sein, dass wir in einer hochkomplexen Welt leben, die wir nicht begreifen können. Es wird niemandem von uns jemals gelingen, allen Umständen Rechnung zu tragen und absolut richtige Entscheidungen zu treffen. Das kann nur Gott. Nur Er kann eine Sache wirklich zu Ende denken und dann die perfekte Entscheidung treffen, um es einmal menschlich auszudrücken. Wer auf Ihn vertraut, liegt richtig; wer nichts von Ihm wissen will, wird früher oder später straucheln und fallen.
Der Herr Jesus teilte diese Tatsache aber nicht Seinen Zuhörern als eine weitere Belehrung mit, sondern Er drückte sie in einem Gebet an den Vater in den Himmeln aus. Die Gebete des Sohnes an den Vater sind ganz besondere Perlen in der Heiligen Schrift, denn sie führen uns gewissermassen ins Allerheiligste, in die Beziehung innerhalb der Gottheit selbst. Hier können wir so viel über das Wesen Gottes und über das Wesen des Gebetes lernen! Beispielsweise fällt uns auf, dass der Sohn, obwohl Er so eine innige Beziehung zum Vater pflegte wie niemand sonst, den Vater stets mit Ehrfurcht angesprochen hat. Wohl hat Er Ihn auch einmal «Abba, Vater» genannt, aber wir finden als Anreden auch: «Vater, Herr des Himmels und der Erde», «Gerechter Vater» (Joh 17,25) und «Heiliger Vater» (Joh 17,11). Auch die Themen, über die Er mit Seinem Vater im Gebet gesprochen hat, sind interessant. Wir finden beispielsweise nirgends eine Bitte um Nahrung, um Wasser oder um Bedeckung, obwohl das doch die notwendigsten Dinge sind, die ein Mensch braucht. Der Herr Jesus wusste, dass der Vater für diese Dinge sorgen werde, weshalb Er es nicht nötig hatte, darum zu bitten. Seine Jünger lehrte Er dagegen, auch solche Bitten vorzutragen, denn im Gegensatz zu Ihm tun wir alle uns schwer damit, beständig in einer bewussten Abhängigkeit von Gott zu leben. Wir müssten Ihn eigentlich um gar nichts Irdisches bitten, aber wir sollen es tun, um uns selbst daran zu erinnern, dass wir alles aus Seiner gütigen Hand empfangen. Ist es nicht auffällig, dass wir im Neuen Testament (abgesehen vom «Vater unser», das im Kern gar kein christliches, sondern ein jüdisches Gebet ist) zwar sehr viele Gebete, aber kein einziges Gebet finden, das alltägliche, irdische Dinge zum Inhalt hat? Die neutestamentlichen, «echt christlichen» Gebete beschäftigen sich allesamt mit grösseren, himmlischen und geistlichen Themen. Auch die Gebete des Herrn Jesus haben nur solche Inhalte. Man könnte noch sehr viel mehr über die Gebete des Sohnes zum Vater sagen, aber dafür ist hier nicht der richtige Platz.
Vers 26
Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir. Mt 11,26
Worin ist die Freude des Sohnes Gottes begründet? Der Grund liegt in der Freude des Vaters. Alles, was der Herr Jesus von Ewigkeit her getan hat, ist vom Motiv geprägt gewesen, das Herz des Vaters zu erfreuen. Mit Seinem Kommen als Mensch auf diese Erde hat Er das Wesen des Vaters offenbaren können, wie es nie zuvor offenbart worden war. Allein Seine Anwesenheit hier unter uns hat alles ans Licht gebracht – nicht nur, wer der Vater ist, sondern auch, was der Mensch ist. Die Weisen und Verständigen haben es nicht verstanden, es blieb ihnen verborgen, aber den Unmündigen ist es offenbart worden. Das ist der Wille des Vaters gewesen und deshalb ist Ihm dies wohlgefällig gewesen. Darin ist die Freude des Herrn Jesus begründet gewesen.
