Bibelkommentare

Erklärungen zur Bibel

 

Matthäus 12

Vers 1

Zu jener Zeit ging Jesus am Sabbat durch die Saaten; es hungerte aber seine Jünger, und sie fingen an, Ähren abzupflücken und zu essen. Mt 12,1

Was für ein Bild für den Zustand Israels in den Tagen Jesu! Der König-Messias war da, das Volk Gottes lebte im vom Gott bestimmten Land, aber die Jünger des HERRN litten Hunger! O, wie tief erschüttert hätte dieses Volk über seinen eigenen Zustand sein müssen! Hatte der HERR nicht materiellen Wohlstand und Nahrung im Überfluss für den Fall versprochen, dass sie Seine Gebote beachten und Ihm ungeteilt nachfolgen würden? Welchen anderen Grund konnte der Hunger der Jünger also haben als den Ungehorsam Israels gegenüber Gott? Sie bildeten sich so viel auf ihre besondere Stellung als Gottes auserwähltes Volk auf Erden ein, aber erkannten nicht, dass sie – geistlich – ausgehungert waren. Hunger, Hungerstnöte, Krankheiten und Naturkatastrophen waren von alters her die Mittel gewesen, durch die der HERR Sein Volk wachgerüttelt hatte. Nun waren da echte, aufrichtige Israeliten, die Hunger litten, während ihr König-Messias bei ihnen war, aber das Volk und seine Führer erkannten nicht, was das zu bedeuten hatte, wie wir in den nachfolgenden Versen sehen werden.

Vers 2

Als aber die Pharisäer es sahen, sprachen sie zu ihm: Siehe, deine Jünger tun, was am Sabbat zu tun nicht erlaubt ist. Mt 12,2

Die Pharisäer sahen, was die Jünger des Herrn taten, aber sie erkannten darin nicht die Not respektive das Symptom für den schlechten Zustand, in dem sich Israel befand, denn sie hatten kein Herz für andere Menschen und keine Einsicht für eine realistische Selbsteinschätzung. Sie meinten, sie seien gerecht vor Gott, weil sie ihr ganzes Leben durchreglementiert hatten und eifersüchtig darüber wachten, dass auch ja alle Mitmenschen jedes noch so aberwitzige kleinste Gebot genau beachteten. Wenn ein Mensch mit einer verkrüppelten Hand in ihrer Synagoge war, empfanden sie weder Mitleid noch den Wunsch, dass doch ihr Bruder geheilt würde. Sie sahen darin nur eine Gelegenheit, dem Herrn Jesus eine Falle stellen und ihren Sabbat retten zu können. Wenn die Jünger des Herrn so Hunger litten, dass sie auf einem Getreidefeld die Ähren abreissen und sich davon sättigen mussten, empfanden die Pharisäer weder Mitgefühl noch Trauer über den Zustand, in den Israel gefallen war. Sie waren nur daran interessiert, ihren Sabbat zu verteidigen.

Was die Jünger getan haben, hätte aus mehrerlei Gründen verkehrt sein können. Zunächst einmal war da das Problem, dass sie sich ohne zu fragen an fremdem Eigentum bedienten. Diese besondere Form des «Mundraubs» war allerdings nach dem göttlichen Gesetz für Israel ausdrücklich erlaubt: «Wenn du in das Getreidefeld deines Nächsten kommst, dann darfst du Ähren mit deiner Hand abpflücken; aber die Sichel sollst du nicht über das Getreide deines Nächsten schwingen» (5.Mose 23,26). In Seiner Fürsorge hatte der HERR also in Seinem Gesetz bereits für solche Notsituationen vorgesorgt. Dann war aber auch zu beachten, dass kein Getreide geerntet werden durfte, bevor die Erstlingsgarbe nach dem Passah dem HERRN geweiht worden war. Die erste Ernte im Jahr gehörte immer dem HERRN! Gemäss Lk 6,1 ereignete sich diese Begebenheit aber am «zweit-ersten» Sabbat, also am zweiten Sabbat im neuen Jahr respektive am ersten Sabbat nach dem auf das Passah folgenden Sabbat. Die Erstlingsgarbe musste aber am Tag nach dem Sabbat, der auf das Passah folgte, dargebracht werden (3.Mose 23,11). Folglich war die Erstlingsgarbe in jenem Jahr sechs Tage, bevor die Jünger Ähren pflückten, dargebracht worden. So genau zeigt das Wort Gottes auf, dass die Jünger nichts Verkehrtes getan haben!

Damit bleibt nur noch die Sabbatfrage zu beantworten. Das göttliche Gesetz enthält nur wenige präzise Vorschriften darüber, was genau am Sabbat erlaubt ist und was nicht. Augenscheinlich muss es den Israeliten erlaubt sein, am Sabbat zu essen. Die Rabbiner haben sich in ihrem für sie typischen Wahn, jedes Gebot Gottes durch Hunderte von Detailgeboten zu ergänzen, auf den Standpunkt gestellt, das Abreissen von Ähren sei eine Getreideernte, das Zermahlen der Körner in der Hand sei eines Müllers Werk und das Essen der zerriebenen Körner sei das Einführen der Ernte in die Scheune. Also sei das, was die Jünger getan haben, verbotene Arbeit. Wie fehlgeleitet kann das Denken kluger Köpfe sein, wenn sie ihren Rat nicht beim HERRN, sondern bei der eigenen Logik suchen! Im göttlichen Gesetz findet sich kein Gebot oder Verbot, das einen Anlass zu diesem Irrwahn bieten würde. Diese Auslegung ist ein fehlgeleitetes Hirngespinst von Menschen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen haben. Die Jünger des Herrn Jesus haben in ihrer Not also nicht gegen das göttliche Gebot gehandelt, sondern nur Menschengebote gebrochen.

Vers 3

Er aber sprach zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als ihn und die bei ihm waren hungerte? Mt 12,3

Was hätte der Herr Jesus den Pharisäern alles entgegnen können! Er hätte einen Vortrag darüber halten können, wie unsinnig ihre erfundenen Menschengebote waren, wie herzlos ihr Verhalten gegenüber Bedürftigen war oder vieles anderes. Stattdessen führte Er sie direkt in das Wort Gottes. Seine Frage: «Habt ihr nicht gelesen, … ?» ist rhetorisch und in einem gewissen Sinn wohl auch etwas ironisch gewesen. Natürlich hatten sie gelesen! Die Pharisäer wiesen sich in aller Regel durch eine überdurchschnittliche Bibelkenntnis aus. Die Evangelien zeigen uns aber immer wieder, dass sie offensichtlich unfähig gewesen sind, das Wort Gottes auf sich selbst und auf ihren Alltag anzuwenden. Ist dies nicht ein Problem, das wir auch heute nur zu gut kennen? Wie viele Christen hören am Sonntag eine Predigt, die in der folgenden Woche null Relevanz für ihren Alltag hat? Und wie viele Christen wollen denn überhaupt eine andere Predigt hören? Wer lebt im Alltag nach dem Wort Gottes?

Wie so oft schien die nun vom Herrn Jesus angeführte Schriftstelle nichts zum aktuellen Thema auszusagen. Wir werden aber noch sehen, dass Er einmal mehr zwei Beispiele angeführt hat, die nicht nur die direkte Frage der Pharisäer beantwortet, sondern auch die Pharisäer selbst direkt in das göttliche Licht gestellt und ihr Gewissen berührt hat. Wir müssen verstehen, dass sich das Wort Gottes nicht in erster Linie an unseren Verstand richtet, weshalb wir es auch nicht verstandesmässig respektive rein logisch anwenden sollten. In erster Linie spricht das Wort Gottes unser Herz und unser Gewissen an. Unser Bestreben muss es sein, es entsprechend wirken zu lassen, wenn wir daraus zitieren. Das hat der Herr Jesus – nicht nur hier – getan. Er hat kein «besseres» logisches Argument angeführt, sondern das Wort auf das Gewissen der Pharisäer wirken lassen.

Das erste Beispiel betrifft eine Episode aus dem Leben Davids. Für die Juden und die Pharisäer im Besonderen war David von immenser Bedeutung, denn er war jener König gewesen, der Israel zur Blüte geführt hatte, und von ihm sollte der ersehnte Messias-König abstammen, unter dessen Herrschaft sich alle Verheissungen Gottes erfüllen sollten. Nicht zufällig wird uns der Herr Jesus im Matthäus-Evangelium schon im ersten Vers als der Sohn Abrahams und der Sohn Davids vorgestellt. Die Sicht der Juden auf David ist aber verklärt gewesen. Für sie ist er ein grosser Kämpfer und ein weiser, mächtiger Herrscher gewesen. Sie haben sich kaum mit der Zeit seines Leidens, als er von Saul verfolgt und gejagt worden ist, beschäftigt. Wenn sie sich mit Stellen befasst haben, die nicht vom herrschenden, sondern vom leidenden Messias gehandelt haben, haben sie nicht vom «Ben David» (Sohn Davids), sondern vom «Ben Josef» (Sohn Josefs) gesprochen. Sie haben also einen ganz eigenen Blick auf das Leben Davids und damit auch einen ganz eigenen Blick auf den entsprechenden Teil des Wortes Gottes gehabt. Sie haben gelesen, aber nicht richtig verstanden. Daher musste sie schon die erste Frage des Herrn Jesus treffen: Was tat David, als ihn und die bei ihm waren hungerte?

Vers 4

Wie er in das Haus Gottes ging und die Schaubrote ass, die er nicht essen durfte, noch die bei ihm waren, sondern allein die Priester? Mt 12,4

David ist der von Gott verheissene König gewesen, aber Saul und das Volk unter Saul haben ihn abgelehnt und verfolgt. Nachdem Saul definitiv beschlossen hatte, David umzubringen, musste David Hals über Kopf fliehen. In seiner Not musste er den Priester bitten, ihm von den Schaubroten zu geben. Beachten wir, dass der Herr Jesus hier ausdrücklich bestätigt, dass David diese Brote nicht essen durfte! Im nächsten Beispiel (Mt 12,5) geht es um einen anderen Fall, wo das Gesetz nicht gebrochen wird, weshalb der Herr Jesus explizit festhält, dass die Betroffenen schuldlos sind. Das muss betont werden, weil diese Stelle hier in Mt 12,3.4 oft falsch interpretiert wird. In aller Regel wird diese Stelle nämlich so verstanden, als ob der Herr Jesus Seine Zustimmung zu einem Verstoss gegen das göttliche Gesetz gegeben hätte, wenn die Umstände dies rechtfertigten. So etwas hätte Er niemals getan! Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein. Er war ja gerade gekommen, um das bis dahin so oft gebrochene Gesetz wieder aufzurichten und zu seiner vollen Geltung zu bringen, um alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Er hatte selbst gesagt, dass vom Gesetz weder ein Iota noch ein Strichlein zurückgenommen würde, mochten die Umstände sein, wie sie wollten.

Anders als das folgende Beispiel soll diese Stelle hier in Mt 12,3.4 gerade nicht ausdrücken, dass eine scheinbar verbotene Handlung unter bestimmten Umständen ausnahmsweise doch erlaubt sei. Der Herr Jesus hat selbst bestätigt, dass das Handeln Davids nicht nur scheinbar, sondern effektiv gegen das göttliche Gesetz gerichtet gewesen ist. Das Thema dieses Beispiels ist denn auch nicht in erster Linie: «Ist das erlaubt oder nicht erlaubt?», sondern vielmehr: «Seht, wo ihr gelandet seid!»

David ist der von Gott verheissene König für Israel gewesen, aber er ist zunächst verworfen worden, was die Pharisäer in ihrer verklärenden Auslegung jeweils unterschlagen haben. Die Verwerfung Davids hat alles aus dem Lot gebracht. Sie hat unter anderem dazu geführt, dass ein Priester die Schaubrote Gottes an Unbefugte weitergegeben hat und dass Unbefugte von diesen Broten gegessen haben. In Seiner Anspielung auf diese Episode hat der Herr Jesus nur von wenigen Israeliten gesprochen, nämlich von David und seinen Männern. Diese Israeliten haben jedoch alle Hunger gelitten – ein schreckliches Bild auf den Zustand Israels in jener Zeit! Die Verwerfung Davids hatte also gewissermassen das ganze Volk in Trübsal gebracht, und das in zweifacher Hinsicht: Es hatte den Segen verloren und es war gesetzlos geworden.

Die Pharisäer standen gerade im Begriff, das grosse Gegenbild Davids, den wahren Messias, zu verwefen. Sie rechtfertigten ihre verkehrte Entscheidung mit dem Vorwand, sie wollten das Gesetz hochhalten und verteidigen. In Tat und Wahrheit haben sie das Gesetz weder verstanden noch richtig angewendet. Ihre ganze Haltung war verkehrt und ihre Entscheidung würde dazu führen, dass das Volk in Trübsal gebracht würde, wie es in den ersten Tagen Davids gewesen ist. Das Gesetz würde auf üble Weise gebrochen werden; der Segen würde vom Volk genommen werden. Genau das ist ja anschliessend auch in so schrecklicher Weise geschehen!

Dieses erste Beispiel des Herrn Jesus hat also nicht die Antwort auf die Frage der Pharisäer geliefert, weshalb Er Seinen Jüngern nicht gewehrt hatte, Ähren zu lesen und zu essen; darauf ist Er im zweiten Beispiel eingegangen. Dieses erste Beispiel sollte die Herzen und Gewissen dieser verhärteten Männer erreichen und aufrütteln. Ihr grosser David, den sie so verehrten, hatte das Gesetz Gottes gebrochen! Und weshalb? Weil er vom Volk verworfen wurde! O, wie hätte dies die Pharisäer aufrütteln müssen, wenn sie noch einen Funken Gewissens gehabt hätten!