Ganz wörtlich übersetzt heisst es hier übrigens nicht: «So war es wohlgefällig vor dir», sondern: «Denn so ist Wohlgefallen geworden». Die wortwörtliche Übersetzung ist ohne eine weitere Erklärung kaum verständlich, weil die altgriechischen Zeitformen anders «funktionieren» als die deutschen. Deshalb hat man hier keine wortwörtliche Übersetzung vorgenommen. Dadurch ist aber leider die Dynamik verloren gegangen. Unsere deutsche Übersetzung legt den Gedanken nahe, dass das, worüber der Herr Jesus in Vers 25 gesprochen hat, schon immer wohlgefällig vor dem Vater gewesen sei und dass es diesbezüglich keine Veränderung gegeben habe. Aber die eigentliche Aussage ist, dass dieses Offenbarwerden das Wohlgefallen des Vaters hervorgerufen hat. Wir haben es hier also mit einer Entwicklung zu tun: Der Sohn hat etwas getan, das den Vater erfreut hat. Das Wohlgefallen ist nicht schon ewig lange vorhanden gewesen, sondern es ist geworden.
Wieso betone ich diesen Punkt? Wir sind alle von der Gesellschaft geprägt, die uns umgibt, in der wir leben. Auch wenn es heute immer mehr Menschen gibt, die die Existenz Gottes leugnen, bilden diese Atheisten nach wie vor nicht die Mehrheit. Die meisten Menschen räumen nach wie vor durchaus ein, dass es «ein höheres Wesen», «eine höhere Macht», «irgendwas» gebe, aber für sie ist «dieses Etwas» ganz und gar unpersönlich und darüberhinaus für ihr Leben ohne wesentliche Bedeutung. Zwei philosophische Strömungen sind dabei vorherrschend, nämlich der Agnostizismus («nichts Genaues weiss man nicht»; «a-» = «Nicht-» und «gnosis» = «Erkenntnis») und der Deismus, das ist die Ansicht, Gott habe (wie ein Uhrmacher) alles erschaffen und dann (als die Uhr einmal lief) alles sich selbst überlassen; Er greife nicht in das Geschehen ein. Wenn man es so deutlich vorstellt, würde natürlich jeder Christ sagen, er sei gewiss kein Agnostiker oder Deist. Aber doch prägen diese philosophischen Strömungen unser Denken. Wie oft befürchten wir, Gott würde nicht eingreifen? Wie oft kommt uns der Alltag vor wie der immer wieder selbe Trott, wie eine weitere Runde des Zeigers auf dem Ziffernblatt? Wir sollten uns häufiger bewusst machen, dass Gott mit uns Menschen in einem aktiven Prozess Geschichte schreibt, dass Er Tag für Tag einen neuen Abschnitt hinzufügt, dass es zwar viele Kreisläufe, aber eben auch eine stetige Weiterentwicklung gibt. Der Vater hatte lange darauf gewartet, dass Sein Sohn Ihn offenbaren würde, und als es dann soweit gewesen ist, hat dies Sein Wohlgefallen hervorgerufen. Darin liegt eine Dynamik begründet und so handelt Gott auch für gewöhnlich: aktiv und dynamisch!
Vers 27
Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater; und niemand erkennt den Sohn als nur der Vater, noch erkennt jemand den Vater als nur der Sohn, und der, dem der Sohn ihn offenbaren will. Mt 11,27
Natürlich gehört alles Erschaffene, die ganze Schöpfung, das ganze Universum Gott dem Schöpfer und Erhalter aller Dinge. Gemäss der biblischen Offenbarung kann man eher dazu tendieren, dabei an den Vater in den Himmeln zu denken. Am Anfang der Zeit hat Er einen entscheidenden Teil der Schöpfung dem Menschen anvertraut. Das ist ein Abbild davon, dass der Vater alles dem Sohn übergeben hat. Obwohl dem ewigen Sohn Gottes als Teil der einen Gottheit bereits alles unterworfen war, hat Er Sich als Mensch ein zweites Mal einen Anspruch auf alle Dinge erworben. Wohl spielt der vor uns liegende Vers nicht auf diesen Punkt, sondern eher auf einen Vorgang innerhalb der Gottheit ab, aber diese Dinge lassen sich nicht chirurgisch präzise trennen. Tatsächlich wissen wir aus der Bibel, dass der Vater auch dem Sohn des Menschen (nochmals) alles übergeben hat (1.Kor 15,25–28). Der Sohn wird – anders als der Mensch! – alles getreu verwalten und am Ende in tadellosem Zustand wieder dem Vater übergeben (1.Kor 15,24). Christus ist also «kyrios» – der absolute Gebieter und Herr über alle Dinge.