Vers 5

Oder habt ihr nicht in dem Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester in dem Tempel den Sabbat entheiligen und doch schuldlos sind? Mt 12,5

Nachdem der Herr Jesus an das Gewissen der Pharisäer appelliert hatte, wies Er mit einem weiteren Beispiel aus dem Wort Gottes nach, dass sie bezüglich der Sabbatfrage falsch lagen. Sie waren zu Eiferern für den Sabbat – statt für Gott und Seinen Messias – geworden, aber es war nicht der göttliche Sabbat, für den sie eiferten, sondern ihr eigener Sabbat, der durch unzählige Detailgebote definiert war, die sie selber aufgestellt hatten. Für sie galt der Sabbat absolut, wie man heute noch in Gesprächen mit orthodoxen Juden (den «Nachkommen» der Pharisäer) feststellen kann, die unter anderem sogar versuchen, am Sabbat die Verwendung von elektrischem Licht zu vermeiden.

Der HERR hatte Seinem Volk Israel geboten, am Sabbat keiner Arbeit nachzugehen. Es liegt auf der Hand, dass eine Getreideernte oder die Verarbeitung von Getreide zu Mehl in einer Mühle am Sabbat nicht erlaubt waren; der Landwirt und der Müller mussten ruhen. Ebenso augenscheinlich ist, dass die Zubereitung und das Verzehren von Speise erlaubt sein mussten, denn Kochen und Essen sind kein Broterwerb. Die Pharisäer waren in ihrem Wahn, alle möglichen Schlupflöcher zu vermeiden, aber so weit gegangen, dass sie genau das verboten hatten! Sie hatten den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen. Was die Jünger des Herrn Jesus damals getan haben, ist offenkundig keine Arbeit gewesen, die am Sabbat verboten gewesen wäre. Aber sie meinten, das sei bereits zu viel «Arbeit».

Das Gegenbeispiel des Herrn Jesus musste sie in einem Augenblick verstummen lassen: Am Sabbat war es normal, dass die Priester arbeiteten! Sie taten im Tempel sehr viel mehr, als nur einige Ähren abzureissen, die Körner zu zerreiben und das «Brot» zu essen: Sie schlachteten Tiere, bereiteten diese zu, opferten etc. Der Herr Jesus hat das (wohl nicht ohne einen Hauch von Ironie) «den Sabbat entheiligen» genannt, aber – anders als in Bezug auf die Episode aus Davids Leben – betont, dass die Priester schuldlos sind. Ihnen ist all die viele Arbeit am Sabbat ja durch das göttliche Gesetz befohlen! Das zeigt, dass man sich nicht einfach eine einzige Anweisung aus dem göttlichen Gesetz herauspicken, diese als absolut setzen und dann – quasi nach eigenem Belieben – in hundert Detailgeboten näher spezifizieren kann. Die Israeliten mussten das ganze Gesetz vom Sinai im Blick haben und bei der Auslegung der einzelnen Gebote die Systematik sowie die eigentliche Stossrichtung oder Zweckbestimmung des Gesetzes beachten. Hätten sie das getan, wäre ihnen bewusst gewesen, dass der Sabbat – entgegen ihrer falschen Annahme – nicht darauf abzielte, die Israeliten gleichermassen einen Tag pro Woche ans Bett zu fesseln und dafür zu sorgen, dass sich ja niemand rührte. Die Pharisäer lagen also komplett falsch, wenn sie die Jünger beschuldigten. Diese waren ebenso schuldlos wie die Priester.

Als Christen sind wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade, geleitet vom in uns wohnenden Heiligen Geist. Dem Heiligen Geist gefällt es aber, mit dem Wort Gottes zu arbeiten. Für jeden Christen muss es also das Normalste der Welt sein, regelmässig im Wort Gottes zu lesen und das Wort Gottes zu studieren. Das Bestreben, die Bibel zu verstehen, setzt notwendigerweise eine Auslegung des Textes voraus, denn Auslegung (Interpretation, Exegese) ist nichts anderes als der Versuch, die Bedeutung eines geschriebenen Textes zu erfassen. Nur zu leicht können wir dabei dieselben Fehler wie die Pharisäer begehen. Deshalb ist es notwendig, bestimmte Grundprinzipien der Schriftauslegung zu beachten. Hier haben wir ein sehr wichtiges Prinzip kennengelernt: Man darf das grosse Ganze nicht aus dem Blick verlieren. Die Bibel erzählt uns im Prinzip eine einzige grosse Geschichte. Alle Details fügen sich nahtlos in diese grosse Geschichte ein. Führt uns die Auslegung einer Stelle zu einem Ergebnis, das nicht zur grossen Geschichte passt, muss unsere Auslegung falsch sein.

Ziehen wir als Beispiel nochmals Mt 12,3.4 heran! Durch die ganze Bibel hindurch stellen wir immer wieder fest, dass der HERR absolut gerecht und heilig ist, dass Er immer zu Seinem Wort steht und dass Er niemals etwas, das Er früher gesagt hat, später relativiert. Studiert man die ersten Verse von Mt 12, könnte man zum Schluss gelangen, dass der HERR in bestimmten Situationen ein Auge zudrücke, Fünfe gerade sein lasse, es manchmal eben doch nicht so genau mit Seinem Gesetz nehme. Tatsächlich wird diese Stelle von den meisten Auslegern in diesem Sinn verstanden. Aber das wäre eine Katastrophe! Wenn Gott nicht immer zu 100 Prozent zu Seinem Wort stehen würde, worauf könnten wir uns dann noch verlassen?! Wenn Er es mit der Gerechtigkeit und mit Seinem eigenen Gesetz nicht so genau nähme, dann würde Er willkürlich handeln, was uns jede Sicherheit nehmen würde. Das Evangelium besteht aber ja gerade darin, dass Er uns in einer Gnade rettet, die auf einer unbestechlichen, uneingeschränkten Gerechtigkeit beruht! Nur das kann uns Sicherheit geben. Würden wir Mt 12,3.4 so verstehen, dass der HERR es mit Seinem Gesetz eben doch nicht so genau nehme, hätten wir einen gewaltigen Bruch in der «grossen» Geschichte. Diese Auslegung muss deshalb falsch sein. Bestätigt wird dies durch die Wortwahl des Herrn Jesus, denn Er hat ja (wie bereits erwähnt) von dem, was David getan hat, gesagt, es sei nicht erlaubt, während Er die Priester, die den Sabbat systematisch entheiligen, als schuldlos bezeichnet hat. Nicht immer ist es einfach, den wahren Sinn einer Stelle zu erfassen, aber wenn man ihn erfasst hat, wird man immer wieder feststellen, wie harmonisch die ganze Heilige Schrift in sich selbst ist.

Vers 6

Ich sage euch aber: Grösseres als der Tempel ist hier. Mt 12,6

Der Herr Jesus hatte den Pharisäern mit zwei Argumenten aus der Heiligen Schrift widersprochen: Nicht der Eifer für Gebote, sondern die Liebe zum von Gott bestimmten Messias ist entscheidend und die Sabbatruhe gilt nicht in diesem absoluten Sinne, wie es die Pharisäer behauptet haben. In einer unnachahmlichen Weise und mit so wenigen Worten hat Er dann die beiden Argumente verknüpft: Die Priester «entheiligten» den Sabbat – schuldlos! –, indem sie im Tempel dienten. Aber nun war mehr als der Tempel (und mehr als David) hier. Wieviel mehr musste der Sabbat «entheiligt» werden, wenn es darum ging, Ihm zu dienen! Die Pharisäer liebten den Sabbat und hassten den Messias. Deshalb lagen sie in allen Punkten falsch. Hätten sie Ihn geliebt, hätten sie auch das Sabbatgebot richtig verstanden. Das ist im Prinzip die zusammenfassende Aussage. Das gilt im übertragenen Sinne auch für uns. Der Herr Jesus muss uns das Wichtigste, das Grösste sein. Unsere heilige Pflicht, wenn man es so nennen kann, ist es, Ihn mehr als alles andere zu lieben. Ist es bei der Auslegung der Heiligen Schrift unser Verlangen, Ihn immer mehr und besser ehren zu wollen, werden wir Sein Wort richtig verstehen. Ist es nicht diese Liebe, die uns treibt, werden wir immer wieder falsch liegen.

Wofür steht der Sabbat denn eigentlich? Klar ist, dass es sich um einen wichtigen Teil des Gesetzes für Israel gehandelt hat und dass der Sabbat sogar gewissermassen das Zeichen für die Erwählung Israels als Volk Gottes gewesen ist. Aber in Kol 2,16.17 heisst es, dass der Sabbat ein Schatten der künftigen Dinge gewesen ist, der Körper selbst aber der Christus sei. Das bedeutet, dass der Sabbat ein Zeiger, ein Wegweiser auf den Herrn Jesus gewesen ist. Wie das? Nun, das erklärt sich am besten, wenn wir zur ersten Erwähnung des Sabbats in der Heiligen Schrift gehen: In sechs Tagen hat der HERR die Erde erschaffen; am siebten Tag hat Er sich an Seinem Werk erfreut. Dieser eine, einzig wahre Sabbat, der je gefeiert worden ist, ist eine Zeit uneingeschränkten Friedens und Segens gewesen. Alles ist in Ordnung gewesen und sowohl Gott als auch die Menschen haben sich nur gefreut. Die ganze Schöpfung ist dem Menschen unterworfen gewesen. Der Sabbat ist also ein Vorbild auf das Tausendjährige Friedensreich unter der Herrschaft des Herrn Jesus Christus. Er wird alles in dieser Schöpfung wieder in Ordnung bringen, über alles herrschen und uneingeschränkten Frieden und Segen für die Menschen bringen. Es liegt auf der Hand, dass sich die Menschen dann nicht einfach tausend Jahre lang möglichst nicht rühren werden. Sie werden ein ganz normales, aber reich gesegnetes Leben führen. Natürlich wird auch die Verehrung des Messias Jesus eine wichtige Rolle spielen. Die ganze Welt wird sich am wieder eingeführten israelitischen Gottesdienst mit Ihm im Zentrum beteiligen. So gesehen bildet der Gottesdienst – nicht am Tempel, sondern am Messias – einen wesentlichen Teil der kommenden grossen Sabbatruhe. Angedeutet hat der Herr Jesus das bereits mit dem vor uns liegenden Vers.

Vers 7

Wenn ihr aber erkannt hättet, was das heisst: »Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer«, so würdet ihr die Schuldlosen nicht verurteilt haben. Mt 12,7

Haben die Jünger nun etwas Verbotenes getan, wie einst David? Oder sind sie schuldlos gewesen, wie die Priester, die am Sabbat am Tempel dienen? Sie sind schuldlos gewesen! Der Herr Jesus hat den Pharisäern nämlich vorgeworden, sie hätten (zu Unrecht) die Schuldlosen verurteilt.

Aber der Herr ist in Seinen Ausführungen noch weiter gegangen. Zunächst hat Er die Pharisäer daran erinnert, was der eigentliche Zweck des Gesetzes gewesen ist, den sie völlig aus den Augen verloren hatten. Ihrer Ansicht nach waren die Israeliten verpflichtet, sich peinlich genau an alle möglichen rituellen Vorschriften zu halten. Sie waren überzeugt, dass sie den HERRN nur ehren würden, wenn sie Ihm einen in jedem Detail möglichst perfekten Dienst erwiesen. Bildlich ausgedrückt kreisten sie sich um die Schlachtopfer, also darum, was sie dem HERRN gottesdienstlich darbringen sollten. Alles musste dem Zweck, ein möglichst perfektes Schlachtopfer darzubringen, einen möglichst perfekten Gottesdienst zu leisten, untergeordnet werden. Die Religion war für sie alles und der Mensch lebte ihrer Ansicht nach nur für die Religion.

In Tat und Wahrheit ist es aber genau umgekehrt: Die religiösen Anordnungen sind für den Menschen gegeben worden. Gottes Anordnungen haben schon immer darauf abgezielt, den Menschen ein möglichst gutes Leben auf dieser Erde zu ermöglichen. Ein Mensch, der sich an Gottes Geboten orientiert, wird – sogar, wenn er nicht wirklich glaubt! – ein gutes, gesegnetes Leben auf dieser Erde führen, weil die Gebote Gottes ihn auf einen Weg führen werden, der gut für ihn ist. Eine Gesellschaft, die sich an Gottes Geboten orientiert, wird florieren. Wenn wir beispielsweise auf die vergangenen 60 Jahre in Europa zurückblicken, werden wir einen erschreckenden Zusammenhang zwischen einer gesellschaftlichen Abwendung von Gottes Wort, einem gesellschaftlichen Wertezerfall und einem immensen Anstieg an psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen feststellen. Die Abwendung von Gottes Wort macht die Menschen seelisch krank.

Viele der Gebote Gottes für Israel haben den Schutz der Schwächsten, der Witwen, der Waisen und der Fremden, bezweckt. Die Israeliten waren aufgefordert, ihre Mitmenschen zu achten und ihnen zu helfen. Sie durften sich nicht gegenseitig ausnutzen oder bestehlen. Ihr gegenseitiges Verhalten sollte von Barmherzigkeit geprägt sein. Das war der Kernpunkt des Gesetzes, soweit es das Miteinander der Israeliten regelte. Später sollte der Herr Jesus das Gesetz einmal in den beiden folgenden Geboten zusammenfassen: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das grosse und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten» (Mt 22,37–40). Nicht die Schlachtopfer waren der Hauptinhalt des Gesetzes, sondern die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen. Die Pharisäer hatten diesen Zweck verfehlt, weil sie in ihrem Wahn, alles möglichst genau zu nehmen, hartherzig gegen ihre Mitmenschen geworden waren.

Vers 8

Denn der Sohn des Menschen ist Herr des Sabbats. Mt 12,8

Mit dieser letzten Bemerkung hat der Herr Jesus den Kreis Seiner Ausführungen wieder geschlossen. Er hatte sich ja nicht darauf beschränkt, nur zu erklären, dass Seine Jünger nichts Verbotenes getan hatten, sondern damit begonnen aufzuzeigen, dass die Verwerfung des von Gott bestimmten Königs alles aus dem Lot bringt. Nur wer die richtige Einstellung zu Gott und zu Gottes Messias (Christus) hat, kann auch die richtige Einstellung zum Wort Gottes haben. Wer nicht anerkennen will, dass Gott bzw. der Messias der Herr über den Sabbat ist, wird das Gesetz über den Sabbat nie richtig handhaben können. Die Pharisäer sollten also nicht zuerst die Frage beantworten, was genau am Sabbat erlaubt war und was nicht, sondern vielmehr, wer denn der Herr über den Sabbat ist. Sie hatten sich aufgespielt, als wären sie die Herren über den Sabbat. Weil der Messias sich in Bezug auf den Sabbat nicht so verhielt, wie sie es erwarteten, lehnten sie Ihn ab. So verkehrt war ihr Denken!

Vers 9

Und als er von dort weiterging, kam er in ihre Synagoge. Mt 12,9

Nachdem der Herr Jesus den Pharisäern eine umfassende Entgegnung auf ihren ungerechtfertigten Vorwurf gegeben hatte, ging Er weiter. In einem geistlichen Lied singen wir unter anderem: «Dein Tun ist lauter Segen, Dein Gang ist lauter Licht; Dein Werk kann niemand hindern, Dein Arbeit darf nicht ruhn, wenn Du, was Deinen Kindern, erspriesslich ist, willst tun». Der HERR hat Seine Schöpfung keinen Augenblick sich selbst überlassen. Seit der Mensch in Sünde gefallen ist und sich dadurch von Gott abgekoppelt hat, ist Er tätig, um uns zurück zu Sich ins Leben zu ziehen. Seine Arbeit hat seither niemals geruht. Immer weiter und weiter ist Er tätig gewesen!

Sein Wirken lässt sich einerseits in verschiedene «Episoden» aufteilen, wie es hier der Fall ist: Die Diskussion mit den Pharisäern ist eine Episode für sich gewesen und daran schloss sich die nun folgende Begebenheit in der Synagoge als nächste Episode an. Wir können auch in grösseren Kategorien denken: Da hat es eine Zeit vor der Sintflut, eine Zeit unmittelbar nach der Sintflut, die Zeit der Verheissungen und der Erzväter (Abraham, Isaak und Jakob), eine Zeit für Israel in der Wüste und viele weitere solche Zeiten gegeben. Andererseits bilden diese «Episoden» keine einzelnen Geschichten, die für sich allein stehen. Zusammen bilden sie eine grosse, in sich vollständige Geschichte. Man kann beispielsweise nicht behaupten, das Handeln Gottes mit Israel sei etwas komplett Anderes als Sein Handeln mit der Christenheit gewesen. Natürlich gibt es grosse Unterschiede, natürlich sind das zwei verschiedene «Episoden», aber sie gehören eben doch beide zur selben grossen Geschichte, die ganz bestimmten Mustern folgt. Dasselbe gilt auch im Kleinen: Wir werden bei der Betrachtung der Folgeverse feststellen, dass die Episode in der Synagoge nicht etwas ganz Anderes als jene mit den Pharisäern im Ährenfeld gewesen ist, sondern dass diese beiden Episoden sehr eng miteinander verwoben sind.

Beim Studium der Bibel sollten wir diesen Aspekt berücksichtigen. Es ist wichtig, dass wir die Unterschiede, die der HERR in Seinem vollkommenen Wort macht, ernst nehmen. Israel ist nicht die Kirche, der Sabbat ist nicht der Sonntag etc. Gott hat immer einen guten Grund, wenn Er Dinge voneinander unterscheidet. Andererseits dürfen wir aber auch nicht versuchen, alles chirurgisch sauber voneinander zu trennen. Am Ende gehört eben doch alles zusammen, ist eben doch alles miteinander verwoben. Jede einzelne «Episode» muss sich harmonisch in das grosse Ganze einfügen. Gelingt das nicht, haben wir die Episode falsch verstanden.

Vers 10

Und siehe, da war ein Mensch, der eine verdorrte Hand hatte. Und sie fragten ihn und sprachen: Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen?, damit sie ihn anklagen könnten. Mt 12,10

Welche Not herrschte in Israel zur Zeit des Herrn Jesus! Seine Jünger litten Hunger und in der Synagoge war ein Mann mit einer verkrüppelten Hand. Wir denken uns vielleicht nicht viel dabei, aber für Israel hätten das alarmierende Warnzeichen sein müssen. Der HERR hatte Israel für den Fall, dass es gehorsam sein würde, materiellen Segen – insbesondere Gesundheit und Wohlstand – verheissen. Dieser Segen lag zur Zeit des Herrn Jesus offensichtlich nicht auf dem Volk. Leider waren die religiösen Führer verblendet. Sie meinten, sie müssten Gott gefallen, waren aber blind für die offensichtlichen Missstände. Sie hatten weder Verständnis für die hungernden Jünger noch bekümmerte es sie, dass einer ihrer Brüder bei ihren Gottesdiensten als ein Verkrüppelter unter ihnen sein musste. Hätten sie erkannt, das das heisst: «Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer» (vgl. Mt 12,7), wären sie betrübt über das schlimme Schicksal ihres Bruders gewesen. Ihr Herzensanliegen wäre es gewesen, dass er doch wieder gesund werden möchte. Die Anwesenheit des Herrn Jesus wäre für sie die Gelegenheit gewesen, für die Wiederherstellung dieser verdorrten Hand zu bitten.

Das Erschreckende ist, dass die Pharisäer ganz offensichtlich genau wussten, dass der Herr Jesus diesen verkrüppelten Mann sowohl heilen konnte als auch heilen wollte. Ihnen war also völlig bewusst, wer da in ihrer Mitte war. Aber trotzdem lehnten sie Ihn ab! Sie forderten Ihn heraus – aber nicht zugunsten ihres Bruders, nicht aus Barmherzigkeit, sondern vielmehr, um Ihn anklagen zu können. Für sie ist das alles nur eine Gelegenheit gewesen, ihren ach so geliebten Sabbat zu verteidigen! Kann man sich diese Herzenshärte vorstellen?

Vers 11

Er aber sprach zu ihnen: Welcher Mensch wird unter euch sein, der ein Schaf hat und, wenn dieses am Sabbat in eine Grube fällt, es nicht ergreift und herauszieht? Mt 12,11

Die Pharisäer wollten dem Herrn Jesus (wie so oft) mit einer Fangfrage eine Falle stellen. Aber Er entwaffnete sie mit einer einfachen Gegenfrage vollständig. Sie hatten gefragt, ob es am Sabbat erlaubt sei zu heilen, denn nach ihrer Auffassung war eine Wunderheilung Arbeit, die am Sabbat verboten war. Wie krank war ihr Denken! Die Gegenfrage des Herrn Jesus traf sie gewiss unerwartet: Was ist, wenn an einem Sabbat eine Notsituation eintritt? Wenn ein Schaf in eine Grube fällt, aus der es nicht wieder allein herauskommen kann, muss man es tatsächlich bis zum nächsten Tag dort liegen lassen und riskieren, dass es dort elendig stirbt? Kein Mensch, der noch halbwegs bei Trost ist, würde sich so verhalten! Natürlich würde man eingreifen und das Schaf aus der Grube ziehen.

Wir wollen uns aber doch einmal auf die Denkweise der Pharisäer einlassen, denn leider ist diese Art des Denkens auch unter Christen häufig anzutreffen. Für die Pharisäer waren Regeln das Nonplusultra. Sie lebten dafür, Regeln zu beachten und um immer weitere Regeln zu ergänzen. Sie hätten das vielleicht nie so direkt zugegeben, aber sie lebten nach der Überzeugung, dass der Sinn des Lebens darin bestehe, möglichst viele Regeln möglichst genau zu befolgen. Ihr Denken war völlig verdreht, denn die göttlichen Regeln waren gegeben worden, um den Menschen ein Leben in Würde, Frieden und Segen zu ermöglichen. Gottes Interesse hat schon immer den Menschen und deren Herzen gegolten – und nicht Seinen Regeln, wenn man das so überspitzt ausdrücken darf.

Gerade uns Christen müsste das mehr als jedem sonst bewusst sein. Zeichnen wir uns nicht gerade durch unsere Überzeugung aus, dass wir niemals fähig sind, ein in allen Punkten Gott wohlgefälliges Leben zu führen, und dass wir deshalb Gnade (unverdiente Gunst) und einen Retter benötigen? Wie können wir dann vor die Menschen treten und ihnen in dieser selbstgerechten Weise ihre Verfehlungen vorhalten, wie wir es leider so oft tun? Wie können wir uns verhalten, als wären wir etwas Besseres? Wie können wir Menschen bildlich gesprochen über die Klippe springen lassen, um unseren Regeln zum Durchbruch zu verhelfen? Wie viele Menschen gehen in unseren Gemeinden vor die Hunde, weil sie sich mitten in einer Bande von Heuchlern ständig verstellen müssen! Wie viele Menschen wissen ganz genau, dass sie mit niemandem über ihre wahren Probleme sprechen können, weil man sie dafür verurteilen und ächten würde! O, wo sind so viele von uns gelandet! Wir sind wie die Pharisäer: Form ist alles, der Mensch ist nichts. Das ist das Gegenteil von dem, was der HERR im Sinn gehabt hat. Das muss uns wieder mehr bewusst werden.

Vers 12

Wie viel wertvoller ist nun ein Mensch als ein Schaf! Also ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun. Mt 12,12

Wenn damals niemand auch nur einen Gedanken an die Frage verschwendet hat, ob es erlaubt sei, am Sabbat ein Schaf aus einer Grube zu retten, wie konnte dann in Frage gestellt werden, dass es auch erlaubt sei, einem Mitmenschen zu helfen? Ein Mensch ist doch viel wertvoller als ein Schaf! Das hat damals – anders als heute – sicher niemand bezweifelt. Der Grund dafür, dass man es dem Mann mit der verdorrten Hand zugemutet und vom Herrn Jesus verlangt hat, noch einen Tag zuzuwarten, lag darin, dass man die Sache als nicht dringlich angesehen hat. Beim Schaf in Not bestand die ernste Gefahr, dass es ohne Hilfe am nächsten Tag nicht mehr leben würde. Der Mensch hatte dagegen wohl schon Jahre mit seiner verdorrten Hand gelebt, also konnte er nochmals einen Tag zuwarten, meinte man.

Ein solches Denken offenbart eine Verhärtung des Herzens. Da ist ein Mensch, der schon seit Jahren an einem Gebrechen leidet und nun endlich die grosse Chance hat, geheilt zu werden. Aber gerade weil er dieses Leiden schon so lange ertragen musste, denkt man sich, es komme auf einen Tag mehr oder weniger nicht an. So kann man doch nur denken, weil man selbst gesund ist! Gerade wenn man doch schon so unsäglich lange gelitten hat, sollte doch die erstmögliche Chance zur Heilung genutzt werden! Wie hätten die Pharisäer reagiert, wenn sie selbst einmal nur für eine Woche mit einer verdorrten Hand hätten leben müssen und man ihnen dann am Tag der Wiederherstellung gesagt hätte, sie könnten ja nun locker nochmals einen Tag mehr warten? Gewiss hätten sie nicht so reagiert wie in Bezug auf diesen Mann, der ihnen offensichtlich völlig egal gewesen ist.

Die Schlussfolgerung des Herrn Jesus überrascht allerdings doch. Der HERR hatte Seinem Volk eine generelle Ruhe verordnet, was man als eine Anweisung zu möglichst wenig Anstrengung – wofür auch immer! – verstehen kann. So hätten wohl auch die meisten von uns das Gesetz für Israel über den Sabbat ausgelegt. Der Herr Jesus hat jedoch unterschieden zwischen Arbeit in einem engeren Sinn, was wir als Anstrengung für Lohn verstehen können, und (unentgeltlicher) Anstrengung zum Wohl der Mitmenschen – «Gutes tun». Wenn wir die Gebote für Israel bezüglich des Sabbats studieren, stellen wir fest, dass es keine Stelle gibt, die gegen eine solche Unterscheidung spricht. Auszüge aus dem Buch Nehemia weisen darauf hin, dass der HERR offensichtlich nicht Anstrengung an sich, sondern «Geschäftemachen» am Sabbat als besonders verwerflich angesehen hat. Die Schlussfolgerung des Herrn Jesus fügt sich also harmonisch in das Gesetz für Israel ein und hilft, es besser zu verstehen. Sie zeigt, dass es in erster Linie darum geht, nicht dem gewöhnlichen Broterwerb nachzugehen, sondern eine Pause einzulegen. Natürlich sollte der Tag auch nicht für andere Tätigkeiten «vergeudet» werden, die ebenso anstrengend und einnehmend gewesen wären wie die eigentliche Erwerbstätigkeit. Der Sabbat sollte schon ein Ruhetag sein. Aber seinen Nächsten Gutes zu tun war erlaubt. Niemand sollte sich hinter dem Sabbat verstecken und praktische Nächstenliebe mit dem Argument verweigern, es sei halt Sabbat; man solle doch morgen wieder kommen.

Für uns als Christen sind diese Ausführungen interessant, weil sie zeigen, dass man das Alte Testament stets aus der Sicht des Neuen Testamentes auslegen sollte. Das Neue Testament liefert uns zu vielen Details im Alten Testament wichtige Details und oft auch neue Aspekte. Wir können die wahre Bedeutung des Alten Testamentes nie vollständig erfassen, wenn wir das Neue Testament unberücksichtigt lassen.