Aber wer ist der Vater, wer ist der Sohn? Die Juden kannten Gott damals schon in einer gewissen Weise als Vater, aber nur im Sinne einer Umschreibung Seiner Eigenschaft als Schöpfer, also ähnlich wie Pinocchio Geppetto seinen Vater genannt hat. Eine persönliche, innige Vater-Sohn-Beziehung ist ihnen fremd gewesen. Sie haben Gott «Avinu» – «unser Vater» genannt, aber niemals «Avi» – «mein Vater». Deshalb haben sie sich auch so sehr daran gestört, dass der Herr Jesus beständig von Seinem Vater gesprochen hat. «Darum nun suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat aufhob, sondern auch Gott seinen eigenen Vater nannte und sich so selbst Gott gleich machte» (Joh 5,18).
Wie will der Mensch auch etwas von der geheimnisvollen Beziehung innerhalb der Gottheit erkennen? Wie will der Mensch überhaupt zur Erkenntnis Gottes kommen? Es geht nicht! Gott ist so viel grösser und wunderbarer, als wir es uns auch nur im Entferntesten vorstellen können! Nur der Sohn erkennt den Vater wirklich und nur der Vater erkennt den Sohn wirklich. Aber Gott sei Lob und Dank! Der Sohn ist (auch) dazu auf die Erde gekommen, um uns den Vater zu offenbaren! Durch Ihn können wir den Vater kennenlernen. «Philippus spricht zu ihm: Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns. Jesus spricht zu ihm: So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Und wie sagst du: Zeige uns den Vater?» (Joh 14,8.9). Am Ende Seines Lebens sagte Er: «Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast» (Joh 17,6). Der Name, den Er bekannt gemacht hat, ist in besonderer Weise «Vater» gewesen. Er hat die Menschen Gott nahe gebracht und ihnen gezeigt, dass Gott Sich eine innige, persönliche Beziehung mit den Menschen wünscht. Wie herrlich ist das alles!
Vers 28
Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen! Und ich werde euch Ruhe geben. Mt 11,28
Ausgehend davon, was Gott in Sich selbst ist, ausgehend davon, wie Er Sich in Seinem Sohn Jesus Christus offenbart hat, folgt unweigerlich das göttliche Angebot: «Kommt her zu mir!» Gott ist Liebe, das ist Sein Wesen. Er liebt Seine Schöpfung, Seine Geschöpfe, weil es Seine Natur ist zu lieben. Besonders der Mensch ist geschaffen für eine Beziehung mit Gott. Diese Beziehung, die anfänglich in Harmonie und Glückseligkeit bestanden hat, ist vom Menschen abgebrochen worden. Der Mensch ist in Sünde gefallen und gottlos – «Gott-los»! – geworden. Er hat seinem eigenen Schöpfer, gewissermassen seinem Vater ins Gesicht gespuckt und Ihm den Rücken zugekehrt. Wie hat Gott darauf reagiert? Er ist sofort tätig geworden und hat begonnen, den Menschen zu suchen, ihm nachzugehen, ihn zurück zu Sich zu ziehen. Über Jahrtausende hinweg hat Er auf alle möglichen Arten die Menschen zu Sich gerufen, aber nur wenige sind diesem Ruf gefolgt.
Nun war der ewige Sohn Gottes Mensch geworden und zu den Menschen gekommen. Er hatte Gott in einer ganz neuen, viel umfassenderen und zugleich intimeren Weise vorgestellt, offenbart. Er hatte gezeigt, wie der Vater wirklich ist, worum es im Leben wirklich geht. Und nun konnte Er gewissermassen als Krönung ausrufen: «Kommt her zu mir!»