Vers 13

Dann spricht er zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus! Und er streckte sie aus, und sie wurde wiederhergestellt, gesund wie die andere. Mt 12,13

Die Pharisäer hätten ihren Bruder noch einen weiteren Tag leiden lassen, ohne auch nur einen Gedanken zu verlieren. Aber der Herr Jesus war voll innigen Mitgefühls und Erbarmens. Für Ihn genügte es, diese Not zu sehen. Er konnte sie nicht ungelindert lassen. So gut ist Er! Natürlich war Ihm auch völlig bewusst, dass Er mit einer Heilung am Sabbat mitten in der Synagoge die religiösen Führer maximal provozieren würde. Wir hätten Ihm als Berater wohl empfohlen, noch einen Tag zuzuwarten oder den Mann wenigstens ausserhalb der Synagoge in einer dunklen Gasse zu heilen. Doch es musste offenbar werden, was in den Herzen der Menschen gewesen ist! Hätte der Herr Jesus sich durch alle möglichen Situationen «durchgeschlängelt» und sich überall so verhalten, dass Er möglichst keinen Anstoss erregte, hätte die religiöse Führerschaft von Israel keine Gelegenheit gehabt zu zeigen, wie sehr sie Ihn hasste und ablehnte. Das musste sich aber unbedingt zeigen, damit wir das Handeln Gottes mit Israel verstehen können.

Doch der Herr Jesus ist nicht nur voll innigen Mitgefühls, Er ist auch mächtig ohne Ende! Ein Wort von Ihm genügte, um eine vollständig verkrüppelte Hand in einem Augenblick wieder gesund zu machen! Wir leiden vielleicht auch an körperlichen oder seelischen Gebrechen, von denen wir denken, sie würden nie wieder heilen. Aber der HERR kann alles heilen! Wir haben zwar keine Verheissung, dass Er alle unsere Leiden noch in diesem Leben hier auf der Erde heilt, aber wir dürfen Ihm zutrauen, dass Er grundsätzlich sowohl willig als auch fähig ist, jede Art von Leiden zu heilen. Es wäre verkehrt, wenn wir annehmen würden, es gäbe ein Leiden, das Er ganz grundsätzlich nicht heilen könne oder nicht heilen wolle.

Vers 14

Die Pharisäer aber gingen hinaus und hielten Rat gegen ihn, wie sie ihn umbringen könnten. Mt 12,14

Hatte der Herr Jesus töricht gehandelt, als er den Mann mitten in der Synagoge am Sabbat geheilt hatte? Natürlich nicht! Dieser Konflikt konnte nicht vermieden werden. Die Bosheit in den Herzen der führenden Juden musste ans Licht gebracht werden. Und wie finster diese Bosheit gewesen ist! Kuschan-Rischataim, der Aramäer, der einst Israel bedrängt hatte und dessen Name «schwarze doppelte Bosheit» bedeutet (vgl. Ri 3,10), wäre glatt vor Neid erblasst, wenn er diese Bosheit miterlebt hätte. Der Herr Jesus hatte nichts anderes getan, als einem Israeliten in Not zu helfen. Doch weil Er das an einem Sabbat getan hatte, wollten die Pharisäer Ihn nun definitiv umbringen. Man kann diese Reaktion kaum verstehen.

Wenn man alle Informationen aus den vier Evangelien zusammen nimmt, kann man diese Begebenheit auf das Jahr 30 n.Chr. datieren. Bekanntlich ist der Tempel in Jerusalem genau 40 Jahre später, im Jahr 70 n.Chr., zerstört worden. In ihren eigenen Schriften haben die Juden festgehalten: «Die Rabbanan lehrten: Vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels geriet nicht das Los [für Gott] in die Rechte, wurde der rotglänzende Wollstreifen nicht weiss, brannte nicht die westliche Lampe» (Talmud, Joma, Kapitel 4, Blatt 39b). Die beiden ersten Zeichen haben mit dem grossen Versöhnungstag («Jom Kippur») zu tun: Zwei Lose mussten für zwei Böcke gezogen werden, eines «für den HERRN» und eines «für Asasel»; jenem Bock, der weggejagt werden musste, haben die Juden eine karmesinrote Schnur umgebunden. Nach ihrer Überlieferung war es ein gutes Zeichen, wenn das Los «für den HERRN» in die rechte Hand des Hohenpriesters kam. Ebenso haben sie überliefert, dass man den Widder jeweils über eine Klippe gejagt und so getötet hat. Teilweise soll die Schnur dann weiss gewesen sein, was als ein weiteres gutes Zeichen gedeutet worden ist. Wie dem auch sei, die Juden haben offensichtlich selbst bemerkt, dass sie in den 40 Jahren vor der Zerstörung des Tempels nicht mehr unter dem Segen des HERRN gestanden haben. Aber was war denn 40 Jahre vor der Zerstörung des Tempels geschehen? «Die Pharisäer aber gingen hinaus und hielten Rat gegen ihn, wie sie ihn umbringen könnten»! Wie hätte ihnen das zu denken geben müssen!

Vers 15

Als aber Jesus es erkannte, ging er von dort weg; und es folgten ihm grosse Volksmengen, und er heilte sie alle. Mt 12,15

Die Pharisäer hatten heimlich den Entschluss gefasst, den Herrn Jesus zu töten. Vor Menschen konnten sie ihre bösen Absichten verbergen, aber nicht vor Dem, der alles weiss und jedes Herz kennt. Der Herr Jesus «erkannte es», das bedeutet, Er wusste genau, was sie beschlossen hatten. Aber die Zeit war noch nicht ganz reif für eine weitere Konfrontation. Er zog sich zurück und ging von dort weg.

Der HERR weiss genau, wo Er erwünscht ist und wo nicht. Obwohl viele Menschen Ihm bestmöglich aus dem Weg gehen wollen, geht Er ihnen doch in Gnade nach. Weisen sie Ihn aber mehrfach ab, dann «geht Er von dort weg» und lässt die Menschen in Ruhe. Im ersten Moment atmen solche Menschen dann auf, als wären sie eine Last losgeworden. In Tat und Wahrheit ist ihnen aber etwas Schreckliches widerfahren! Wenn der HERR Sich von uns abwendet, wenn Er aufhört, an uns zu arbeiten, dann sind wir hoffnungslos verloren! Ohne Seine Hilfe, ohne Sein Ziehen können wir nie zu Ihm, zur Quelle des Lebens finden. Wir brauchen Ihn mehr als die Luft zum Atmen und das Wasser zum Trinken! Wir schaden uns selbst, wenn wir Ihn loswerden wollen. Wer vernünftig ist, wird alles in seiner Macht Stehende tun, um dem HERRN so nahe wie nur irgend möglich zu sein!

Die Volksmengen schienen das verstanden zu haben, aber dieser Eindruck täuschte leider, denn später sollten sie lautstark verlangen, dass Er, der HERR der Herrlichkeit, gekreuzigt würde. Was sie für einen Moment anzog, waren die Vorteile, die sie für sich gewinnen konnten, allem voran die Heilung von körperlichen Gebrechen. Der Herr Jesus war gut und recht, wenn sie gesund werden wollten, aber ansonsten stiessen sich die meisten von ihnen an Seiner Person. Und doch heilte Er alle, die so zu Ihm kamen!

Diese Heilungen waren ein deutlicher Hinweis darauf, dass der lang ersehnte Messias für Israel gekommen war und im Begriff stand, Sein Reich aufzurichten, denn für jene Zeit des Segens hatte der HERR Seinem Volk Israel volle Gesundheit und Wohlstand verheissen. Indem der Herr Jesus alle körperlichen Leiden heilte, zeigte Er, wer Er war. Schon vor Ihm hatte es Menschen gegeben, die gewisse Krankheiten hatten heilen können, aber so etwas wie bei Ihm hatten die Israeliten noch nie – auch nicht ansatzweise – erlebt. Jeder musste erkennen, dass Er in jeder Hinsicht aussergewöhnlich war. Das war so deutlich zu sehen wie nur irgend etwas.

Vers 16

Und er bedrohte sie, dass sie ihn nicht offenbar machten, Mt 12,16

Der Herr Jesus hatte schon oft viele Menschen geheilt. Diese Heilungen hatten einen wesentlichen Teil Seines Dienstes ausgemacht, wenn Er auch in erster Linie gekommen war, um das Wort Gottes zu predigen. Aus den Berichten in den Evangelien können wir ableiten, dass Er weitherum als Wunderheiler und Prediger bekannt gewesen ist. Deshalb sollte es uns einigermassen überraschen, dass es hier nun plötzlich heisst, Er habe die Leute bedroht (im griechischen Original ein sehr starkes Wort), sie sollten Ihn nicht offenbar machen. Dem Aussätzigen, von dem wir in Mt 8 lesen, hatte Er noch geboten, sich den Priestern zu zeigen, aber nun sollten die Leute nicht erzählen, was Er tat. Wieso diese Sinnesänderung?

Die Antwort auf diese Frage ist einfach, wenn wir den Rest des Kapitels 12 überfliegen und uns in Erinnerung rufen, was gerade davor geschehen war. Die religiösen Führer der Juden hatten ihre Entscheidung definitiv gefällt: Sie wollten den Herrn Jesus nicht als ihren lang ersehnten Messias-König anerkennen; sie hatten Ihn verworfen und den Beschluss gefasst, Ihn zu töten. Auf ein weiteres, sehr aussergewöhnliches Wunderzeichen hin reagierten sie nicht mit einer Sinnesänderung, sondern mit wüsten Unterstellungen wider besseres Wissen. Egal, was der Herr Jesus tat, sie hatten die Tür verschlossen. Israel hatte seinen Messias verworfen. Im vor uns liegenden Kapitel finden wir eine Reihe von Ereignissen, die das sehr deutlich zeigen. Ab dem nächsten Kapitel weht gewissermassen ein völlig anderer Wind im Matthäus-Evangelium. Israel hat sich seine Chance verspielt und wenn der Herr Jesus auch weiterhin jedem Einzelnen in Gnade begegnete, so sollte doch das Volk insgesamt nicht mehr vom Segen profitieren, der von Ihm ausging. Sein Handeln im vor uns liegenden Vers wird in den Folgeversen durch ein Zitat aus dem Alten Testament erklärt, das davon spricht, wie das Heil nicht zu den Juden, sondern zu den übrigen Nationen kommen sollte. Das ist alles sehr vielsagend!

Vers 17

damit erfüllt wurde, was durch den Propheten Jesaja geredet ist, der spricht: Mt 12,17

Wie kann etwas, das eine Reaktion auf einen Entschluss von Menschen gewesen ist, zugleich die Erfüllung einer jahrhundertealten (Jesaja hat etwa um 700 v.Chr. gelebt und gewirkt) Prophetie sein? Wenn der HERR schon lange gewusst hat, dass Sein Sohn von den Juden verworfen werden würde, haben die Juden dann noch eine echte Wahl gehabt? Kann man sie überhaupt zur Verantwortung dafür ziehen, was sie getan haben? Wenn wir Fragen wie diese beantworten wollen, stossen wir unweigerlich an die Grenzen unseres eingeschränkten (und durch die Sünde korrumpierten) Verstandes. Nach unserer begrenzten Logik kann es nur ein «Entweder – Oder» geben: Entweder hat der HERR alles vorherbestimmt oder aber die Menschen treffen freie Entscheidungen. Die Bibel zeigt uns aber immer wieder, dass es bei Gott ein «Sowohl – Als Auch» gibt. Einerseits gibt es einen göttlichen Ratschluss, der sich bis ins kleinste Detail verwirklicht, weil Gott alles nach Seinem Wohlgefallen lenkt, aber andererseits wird der Mensch als ein Wesen beschrieben, das eigenständige Entscheidungen treffen kann und dafür verantwortlich ist.

Vielleicht kann man diesen scheinbaren Widerspruch anhand der ersten zwei Kapitel des Buches Hiob etwas veranschaulichen: Der HERR hat im Sinn gehabt, Hiob durch schwere Prüfungen näher zu Sich zu führen, in eine ganz neue Beziehung zu Sich zu stellen. Das ist Sein Plan gewesen, den Er dann in die Tat umgesetzt hat. Alles, was Hiob in der Folge zugestossen ist, ist in diesem Sinne von Gott zuvorbestimmt gewesen. Aber der HERR hat Hiob nicht direkt geschädigt, sondern Er hat dazu den Satan benutzt. Ist der Satan nun gut, weil er das getan hat, was Gott von ihm wollte? Nein! Der Satan ist ein Menschenmörder von Anfang an. Wo und wann immer er die Möglichkeit hat, will er den Menschen so viel Schaden zufügen, wie es nur irgend geht. Das ist seine Natur, das ist, was er sein will. Und der HERR weiss das. Er hat genau gewusst, dass der Satan jeden Spielraum, den Er ihm einräumen würde, um Hiob zu schädigen, gnadenlos ausnützen würde, weshalb Er ihm nur einen entsprechenden Handlungsspielraum einräumen musste. Der Satan hat dann das getan, was seiner Natur entspricht – und dadurch eigentlich gegen seinen Willen auch das, was Gott für Hiob vorgesehen hatte!

In Spr 21,1 heisst es, dass das Herz eines Königs in der Hand des HERRN wie Wasserbäche ist. Wasser fliesst immer nach unten und es nimmt immer den kürzesten Weg. Das liegt in seiner Natur. Ein Junge hat seine Mutter einmal gefragt, weshalb Flüsse nicht gerade verlaufen, sondern sich durch die Gegend schlängeln. Seine Mutter hat ihm entgegnet: «Weil Wasser immer den Weg des geringsten Widerstandes wählt». So ist auch der Mensch. Er wählt in aller Regel den Weg des geringsten Widerstandes und sein Herz zieht ihn nach unten, denn «das Sinnen des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an» (1.Mose 8,21); «arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verdorben ist es; wer mag es kennen?» (Jer 17,9); «denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen» (Mt 15,19). In der Welt ist es normal, dass man sich damit nun für alles entschuldigen würde: «Ich kann nichts dafür, weil ich so gemacht bin!» Aber wissen wir nicht alle, dass wir uns immer ganz bewusst für die Dinge entscheiden, die wir tun? Wir werden nicht gegen unseren Willen gezwungen, das Böse zu tun. Wir wollen es! Es gefällt uns! Aber weshalb steht es dann nicht noch schlimmer um uns, wenn es sich so verhält? Wieso gibt es vermeintlich gute Menschen, wieso werden auch gute Dinge getan? Das hat viel mit «Schleusen» zu tun, die der HERR verwendet. Er kann den Lauf des Wassers hindern und umlenken – und das tut Er beständig! Vielleicht ist da ein Mann, den es von Zeit zu Zeit zum Ehebruch reizt. Er will das eigentlich nicht, aber immer wieder einmal kommt diese Begierde auf. Der HERR setzt einen Riegel und verhindert eine passende Gelegenheit, sodass es nie dazu kommt, dass der Mann dieser Regung nachgeben kann. Aber es gibt auch Menschen, die zeigen «müssen», was in ihren Herzen ist. Ihnen muss der HERR nur die Schleusen öffnen. Dann entscheiden sie sich selbst in voller Eigenverantwortung dafür, das Böse zu tun, während ihre Entscheidungen zugleich dazu beitragen, den Ratschluss Gottes zu erfüllen.

So ist es beispielsweise bei Judas Iskariot gewesen. Er ist keine willenlose Marionette in der Hand Gottes gewesen. Sein Herz war böse; er war ein geldgieriger Dieb ohne Skrupel. In den Jahren, die er nahe beim Herrn Jesus verbracht hat, hat er immer wieder beobachtet, wie der Herr Jesus sogar aus den brenzligsten Situationen einfach so der Hand der Menschen entkommen ist (z.B. Lk 4,29.30; Joh 8,59). Dann hörte er, dass die führenden Juden jedem, der ihnen den Herrn Jesus ausliefern würde, Geld anboten. Das war die passende Gelegenheit, die geöffnete Schleuse. Judas sagte sich wohl, dass er den Herrn Jesus ausliefern und das Geld kassieren könne, ohne jemandem zu schaden, weil der Herr Jesus ja dann doch wieder entwischen würde. Er traf in seiner vollen Eigenverantwortung den Entschluss, seinen Herrn zu verraten. Zugleich erfüllte sich damit all das, was der HERR bereits im Alten Testament über diesen schändlichen Verrat prophezeit hatte. Wieso? Weil es klar war, wie Judas handeln würde, wenn er nur die Gelegenheit dazu bekäme!

Vers 18

Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem meine Seele Wohlgefallen gefunden hat; ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Nationen Recht verkünden. Mt 12,18

Was war es nun, das der Heilige Geist durch den Propheten Jesaja bereits mehrere hundert Jahre vor der Geburt Jesu Christi angekündigt hatte? Dass Er den Nationen Recht verkünden werde. Seine Botschaft sollte sich nicht (ausschliesslich) an Israel, sondern (auch) an die übrigen Nationen richten. Seltsam! Der Messias sollte doch der Messias für Israel sein? Ja, so hat es Gott bestimmt. Aber Er wusste auch, dass Israel Seinen geliebten Sohn verwerfen würde. Und diese Verwerfung des Messias von Seinem eigenen Volk sollte die Tür zum Heil für die Nationen öffnen. «Ich sage nun: Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie fielen? Auf keinen Fall! Sondern durch ihren Fall ist den Nationen das Heil geworden, um sie zur Eifersucht zu reizen. Wenn aber ihr Fall der Reichtum der Welt ist und ihr Verlust der Reichtum der Nationen, wie viel mehr ihre Vollzahl! Denn … wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird die Annahme anderes sein als Leben aus den Toten?» (Röm 11,11–15).

Doch wer ist nun Dieser, den Israel verworfen hat? Er ist der Knecht des HERRN, gekennzeichnet dadurch, dass Er in allem den Willen des Vaters tut. Er ist der Erwählte des HERRN, der Eine unter Tausend, auf den Verlass ist. Er ist Sein Geliebter, der Gegenstand einer ewigen und unendlich tiefen Liebe. Er ist Derjenige, an dem Gott Wohlgefallen gefunden hat, der Eine, der Sein Herz erfreut, wenn Er auf Ihn blickt, wie niemand anders Sein Herz erfreuen kann. Wie wunderbar und wie einzigartig ist diese Person! Und wie unverständlich ist, dass Israel sich an Ihm gestossen hat!

Vers 19

Er wird nicht streiten noch schreien, noch wird jemand seine Stimme auf den Strassen hören; Mt 12,19

Hat uns das Jesaja-Zitat in Vers 18 die Antwort auf die Frage geliefert, wer Dieser ist, den Israel verworfen hat, zeigt uns das Zitat in Vers 19, wie Dieser ist. Man könnte ja sagen, dass Israel ausgehend von den Prophezeiungen im Alten Testament über den Messias eine ganz andere Persönlichkeit erwartet habe, einen mächtigen Kämpfer mit Donnerstimme oder was auch immer, und dass es sich dann daran gestossen habe, dass der Herr Jesus so anders als erwartet gewesen ist. Tatsächlich gibt es aber viele Stellen im Alten Testament, die über die Sanftmut und die Demut des Messias sprechen, unter anderem eben auch dieses Zitat aus dem Buch Jesaja. Hier ist der Messias als jemand angekündigt worden, der keinen grossen Wirbel veranstaltet, der nicht streitet, nicht schreit und nicht mit lauten Parolen durch die Strassen zieht. Er ist angekündigt worden als ein Messias nicht nach den Vorstellungen der Juden, sondern nach den Gedanken Gottes.

Und zeigt nicht bereits das Alte Testament an unzähligen Stellen, dass man dem HERRN viel eher in der Stille und in der Zweisamkeit als in einer tosenden Menge begegnet? Der Prophet Elia musste sich beispielsweise ganz allein aufmachen und vierzig Tage durch die Wüste ziehen, um Gott zu begegnen. Als es soweit war, war der HERR weder im Feuer noch im Erdbeben oder im Gewitter zu finden. Er sprach durch das Säuseln eines leisen Windes zu Elia. Wie vielsagend!

Der Herr Jesus hat immer klar und deutlich gesprochen. Er hat nicht um den heissen Brei herum geredet und Er hat Seine Botschaft nicht in schwer verständliche Floskeln verpackt. Aber Er hat in der Stille, aus der Stille zu den Menschen geredet. Wer hören wollte, konnte die Wahrheit problemlos hören und verstehen. Aber die Botschaft wurde niemandem aufgezwungen. Wer nicht genau hinhören wollte, «überhörte» sie.

Vers 20

ein geknicktes Rohr wird er nicht zerbrechen, und einen glimmenden Docht wird er nicht auslöschen, bis er das Recht hinausführe zum Sieg; Mt 12,20

Hier haben wir eine der schönsten Beschreibungen über die Sanftmut des Messias Jesus vor uns. Wir löschen einen glimmenden Docht, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was wir da gerade tun. Wir brechen ein geknicktes Rohr gedankenlos ab. Und wir geben Menschen auf, die nicht richtig auf die Beine zu kommen scheinen, weil es uns irgendwann zu bunt wird. Wir bewundern Menschen, die aufrecht stehen, die erhobenen Hauptes über diese Erde ziehen und die Feuer und Flamme für eine Sache sind. Aber Menschen, deren Lebenswille gebrochen ist, die von allen verachtet sind, die bestensfalls noch ein bisschen glimmen, aber ganz sicher nicht mehr brennen, verachten wir. Mit ihnen wollen wir uns nicht abgeben. Nicht so der Herr Jesus! Gerade für solche Menschen interessiert Er Sich ganz besonders! Gerade diese Menschen liegen Ihm am Herzen! Er löscht den glimmenden Docht nicht aus, sondern umsorgt diesen letzten Überrest einer Flamme, bis diese erneut wieder aufleuchtet. Er bricht das geknickte Rohr nicht ab, sondern richtet es wieder auf, verbindet es und umsorgt es, bis es wieder zusammengewachsen und heil ist.

Gott schreibt nicht Geschichte mit starken Männern oder Frauen. Gott kümmert sich um das Schwächste und überwindet das Starke in der Welt mit jenen, die schwach sind. Es gibt keine starken Männer und Frauen Gottes, sondern nur einen starken Gott, der Männer und Frauen nach Seinem Wohlgefallen gebraucht. Das Recht wird einst zum Sieg hinausgeführt werden. Dann werden die einst geknickten Rohre aufrecht stehen und die einst nur noch glimmenden Dochte hell leuchten.

Bist Du schwach? Liegst Du am Boden? Bist Du ganz unten angekommen? Würdest Du am liebsten mit dem Leben abschliessen und alles hinter Dir lassen, alles vergessen? Bist Du so ein geknicktes Rohr? Bist Du nur noch ein glimmender Docht, ein Schatten Deiner Selbst? Dann wende Dich an den Herrn Jesus! Lass Ihn Dich wieder heil machen! Es ist geradezu Seine Leidenschaft, Sich mit aller nur erdenklichen Sorge um jene zu kümmern, die ganz schwach sind!

Vers 21

und auf seinen Namen werden die Nationen hoffen. Mt 12,21

Hier haben wir nun nochmals eine sehr deutliche alttestamentliche Prophezeiung vor uns, die besagt, dass nicht allein Israel, sondern auch die übrigen Nationen ihre Hoffnung auf den Namen des Messias, auf den Namen des Herrn Jesus Christus, setzen werden. Ja, Gott hatte das Volk Israel besonders erwählt, aber das bedeutet nicht, dass Er die übrigen Nationen verworfen hätte. Sein Wunsch ist es schon immer gewesen, alle Menschen zu retten (vgl. 1.Tim 2,4; 2.Petr 3,9). Der eine Mittler zwischen Ihm und den Menschen (1.Tim 2,5) sollte ein Mittler für alle Menschen sein, wenn auch in besonderer Weise für Israel. Seine Beziehung zu Israel verpflichtete Ihn gewissermassen, Sich zuerst exklusiv um Israel zu kümmern, wie die Begebenheit mit der syro-phönizischen Frau in Mt 15 zeigt, mit der wir uns – so Gott will und wir leben – noch beschäftigen werden. Aber da Israel Ihn abgelehnt hat, ist Er gewissermassen frei geworden, das Heil zu den übrigen Nationen zu bringen. Wie wir bereits gesehen haben, ist die Tür zum Heil für die Nationen durch das Straucheln Israels aufgestossen worden. Wie wundersam sind doch die Wege Gottes!

Vers 22

Dann wurde ein Besessener zu ihm gebracht, blind und stumm; und er heilte ihn, sodass der Stumme redete und sah. Mt 12,22

Obwohl der Herr Jesus begonnen hatte, mehr im Verborgenen zu wirken, strömten nach wie vor viele Leute zu Ihm, um sich heilen zu lassen. Dabei trauten sie Ihm nicht nur zu, «einfache» Gebrechen zu heilen, sondern sie glaubten offensichtlich auch, dass Er selbst die schwersten Fälle bewältigen könne. Auch die jüdischen Rabbiner hatten teilweise erfolgreich Besessene befreit. Sie waren aber, wie man in ihren Schriften nachlesen kann, darauf angewiesen, den Namen des Dämons zu kennen, denn sobald sie den Namen kannten, hatten sie eine gewisse Autorität. Doch wie will ein stummer Besessener den Namen des Dämons verraten, der ihn beherrscht? Na gut, könnte man sagen, er kann seinen Namen ja auf eine Tafel schreiben. Aber nicht, wenn er auch noch blind ist! Hier war also ein Besessener vor dem Herrn Jesus, der auf keinen Fall den Namen des Dämons verraten konnte. Die jüdischen Rabbiner hätten den Fall an diesem Punkt als hoffnungslos abgeschrieben.

Das ist ein wichtiger Punkt, wie wir in den folgenden Versen sehen werden, denn der Herr Jesus vollbrachte hier eine Heilung, die menschlich gesehen genauso unmöglich war wie die Reinigung von Aussatz. Diese eine Heilung, die Er hier – scheinbar völlig problemlos – vollbrachte, war der offenkundige Beweis dafür, dass Er unvergleichlich mächtig war! Nun hatten die Rabbiner in ihren Schriften wiederholt festgehalten, dass sie dieses oder jenes nicht tun könnten, dass aber einmal der ersehnte Messias kommen werde und dass Er fähig sei, das zu bewirken, was sie nicht konnten. Ihre Schriften sind voll von Aussagen darüber, was der Messias alles kann. Und der Herr Jesus hat fast alles davon getan. Fast und nicht ganz, weil Er sich beispielsweise nicht von der Zinne des Tempels gestürzt hat, was nach den Überlieferungen der Juden ein weiteres Zeichen gewesen wäre.

Vers 23

Und es erstaunten die ganzen Volksmengen und sagten: Dieser ist doch nicht etwa der Sohn Davids? Mt 12,23

Die einfachen Menschen aus Israel erkannten, wie gewaltig das gewesen ist, was der Herr Jesus gerade getan hatte. Sie, von denen die religiösen Führer sagten, sie seien verflucht, weil sie das Wort Gottes nicht kennen würden (Joh 7,49), hatten den Durchblick und verstanden, dass nur der Messias selbst ein solches Wunder vollbringen konnte. Folgerichtig stellten sie die Frage, ob der Herr Jesus der Sohn Davids sei – einer der bekanntesten Titel des Messias.