Doch an wen richtete sich dieser Ruf? Wer war würdig zu kommen? Oh, das ist ja das Wunderbare! Der Ruf richtete und richtet sich weiterhin an alle Menschen. Da gibt es Menschen, die beladen sind mit der Schuld, die sie während ihres verkehrten, gottlosen Lebens angehäuft haben. Sie seufzen unter der schweren Last, die sie zu tragen haben, aber wissen nicht, wie sie sie los werden sollen. Ihnen gilt der Ruf: «Ich werde euch Ruhe geben!» Bei Jesus Christus können sie ihre Last loswerden, denn Er bietet ihnen an, die Last für sie zu tragen. Dann gibt es aber auch jene Menschen, die sich abmühen, die versuchen, ein gutes, richtiges Leben zu leben. Ihr Leben ist anstrengend, herausfordernd. Sie kämpfen Tag für Tag gegen ihre ureigenste Natur an. An sie geht der Ruf: «Ich werde euch Ruhe geben!» Bei Jesus Christus können finden ihre Anstrengungen ein Ende. Wenn sie zu Ihm kommen, werden sie feststellen, dass Er ihre Kämpfe kämpft, dass Er für ihre Gerechtigkeit eifert und sorgt. Indem Er zwei so verschiedenen Gruppen zugerufen hat zu Ihm zu kommen, hat Er gezeigt, dass Er allen Menschen Ruhe geben will, dass alle Menschen zu Ihm kommen sollen.
Wie wunderbar ist Gott! Er will uns das, was unser tiefster Wunsch ist, wofür wir vergeblich ein ganzes Leben lang kämpfen, schenken – die ungetrübte Gemeinschaft mit Ihm. Wir sind nicht aufgerufen, Ihm etwas zu bringen, sondern vielmehr, von Ihm zu nehmen, weil Er gerne für uns sorgen will, weil Er uns liebt, weil Er Liebe ist.
Vers 29
Nehmt auf euch mein Joch, und lernt von mir! Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; Mt 11,29
Beim Herrn Jesus Christus finden wir jene Ruhe, die wir alle so dringend brauchen. Das ist der erste grosse Punkt, den leider viele Menschen missverstehen. Sie meinen, ein Christ zu sein bedeute, dass man sich anstrengen und ein besserer Mensch werden müsse, um sich den Himmel zu verdienen, aber nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Der erste Punkt ist, dass wir aufgeben, dass wir endlich aufhören, unser Leben selbst zu bestimmen, dass wir endlich aufhören, uns selbst anzustrengen und alles aus eigener Kraft erreichen zu wollen. Wenn wir das Christenleben nur mit einem Wort umschreiben dürften, dann würde dieses Wort «Gemeinschaft» lauten: Gemeinschaft mit Gott. Das ist es, worum es im Kern geht.
Natürlich bedeutet das nicht, dass wir für den Rest unseres Lebens die Hände in den Schoss legen und uns dem «dolce farniente», dem «süssen Nichtstun», hingeben. Aber die Heiligung und der Dienst für den HERRN folgen erst an zweiter Stelle. Wir dienen nicht, um errettet zu werden, sondern wir dienen, weil wir errettet worden sind. Wir kommen zuerst zur Ruhe in Gott, dann beginnen wir erst – aus dieser Ruhe heraus – tätig zu werden.
Doch wie gut ist Gott! Er spannt uns nicht vor einen Karren, um uns wie Tiere schuften zu lassen. Nein, da ist ein Joch, das immer von Zweien getragen werden muss. Wir sollen die eine Hälfte auf uns nehmen, der HERR trägt die andere Hälfte. In einem Lied heisst es (wohl in Anspielung an Ps 68,20), dass Gott uns Lasten auferlegt, aber uns zugleich mitsamt dieser Last trägt. Der Dienst für Ihn ist nichts Bedrückendes, sondern etwas, das uns selbst gut tut, das uns glücklich macht.