Wir trauen unseren Mitmenschen leider oft zu wenig zu. Die römisch-katholische Kirche hat ein System etabliert, in dem nur einige Wenige etwas zu melden haben, während die Übrigen zu stillen Konsumenten degradiert worden sind. Stellen wir uns einmal vor, ein Gläubiger würde sich mitten in der Messe von seiner Kirchenbank erheben und das Wort Gottes weitergeben! Das wäre ein Skandal! Die evangelisch-reformierte Landeskirche hat dieses System leider praktisch unverändert übernommen. Auch in den meisten Freikirchen finden wir ähnliche Ordnungen. Aber selbst in jenen wenigen Gemeinschaften, in denen die Wahrheit des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen hochgehalten wird, sind teilweise Ansichten vorzufinden, die zeigen, dass man den Nächsten nicht sehr viel zutraut. Manchmal werden zum Beispiel solche, die irgendwelchen Verführern nachlaufen, als blosse Opfer angesehen, als eine leichte Beute für Verführer. In Tat und Wahrheit trifft aber jeden Verführten eine Mitverantwortung, denn der HERR hat uns durchaus das gegeben, was es braucht, um die Wahrheit von der Lüge unterscheiden zu können. Wir sollten nicht – ob verächtlich oder mitleidig – auf die «einfachen» Christen herabschauen.

Vers 24

Die Pharisäer aber sagten, als sie es hörten: Dieser treibt die Dämonen nicht anders aus als durch den Beelzebul, den Obersten der Dämonen. Mt 12,24

Die Pharisäer gerieten durch das, was sie gesehen und gehört hatten, in arge Bedrängnis, denn nach all dem, was der Herr Jesus getan hatte, liess sich beim besten Willen nicht mehr leugnen, dass Er der in den Schriften des Alten Testamentes verheissene Messias gewesen ist. Sogar die Volksmengen hatten es nun klar und deutlich erkannt! Man sagt, dass der Herr Jesus in der Zeit, in der Er als Mensch hier auf der Erde gelebt hat, etwa 300 Prophezeiungen über Seine Person erfüllt hat. Bereits an diesem Punkt Seines Lebens, über den Mt 12 berichtet, müssen wohl mindestens an die 100 Prophezeiungen erfüllt gewesen sein. Wer auch immer das Alte Testament kannte, musste das zugeben. Und die Pharisäer kannten die Schriften nur zu gut! Unter ihnen gab es solche, die das ganze Alte Testament auswendig kannten; die meisten von ihnen kannten die Schriften aber jedenfalls weitaus besser, als die meisten (echt gläubigen) Christen ihre Bibel heute kennen.

Wie sollten die Pharisäer nun auf diese Tatsachen reagieren? Jetzt standen sie vor der Entscheidung: Sie wussten ganz genau, was Sache war; würden sie die Wahrheit anerkennen oder leugnen? Es ist wichtig, dass wir verstehen, an welchem Punkt sich diese Menschen damals befunden haben. Sie waren von der Wahrheit überführt worden und sie mussten nun Stellung dazu nehmen. Das war keine Frage der Erkenntnis, keine Frage des Wissens, sondern eine Frage des Willens, eine Frage des Gewissens, eine Frage des Herzens.

Wenn wir uns das alles so vor Augen führen, dann muss es uns zutiefst erschrecken, wie die Pharisäer reagiert haben! Sie haben die offenbarte Wahrheit geleugnet und die für alle sichtbare Kraft, die gewirkt hatte, dem Obersten der Dämonen, also dem Teufel selbst, zugeschrieben! Sie wussten ganz genau, dass das nicht stimmte, dass dies eine freche Lüge war, aber ihr Hass gegen den Herrn Jesus trieb sie so weit, dass sie sogar zu solchen Mitteln griffen. Da zeigten sie klar und deutlich, was sie von Ihm und damit auch von Gott selbst gehalten haben. Kann es für solche Menschen noch eine Entschuldigung geben?

Der Name des Dämons, den sie hier angeführt haben, geht auf eine Gottheit der Kanaaniter zurück: Baal-Sebub (oder: Baal-Sevuv), den Herrn der Fliegen, dem man besondere Heilkräfte zugeschrieben hat (vgl. 2.Kön 1). Die Juden mussten durch die Zerstörung von Jerusalem und die Wegführung nach Babel auf schmerzliche Weise lernen, sich von solchen Götzen fern zu halten. Nach ihrer Rückkehr aus Babel haben sie den Götzendienst gemieden. Den Namen des Baal-Sebub (griechisch später Beelzebub) haben sie «verhunzt», indem sie ihn Baal-Sebul (oder: Baal-Sevul) genannt haben, den Herrn des Mistes. Daraus ist dann das griechische Wort Beelzebul entstanden. Den Pharisäern genügte es also nicht, den Herrn Jesus als von einem Dämon besessen zu bezeichnen, sie mussten auch den in ihren Augen lächerlichsten Dämonennamen wählen, der ihnen einfiel. Mit jeder Silbe haben sie ihrer Verachtung also Ausdruck verliehen.

Vers 25

Da er aber ihre Gedanken wusste, sprach er zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst entzweit ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, die mit sich selbst entzweit sind, werden nicht bestehen. Mt 12,25

Der Herr Jesus hätte den Pharisäern direkt entgegnen können, wie gross die Bosheit gewesen ist, die sie mit ihrer Behauptung an den Tag gelegt haben. Er hätte ihnen in drastischen Worten aufzeigen können, wie himmelschreiend gross das Unrecht gewesen ist, das sie Ihm angetan haben. Er hätte ihnen erklären können, dass sie sich gerade selbst vom Heil ausgeschlossen hatten. In Seiner unvergleichlichen Langmut und Geduld hat Er nichts davon getan, sondern vielmehr damit begonnen, den Pharisäern aufzuzeigen, dass ihre Annahme haltlos und unlogisch gewesen ist. Er hat sich also auf eine sachliche Diskussion eingelassen, obwohl die Behauptung, die Anlass zu dieser Diskussion gegeben hat, völlig daneben gewesen ist. Wer von uns hätte so reagiert?

Die Pharisäer haben behauptet, der Herr Jesus treibe die Dämonen durch einen noch mächtigeren Dämon, ja den Obersten der Dämonen aus. Mit dieser Behauptung haben sie unterstellt, dass die Dämonen gegeneinander kämpfen würden. Wäre das wahr, wären die Dämonen untereinander entzweit; es würde eine Art Bürgerkrieg im Reich der Dämonen herrschen. Wir wissen aber alle, dass ein Land oder auch eine Stadt – ja, selbst eine Familie – im «Bürgerkrieg» geschwächt und schlimmstenfalls sogar handlungsunfähig ist. Nur ein Land, eine Stadt oder eine Familie, in dem oder in der man zusammenhält und untereinander Frieden hat, ist stark und kann etwas erreichen.

Vers 26

Und wenn der Satan den Satan austreibt, so ist er mit sich selbst entzweit. Wie wird denn sein Reich bestehen? Mt 12,26

Ein Reich, in dem Zwietracht herrscht, das innerlich gespalten ist, kann nicht bestehen. Alexander der Grosse hat eines der grössten Weltreiche beherrscht, das die Welt je gesehen hat. Nach seinem überraschenden und frühen Tod entfesselte sich ein Streit um die Nachfolge. Am Ende zerfiel das Reich in vier Teilreiche, die von je einem General beherrscht wurden, die davor unter Alexander gedient hatten: «Und ein tapferer König wird aufstehen, und er wird mit grosser Macht herrschen und nach seinem Belieben handeln. Aber sobald er aufgetreten ist, wird sein Königreich zertrümmert und nach den vier Winden des Himmels hin zerteilt werden. Doch nicht für seine Nachkommenschaft wird es sein und nicht der Macht entsprechend, mit der er geherrscht hat; denn sein Königreich wird zerstört und anderen zuteilwerden, unter Ausschluss von jenen» (Dan 11,3.4). Viele andere Beispiele in der Geschichte bestätigen diese Wahrheit.

Wenn ein Dämon einem anderen Dämon dessen «Beute» streitig gemacht hätte, wenn der Satan seinen Dienern ins Handwerk gepfuscht hätte, wenn also auch sein Reich zerstritten gewesen wäre, hätte es keinen Bestand haben können. Die Behauptung der Pharisäer muss also offensichtlich haltlos gewesen sein. Aus den wenigen Hinweisen, die die Bibel zu diesem Thema enthält, müssen wir folgern, dass das Königreich des Satans streng hierarchisch organisiert ist. Er selbst thront als König über alle anderen Dämonen. Unter ihm gibt es aber weitere Engelsfürsten, die wohl besonders mächtig sind und deshalb ganze Länder beherrschen. Daneben gibt es aber auch «normale» Dämonen, die einzelne Menschen in Besitz nehmen, womit mindestens drei Hierarchiestufen bestehen. Alles folgt dabei letztlich den Befehlen des Satans. Sein Reich ist nicht entzweit oder zerstritten, sondern strikt geführt. Gerade deshalb ist es auch so mächtig!

Vers 27

Und wenn ich durch Beelzebul die Dämonen austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Mt 12,27

Hier folgt nun ein zweites gewichtiges Argument: Auch die Juden trieben teilweise mit Erfolg Dämonen aus. Wenn aber nur Dämonen Dämonen austreiben können, mussten auch die von den Juden durchgeführten Exorzismen durch eine dämonische Kraft bewirkt worden sein. So etwas hätte kein Pharisäer behauptet! Im Gegenteil sah man es als unbedingt notwendig an, dass ein Exorzismus durch einen besonders frommen Mann oder sogar durch zehn besonders fromme Männer (sog. Minjan) durchgeführt wurde.

Im Gericht über die Pharisäer werden jene Juden, die erfolgreich Dämonen ausgetrieben haben, als deren Richter auftreten. Sie werden den Pharisäern den Vorwurf machen, den Herrn Jesus wider besseres Wissen beschuldigt zu haben, und erklären, dass ja auch sie selbst Dämonen ausgetrieben hätten. Das wird eine schwere Anschuldigung sein, die von den Pharisäern nicht vom Tisch gewischt werden kann.

Vers 28

Wenn ich aber durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen. Mt 12,28

Mit den beiden vorgebrachten Argumenten (das Reich des Satans ist nicht entzweit; auch die Pharisäer treiben Dämonen aus) ist die Behauptung der Pharisäer so eindeutig widerlegt gewesen, dass der Herr Jesus die logische Schlussfolgerung nicht einmal mehr ausdrücklich hat nennen müssen: Das von Ihm gewirkte Wunder ist vom Geist Gottes gewirkt gewesen. In der geistlichen Welt gibt es nur zwei Lager – das Lager des Satans und das Lager Gottes. Es gibt kein drittes Lager und auch keine «Freischärler», die weder zu diesem noch zu jenem Lager gehören. Wenn eine geistliche Macht tätig ist, ist es das Lager Gottes oder das Lager des Satans. Wenn der Satan hier an dieser Heilung nicht hat beteiligt sein können, muss Gott die Heilung bewirkt haben.

Wenn nun aber Gott ein Wunder gewirkt hat, das die Volksmengen in helle Aufregung versetzt hat, weil so etwas noch nie davor geschehen war, dann hat sich die Macht Gottes in einer ganz neuen Dimension gezeigt. Also muss etwas Neues angebrochen sein. Bedenken wir, dass Juden in erster Linie durch Zeichen überzeugt werden (1.Kor 1,22). Solche Zeichen waren geschehen, und zwar in einer aussergewöhnlichen Qualität und Menge. Das lang ersehnte messianische Königreich Gottes war nahe gekommen. Sie hätten es sehen und erkennen müssen, aber sie wollten nicht.

Vers 29

Oder wie kann jemand in das Haus des Starken eindringen und seinen Hausrat rauben, wenn er nicht vorher den Starken bindet? Und dann wird er sein Haus berauben. Mt 12,29

Der Herr Jesus ist gekommen, «damit er die Werke des Teufels vernichte» (1.Joh 3,8). Der Teufel hat sich die Menschheit «durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen» (Hebr 2,15), das heisst er herrscht über die Menschen, wobei er den Tod respektive unsere Angst vor dem Tod als Waffe benutzt, mit der er uns gefügig macht. Der Teufel ist der Starke; die Welt ist sein Haus und wir gehören ihm als sein Hausrat. Er ist der Fürst dieser Welt (Joh 12,31) und er ist der Gott dieser Welt (2.Kor 4,4). Doch nun war der Herr Jesus gekommen! Er hat den Starken gebunden; Er ist «der Stärkere» (Lk 11,22). Wie einst David den Goliath, so hat der Herr Jesus den Teufel mit dessen eigenem Schwert – dem Tod – getötet (Hebr 2,14). Dann hat Er ihn «beraubt», ihm seine Beute abgenommen, Menschen befreit. Die Pharisäer sind Augenzeugen davon geworden, aber sie haben diese Freiheit nicht für sich gewollt, sondern sich geradezu gesträubt, der Hand des Starken entrissen zu werden. Wie tragisch!