Die Heiligung, also die Umwandlung unseres Denkens, Fühlens, Redens und Verhaltens, ist ebenfalls kein Prozess, den wir aus eigener Kraft bewältigen müssen. Auch diesbezüglich geht es nicht darum, Gott so viel wie möglich zu geben, sondern von Ihm zu nehmen. Wir sollen vom Herrn Jesus lernen. Wenn wir Zeit mit Ihm verbringen, wenn wir in Seinem Wort lesen, wie Er ist, wenn wir die Gemeinschaft mit Ihm verbringen, werden wir quasi automatisch umgewandelt. In 2.Kor 3,18 heisst es so schön, dass wir alle, wenn wir mit aufgedecktem Angesicht Ihn anschauen, in Sein Ebenbild verwandelt werden, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit als durch den HERRN, den Geist. Das bedeutet, dass Seine Herrlichkeit auf uns abstrahlen und sich in uns widerspiegeln wird. Wir müssen nicht 99 Schritte zu einem besseren Leben absolvieren, keinen Zehn-Punkte-Plan für ein bestimmtes Verhalten einhalten, sondern uns nur nahe bei Ihm aufhalten. Je mehr wir gewissermassen Seinen Herzschlag fühlen, umso mehr wird sich unser Herzschlag dem Seinen anpassen. Wir werden immer mehr verstehen, wie sanftmütig und von Herzen demütig Er ist, und wir werden dabei selbst auch immer sanftmütiger und von Herzen demütiger werden. Zugleich werden wir Ruhe für unsere Seelen finden.
Man könnte auch sagen: Religion macht einen Menschen gross, die Beziehung zum Herrn Jesus Christus macht ihn klein. Religion zielt darauf ab, aus uns etwas zu machen. Ein wahres Christenleben führt uns dazu zu erkennen, wie gross und herrlich der Herr Jesus ist. Christen machen sich das Motto von Johannes dem Täufer zu eigen: «Er muss wachsen, ich aber abnehmen» (Joh 3,30).
Vers 30
denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Mt 11,30
Auch wenn wir gewissermassen zusammen mit dem Herrn Jesus das Joch tragen, könnten die Arbeit hart und die Last schwer sein. Man mochte wohl zwei Ochsen unter ein Joch spannen und die beiden Ochsen so die Last teilen lassen, aber es war trotzdem möglich, dass diese beiden Ochsen bis zum Äussersten geschunden wurden. Hat der Dienst für den HERRN diesen Charakter? Nein! Schon im Alten Testament finden wir das verbindliche Gebot: «Du sollst dem Ochsen nicht das Maul verbinden, wenn er drischt» (5.Mose 25,4). Wenn der Ochse gedroschen hat, ist es immer wieder zu Verzögerungen und Unterbrüchen gekommen, weil er von Zeit zu Zeit gefressen hat, was für ihn erreichbar war. Um die Arbeit effizienter zu gestalten, mochte man wohl auf die Idee kommen, dem Ochsen das Maul zu verbinden, auf dass er ohne Unterbruch und Verzögerung dresche. Aber das ist nicht die Art Gottes. Ihm gefällt es nicht, wenn man Ochsen so schindet! Doch «ist Gott etwa um die Ochsen besorgt? Oder spricht er nicht durchaus um unsertwillen?» (1.Kor 9,9.10). Wenn man schon gegenüber Tieren solche Nachsicht walten lassen sollte, wie viel mehr dann gegenüber Menschen! Und wenn der HERR uns auffordert, für die Bedürfnisse von jenen zu sorgen, die Ihm dienen (denn darum geht es in 1.Kor 9), wie viel mehr wird dann Er selbst für uns besorgt sein!
Seine Last ist nicht schwer, sondern gut zu tragen. Sein Joch drückt uns nicht in den Dreck, sondern ist sanft. «Gott aber ist treu, der nicht zulassen wird, dass ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen wird, sodass ihr sie ertragen könnt» (1.Kor 10,13). Was Er einst Seinem Volk Israel gesagt hat, gilt sinngemäss auch uns: «Ich bin der HERR, euer Gott, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgeführt habe, damit ihr nicht ihre Sklaven sein musstet. Und ich habe die Stangen eures Joches zerbrochen und euch aufrecht gehen lassen» (3.Mose 26,13).