Vers 30

Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut. Mt 12,30

So, wie es in der geistlichen Welt nur zwei Lager gibt, so gibt es in einem gewissen Sinn auch auf der Erde nur zwei Lager: Ein Mensch kann entweder mit dem Herrn Jesus oder gegen Ihn sein. Da gibt es keine Neutralität. Natürlich richtet sich die Aussage des HERRN hier in erster Linie an Israel, wobei die Aufforderung lautet, Ihn als den lang verheissenen Messias zu anerkennen. Aber der Herr Jesus ist mehr als der Messias für Israel gewesen, wie wir später in diesem Evangelium noch lesen werden. Er ist die letzte und grösste Offenbarung Gottes gewesen. Wir können uns das so vorstellen, wie wenn Gott den Menschen gesagt hätte: Seht her, so bin Ich! Man könnte sagen, dass die Menschen noch eine gewisse Entschuldigung hatten, solange Gott sich nicht in dieser Weise offenbart hatte, aber «nachdem nun Gott die Zeiten der Unwissenheit übersehen hat, gebietet er jetzt den Menschen, dass sie alle überall Busse tun sollen» (Apg 17,30). Jetzt kann niemand mehr behaupten, er könne Gott nicht kennen, denn Er hat sich im Herrn Jesus gezeigt. Jeder muss nun eine Entscheidung treffen!

Viele Menschen behaupten heute, dass sie an Gott glauben, und viele Menschen behaupten, dass sie eine positive Haltung zu Jesus Christus haben. Aber wenn wir nachfragen, stellen wir leider oft fest, dass sich die Menschen ihr eigenes Gottesbild und ihr eigenes Bild von Jesus Christus gebastelt haben. Sie haben sich bei verschiedenen Religionen und Philosophien bedient, von allem das genommen, was ihnen zugesagt hat, und daraus dann etwas ganz Eigenes gebastelt. Das Fachwort dafür heisst Synkretismus, was nichts anderes als «religiöser Mischmasch» bedeutet. Aber Gott fordert uns nicht auf, uns etwas Eigenes zu basteln, sondern dazu, ein Ja zu Ihm und zu Seinem Sohn zu haben – so, wie Er wirklich ist. Entweder glauben wir an den Herrn Jesus, wie Er uns in der Bibel vorgestellt wird, oder aber wir glauben etwas anderes. Entweder sind wir mit Ihm oder aber wir sind gegen Ihn. Es gibt keine dritte Möglichkeit.

Das Tragische ist, dass wir von Natur aus alle gegen Ihn sind, so wie wir gegen Gott sind. Wenn ein Mensch fragen würde, was er tun müsse, um – nicht in den Himmel, sondern – in die Hölle zu kommen, wäre die Antwort: «Gar nichts!» Wir sind schon alle dorthin unterwegs, weil wir alle ohne Gott in der Welt leben. Wir bewegen uns von Natur aus in der Finsternis. Aber da hat ein Licht aufgestrahlt und noch strahlt es inmitten dieses Schauplatzes der Sünde und des Elendes. Wer zu diesem Licht kommt, wer die ausgestreckte Hand Gottes im Glauben ergreift, der wird errettet, der wechselt das Lager. Es gibt keine Neutralität. Man muss zum Licht kommen oder man bleibt verloren. «Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm» (Joh 3,36).

Vers 31

Deshalb sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden; aber die Lästerung des Geistes wird nicht vergeben werden. Mt 12,31

Hier folgt ein hartes Wort, das schon vielen Gläubigen schwer zu schaffen gemacht hat. Man konzentriert sich oft auf den zweiten Versteil, aber wir wollen uns mit dem ganzen Wort Gottes beschäftigen und auch den ersten Versteil berücksichtigen. Dieser enthält nämlich einen grossen, überaus tröstlichen Grundsatz, von dem es nur eine einzige Ausnahme gibt, die dann im zweiten Versteil angeführt wird. Der Grundsatz ist: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden. Das bedeutet nicht, dass Gott automatisch allen alles vergibt, sondern vielmehr, dass jede Sünde und jede Lästerung vergeben werden kann. Du kannst so schwer gesündigt haben, wie es nur geht, aber wenn Du Busse tust, wird Gott Dir vergeben! Ist das nicht eine grossartige Aussage? Der Herr Jesus ist für alle Sünden gestorben, was bedeutet, dass Sein Blut ausreicht, um allen Menschen alles zu vergeben. Wenn nur alle Menschen wollten, könnte und würde Gott allen alles vergeben! So gross ist das Werk unseres geliebten Herrn am Kreuz!

Doch es gibt eine Einschränkung, eine Ausnahme. Die Lästerung des Geistes wird nicht vergeben werden. O, wie viele Christen haben sich schon gefragt, ob sie nicht etwa diese Sünde begangen hätten! Wie viele liebe Geschwister haben sich schon selbst mit dunklen Gedanken gequält! Dabei ist doch so klar, was der Herr Jesus damit wirklich gemeint hat! Wir wollen uns der Kernaussage Schritt für Schritt nähern und dabei gleich einige Prinzipien der Bibelauslegung besser kennenlernen.

Zuerst haben wir hier eine Aussage vor uns, nämlich: Es gibt eine Sache, die den Menschen nicht vergeben werden kann, nämlich die Lästerung des Heiligen Geistes. Der Sinn der Stelle dürfte klar sein, aber es stellt sich die Frage, was die Lästerung des Geistes ist. Eine Lästerung ist in erster Linie eine wüste, beleidigende, beschmutzende Aussage. Aber nicht jedes verkehrte und unangemessene Wort ist auch eine Lästerung. Die Lästerung ist gekennzeichnet durch eine besondere Frechheit. Wer in Israel den Namen des HERRN lästerte, musste gesteinigt werden (3.Mose 24,16). Das zeigt, dass nur besonderes freche, besonders dreiste Aussagen eine Lästerung sein konnten. Die Frechheit dieser Aussagen war so gross, dass man des Todes würdig war. Nun gibt es eine Stelle, in der von einer Lästerung ohne Worte die Rede ist: «Aber die Person, die mit erhobener Hand handelt, von den Einheimischen und von den Fremden, die lästert den HERRN; und diese Person soll ausgerottet werden aus der Mitte ihres Volkes» (4.Mose 15,30). Als eine Lästerung wird hier eine Handlung bezeichnet. Wieso? Weil diese Handlung besonders frech, nämlich mit erhobener Hand, ausgeführt wird, was nichts anderes bedeutet als vorsätzlich, also mit Wissen und Willen: Man weiss ganz genau, dass man etwas Verkehrtes tut, aber man will es trotzdem tun. Die Lästerung des Heiligen Geistes muss also etwas sein, das sich mit einer besonderen Frechheit, vorsätzlich gegen den Heiligen Geist richtet.

Jetzt ziehen wir den Kontext, den Textzusammenhang, zu Rate. Der enge Kontext ist: Jede Sünde und Lästerung kann vergeben werden, ausser die Lästerung des Heiligen Geistes. Ein Seitensprung kann vergeben werden. Fortgesetzter Ehebruch kann vergeben werden. Mord kann vergeben werden. Folter kann vergeben werden. Menschenhandel kann vergeben werden. Vergewaltigung kann vergeben werden. Die allerschlimmsten Dinge, die wir uns nur ausdenken können, können vergeben werden. Aber diese eine Sache kann nicht vergeben werden. Das macht deutlich, dass es hier um etwas sehr Drastisches, etwas wirklich extrem Schlimmes gehen muss. Der etwas weitere Kontext bringt weiteres Licht in die Angelegenheit: Wir lesen hier in Mt 12 nirgends etwas über den Heiligen Geist als nur hier. Ist das nicht seltsam? Nun, was hatte denn den Anlass zu dieser Aussage des Herrn Jesus gegeben? Der Herr Jesus hatte ein aussergewöhnliches Wunder vollbracht, das Ihn eindeutig und für alle klar verständlich als den Messias für Israel ausgewiesen hatte, aber die Pharisäer hatten wider besseres Wissen behauptet, die wirksame Kraft sei die Kraft des Teufels gewesen! Sie hatten also den Heiligen Geist gelästert, indem sie Sein Wirken einer anderen Quelle zugeordnet hatten, obwohl sie ganz genau wussten, was gerade geschehen war! Der Heilige Geist hatte sich ihnen gewissermassen durch dieses Wunder gezeigt, Er hatte sie überführt – ja, Er hatte sie erleuchtet, d.h. Sein Licht in ihre Herzen scheinen lassen! In diesem einen Moment war für sie alles sonnenklar gewesen, weil der Heilige Geist sie in die Wahrheit geführt hatte. Dieses Wirken des Geistes war so stark gewesen, dass sie eigentlich nichts anderes hätten tun können, als ihren erbitterten Widerstand gegen Gott und Seinen Messias aufzugeben und um Vergebung zu bitten. Die Tür zum Heil war ihnen weit geöffnet worden, aber sie schlugen sie mit einer unerhörten Frechheit zu, denn sie wollten nicht gerettet werden – nicht so!

Gehen wir bei der Auslegung der Stelle nochmals einen Schritt zurück! Wir haben hier eine Aussage, die wir nicht ganz verstehen. Aber wir kennen das Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift. Wir wissen aus unzähligen anderen, für uns besser verständlichen Stellen, dass jeder Mensch hoffnungslos verdorben und verloren ist. Kein Mensch kann sich selber retten. Es gibt nichts, das wir tun müssten, um verloren zu gehen, weil wir alle bereits auf dem Weg ins Verderben sind, und es gibt nichts, das wir tun könnten, um uns vor dem Verderben zu retten. Doch die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen. Was wir nicht schaffen können, hat Er getan. Dank des grossen Werkes, das der Herr Jesus am Kreuz auf Golgatha vollbracht hat, kann Gott jedem einzelnen Menschen eine vollständige Vergebung anbieten – ganz egal, was der Mensch alles getan hat. Wer die zur Rettung ausgestreckte Hand Gottes ergreift, wird errettet werden, ohne Wenn und Aber. Fassen wir zusammen: In Bezug auf das ewige Heil sind die Taten eines Menschen ohne Bedeutung, denn wir gehen ins Verderben für das, was wir sind, nicht für das, was wir tun, und wir werden errettet durch Gnade, nicht durch Taten. Unsere ganze Verantwortung beschränkt sich darauf, dass wir in jenen Momenten, in denen Gott uns die Wahrheit klar vor Augen führt, in denen der Heilige Geist uns erleuchtet, Seinem Wirken nachgeben müssen. Tun wir das, geben wir unseren Widerstand gegen Gott auf und werden errettet. Tun wir es nicht, verschliessen wir uns die Tür zum Heil. Und genau darum geht es hier! Der Heilige Geist wird gelästert, wenn Er uns zu Gott zieht, wir uns aber ganz bewusst und mit einer entschiedenen Frechheit weigern, diesem Ziehen nachzugeben.

Aber wieso kann das nicht vergeben werden? Die Antwort ist nun einfach: Weil dies der einzige Weg zur Rettung ist! Wir können nur aus Gnade und nur durch Glauben errettet werden (sola gratia; sola fide). Die Gnade wird für uns persönlich genau dann wirksam, wenn der Heilige Geist uns in das göttliche Licht stellt und uns zu Gott zieht; in diesem Moment haben wir auch die Kraft und die Möglichkeit, die Rettung durch Glauben anzunehmen. Wenn wir uns diesem Wirken widersetzen und uns weigern, verschliessen wir uns selbst die Tür zum Heil. Wir finden keine Vergebung und wir werden die Vergebung und die Errettung auch auf keinem anderen Weg finden, weil es keinen anderen Weg gibt.

Vers 32

Und wenn jemand ein Wort reden wird gegen den Sohn des Menschen, dem wird vergeben werden; wenn aber jemand gegen den Heiligen Geist reden wird, dem wird nicht vergeben werden, weder in diesem Zeitalter noch in dem zukünftigen. Mt 12,32

Wie tröstlich ist dieses Wort, wenn wir es mit dem vorangegangenen Vers verknüpfen! Wie viele von uns haben den Namen des Herrn Jesus verunglimpft und in den Schmutz gezogen, bevor wir uns bekehrt haben! Alles das kann vergeben werden – wenn wir uns nicht gegen das Wirken des Heiligen Geistes an unseren Gewissen und Herzen sträuben.

Doch der Herr Jesus hat die ernsten Folgen einer Weigerung gegen das Wirken des Heiligen Geistes nochmals deutlich betont: Eine solche Haltung schliesst die Vergebung aus, und zwar sowohl in diesem Zeitalter als auch im zukünftigen. Was ist damit gemeint? Für die Juden ist dieser Ausdruck wohlbekannt gewesen, da sie selbst viel über dieses und das zukünftige Zeitalter gesprochen und geschrieben haben; das war und ist ein feststehender Ausdruck im Judentum. Dieses Zeitalter ist die Zeit, in der wir jetzt leben; das zukünftige Zeitalter ist das messianische Friedensreich. Indem die Juden damals das offenbare Wirken des Heiligen Geistes wider besseres Wissen geleugnet haben, haben sie sich selbst das Gerichtsurteil gesprochen. Hierbei müssen wir eher an das Kollektiv und nicht an das Individuum denken, also an die Nation als solches und nicht an die einzelnen Israeliten. Die allgemeine Haltung des Volkes Israel gegenüber dem Herrn Jesus ist so gewesen, dass Er Sich abwenden und die Nation für eine Zeit – genauer: für den Rest dieses Zeitalters – beiseite setzen musste. Für sie brach nicht der neue Morgen ohne Wolken bzw. das messianische Friedensreich an, sondern der Tag des Gerichtes. Der erste heftige Schlag sollte 40 Jahre später mit der Zerstörung von Jerusalem erfolgen. Für die Nation Israel wird es zwar eine Wende geben, denn der HERR wird Seine Verheissungen erfüllen. Das zukünftige Zeitalter wird einmal anbrechen, aber jene Israeliten, jene Generation, die den Herrn Jesus damals verworfen hat, wird nicht an der ersten Auferstehung teilhaben und nicht in den Genuss der Segnungen des messianischen Friedensreiches kommen. In diesem Sinne wird es für sie auch keine Vergebung im zukünftigen Zeitalter geben.

Diese Aussage kann aber auch auf die übrigen Menschen übertragen werden. Wer sich vom Heiligen Geist nicht zur Bekehrung führen lässt, der wird nicht an der ersten Auferstehung, der Auferstehung des Lebens, teilhaben und das Tausendjährige Friedensreich nicht geniessen können. Ein solcher Mensch wird jetzt in diesem Zeitalter ohne Vergebung sterben. Er hat nur noch das unerbittliche Gericht Gottes und die anschliessende Verdammnis zu erwarten. Im Buch Hiob heisst es zwar, dass der HERR zwei-, dreimal am Herzen eines Menschen arbeitet, um ihn zur Bekehrung zu führen, aber damit darf nicht spekuliert werden. Jedes Mal, wenn Er uns zu Sich zieht, wenn Er durch den Heiligen Geist unsere Herzen erleuchtet, könnte es das letzte Mal sein, dass wir diese Chance erhalten. Wenn wir uns dann sträuben und uns Ihm widersetzen, könnte es sein, dass wir die Tür zum Heil zum letzten Mal zugeschlagen haben und dass Er selbst den Riegel schiebt, sodass wir uns zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr bekehren können. Das ist überaus ernst! Wenn wir heute Seine Stimme hören, sollen wir keinesfalls unsere Herzen verhärten!

Vers 33

Entweder macht den Baum gut, dann ist seine Frucht gut, oder macht den Baum faul, dann ist seine Frucht faul; denn an der Frucht wird der Baum erkannt. Mt 12,33

Der Herr Jesus musste den Pharisäern und den Schriftgelehrten wiederholt aufzeigen, dass das, was sie taten und sagten, verkehrt und böse war. Aber damit wollte Er nicht erreichen, dass sie ihr Verhalten änderten oder sich besserten. Vielmehr wollte Er ihnen damit aufzeigen, wie böse sie eigentlich in ihren Herzen waren. Wir können das mit einer Krankheit vergleichen. Wenn jemand plötzlich hohes Fieber hat, dann wissen wir, dass diese Person krank ist. Das Fieber selbst ist nicht die Krankheit, sondern nur ein Symptom davon. Eigentlich ist es sogar eine Schutz- und Abwehrfunktion des Körpers. Die Ursache liegt woanders, nämlich bei Bakterien oder Viren, die unseren Körper angreifen. Das Fieber selbst kann zwar auch zum Problem werden, aber wenn wir nur das Fieber bekämpfen, wird der Mensch krank bleiben. Die Bakterien oder Viren müssen ausgerottet werden. Erst dann ist der Mensch wieder gesund.

Die Pharisäer haben sich selbst nicht richtig beurteilt. Sie haben nur gewisse Aspekte ihres Lebens geprüft; es ging ihnen nur darum, die Überlieferungen ihrer Lehrer zu beachten. Darin waren sie sehr gut. Aber gleichzeitig produzierten sie viele faule Früchte. Das Schlimmste war, dass sie gerade im Begriff standen, ihren Messias zu verwerfen. Der Herr Jesus musste ihnen aufzeigen, dass sie nicht nur gute, sondern auch faule Früchte produzierten und dass sie sogar mehr faule als gute Früchte produzierten. Er wies sie damit gewissermassen auf die Symptome einer Krankheit hin, um ihnen zu zeigen, dass sie ernsthaft krank waren. Aber dabei blieb Er nicht stehen, wie beispielsweise dieser Vers zeigt, denn Er wies darauf hin, dass ein Baum, der faule Früchte produziert, selbst faul sein muss. Damit zeigte Er auf, dass das wahre Problem viel tiefer lag und nicht nur das betraf, was die Pharisäer taten, sondern das, was sie waren.

Auch wir sollten uns beständig selber prüfen. Diese Prüfung muss so sorgfältig erfolgen, wie es nur geht. Es reicht nicht, nur einen Aspekt unseres Lebens zu betrachten, und es genügt nicht, uns mit anderen Menschen zu vergleichen. Der Massstab ist das Wort Gottes, der Prüfungsumfang unser ganzes Sein und jeder Aspekt unseres Lebens. Wenn wir bei dieser Prüfung feststellen, dass wir von der Spur abgekommen sind, reicht es nicht aus, unser Verhalten zu ändern bzw. uns zusammenzureissen. Wir müssen unbedingt wissen, dass die faulen Früchte von einem faulen Baum produziert werden, dessen Wurzel krank ist. Faule Früchte zeigen, dass unsere alte, komplett und hoffnungslos verdorbene Natur wieder zu viel Spielraum erhalten hat. Dem können wir nur einen Riegel schieben, indem wir uns an den HERRN wenden und bitten, uns mehr von Seiner Gnade, mehr von Seiner Kraft, mehr von Seinem Geist zu geben, damit unsere neue Natur gestärkt und in die Lage versetzt wird, die alte Natur gewissermassen wieder unter Wasser zu drücken und weiter im Tod zu halten. In der Welt sagt man, dass Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung sei. Das stimmt. Auch im Christenleben ist es ganz entscheidend, dass wir uns immer wieder ernsthaft prüfen und erkennen, falls etwas schief läuft. Suchen wir die faulen Früchte, damit Gott uns heilen kann!

Vers 34

Otternbrut! Wie könnt ihr Gutes reden, da ihr böse seid? Denn aus der Fülle des Herzens redet der Mund. Mt 12,34

Hier nun haben wir das ganze Elend in deutlichen Worten vor uns: Die Pharisäer konnten gar nicht anders, als Böses zu reden und sich böse zu verhalten, weil ihre Herzen böse waren und weil sie Kinder der Schlange (Otternbrut), Kinder des Teufels, waren (vgl. Joh 8,44). Die Worte und Taten eines Menschen verraten, wie dieser Mensch ist. Ein böser Mensch verhält sich böse und sagt böse Dinge. Er kann sich vielleicht für eine Zeit verstellen, aber letztlich kann er gar nicht anders als zu offenbaren, wie er wirklich ist. Oft genügt es, einen Menschen in Bedrängnis zu bringen, etwas in die Ecke zu treiben, und schon lässt er seine Maske fallen. Wie ist es um unsere Herzen bestellt? Wie verhalten wir uns, wenn wir in die Ecke gedrängt werden?

Vers 35

Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz Gutes hervor, und der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatz Böses hervor. Mt 12,35

Unsere Taten zeigen, wer wir sind. Wenn ich eine bestimmte Handlung immer wieder ausführe, wird sie zur Gewohnheit. Wenn sich eine Gewohnheit verfestigt, wird sie ein Teil meines Charakters. Wie verhalten wir uns also gewohnheitsmässig? In unserer westlichen Welt meinen viele Menschen, sie seien eigentlich ganz gut. Und kein Wunder! Das hat man ihnen nun jahrhundertelang eingeredet! Diese Ansicht hat sich im sogenannt christlichen Abendland so sehr etabliert, dass wir meinen, es handle sich dabei um eine christliche Haltung. In Tat und Wahrheit handelt es sich dabei aber um einen Kernpunkt des anti-christlichen Humanismus, der seinerseits auf der heidnisch-griechischen Philosophie fusst. Wie sieht es denn aus? Sind wir wirklich so gut, wie wir meinen?

Um diese Frage beantworten zu können, brauchen wir einen objektiven Massstab, also einen Massstab, der für alle genau gleich ist. Ein solcher Massstab existiert. Er ist im Wort Gottes zu finden. Personifiziert ist er im Herrn Jesus Christus. Sind wir so wie Er? Genügen wir den Ansprüchen Gottes voll und ganz? Ist unser Wesen, unser Charakter, unser Verhalten geprägt von Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung? Oder gibt es da auch Dinge wie Streit, Eifersucht, Zornausbrüche, Selbstsüchteleien (Egoismus), Unreinheit, Unzucht, Ausschweifung, Feindschaften, Neidereien, Trinkgelage, Völlereien und dergleichen? Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, müssen wir zugeben, dass es im Leben eines Jeden von uns viel Verkehrtes und Unschönes gibt, das Gott nicht gefallen kann.

Was sagt das über uns aus? Das erfahren wir im vor uns liegenden Vers: Bei wem solche Dinge zu finden sind, der schöpft aus einem bösen Schatz; er ist ein böser Mensch. Da solche Dinge bei allen von uns zu finden sind, sind wir alle böse! Die humanistische Ansicht, dass der Mensch in seinem Kern gut sei und nur durch schlechte gesellschaftliche Einflüsse verdorben werde, ist komplett falsch, denn in seinem Kern ist der Mensch böse. Das ist eine schmerzhafte, aber auch eine heilsame Wahrheit, denn nur wer erkennt, dass er verloren ist, lässt sich finden; nur wer erkennt, dass er krank ist, lässt sich helfen. Wir müssen gefunden werden! Uns muss geholfen werden! Ach, möchten das doch noch viele Menschen erkennen!

In der ganzen Geschichte der Menschheit hat es nur einen guten Menschen gegeben, der aus dem guten Schatz Gutes hervorgebracht hat, nämlich den Herrn Jesus Christus. Hier stand Er also vor den Pharisäern. Er hatte nur Gutes getan, war umhergegangen und hatte wohlgetan und alle geheilt, die von dem Teufel überwältigt waren, aber man warf Ihm vor, vom Obersten der Dämonen besessen zu sein, weil man Ihn nicht wollte! Und wer brachte diese Vorwürfe vor? Die Pharisäer, die nur Böses aus einem bösen Schatz hervorgebracht hatten, weil sie böse Menschen waren! So verkehrt kann unser Denken sein!

Vers 36

Ich sage euch aber, dass die Menschen von jedem unnützen Wort, das sie reden werden, Rechenschaft geben müssen am Tag des Gerichts; Mt 12,36

Viele Menschen denken, wenn sie in ihrem Leben nichts tun, das besonders schlimm wäre, wie eine Ehe zu brechen, jemanden zu töten oder dergleichen, dann stünden sie schon ziemlich gut da vor Gott. Aber das stimmt nicht! Was wir tun oder nicht tun, ist nur wie die Frucht eines Baumes oder wie das Symptom einer Krankheit; das Problem ist aber nicht die Frucht, sondern die Wurzel, nicht das Symptom, sondern das Virus oder das Bakterium. Es geht nicht so sehr darum, was ein Mensch tut oder nicht tut, sondern vielmehr darum, was ein Mensch ist oder eben nicht ist. Deshalb beschäftigt sich der HERR nicht nur mit unseren Taten oder gar nur mit einigen von unseren Taten, sondern auch mit unseren Worten, Gedanken und Gefühlen. Schon im Vers 34 haben wir gelesen, dass unsere Worte genauso wie unsere Taten zeigen, wie unsere Herzen beschaffen sind, denn aus der Fülle des Herzens redet der Mund. Hier nun sehen wir, dass wir einmal genauso für jedes Wort zur Rechenschaft gezogen werden, wie wir für jede Tat zur Rechenschaft gezogen werden.

Wie schrecklich ist das! Wie viele unnütze Worte gehen Tag für Tag über unsere Lippen! Wie viel Feuer haben wir mit unserer Zunge schon angezündet! Wie sehr haben wir unsere Mitmenschen mit unseren Worten verletzt! Wir müssen unbedingt wissen, dass der HERR das nicht ignorieren wird. Wir werden uns einmal dafür verantworten müssen. Können wir jetzt noch behaupten, wir seien eigentlich ganz gut? Kann irgendjemand von uns im göttlichen Gericht bestehen? Es ist unmöglich! Das, was wir in uns selbst sind, wird uns niemals Zugang zum Himmel gewähren. Nur Gott kann uns in den Himmel einführen und Er kann das nur in Gnade – aus einer unverdienten Gunst heraus – tun. Das bedeutet aber nicht, dass Er das Recht beugen würde, denn Seine Gnade ist nicht wie unsere Gnade (Gnade vor Recht), sondern eine Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht (Röm 5,21). Die gerechte Grundlage ist am Kreuz auf Golgatha gelegt worden, wo der Herr Jesus stellvertretend für fremde Schuld gelitten und gesühnt hat.

Vers 37

denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden. Mt 12,37

Was stimmt denn nun? Werden wir nach unseren Taten, nach unseren Worten oder nach dem, was in unseren Herzen ist, gerichtet? Sowohl als auch! Das entscheidende Problem ist und bleibt, dass wir in unserem Wesen gottlos (von Gott losgelöst) und sündig respektive gesetzlos sind, d.h. so leben, als hätte Gott in unserem Leben nichts zu sagen. Wir passen nicht in die Gegenwart Gottes, weshalb wir so, wie wir sind, niemals Zugang zum Himmel erlangen werden; es bleibt nur die Verdammnis. Der HERR könnte uns theoretisch entsprechend unseren Herzen richten – sogar, bevor wir überhaupt jemals irgendetwas getan hätten. Aber Er tut es nicht. Er richtet nicht nur absolut gerecht, sondern zudem auch so, dass jeder Sein Urteil als völlig gerecht anerkennen muss.

Wenn der HERR uns allein anhand unserer Herzenseinstellung richten würde, könnten die anderen Menschen niemals nachvollziehen, ob das Urteil nun gerecht ausgefallen sei. Deshalb lässt sich der HERR herab, uns nach unseren Worten und Taten zu richten. Das Urteil wird nicht anders ausfallen, als wenn es anhand der Herzenseinstellung gefällt würde, weil es eine Art Naturgesetz ist, dass wir gemäss dem reden und handeln, was in unseren Herzen ist. Wer ein ehebrecherisches Herz hat, wird irgendwann die Ehe brechen oder zumindest entsprechend reden. Wer ein Läster-Herz hat, wird lästern und fluchen. In Seiner Gnade schiebt der HERR unseren Herzen oft einen Riegel, indem Er verhindert, dass wir die Bosheit unserer Herzen voll ausleben können. Sonst wäre die Welt ein noch sehr viel schlimmerer Ort, als sie es jetzt schon ist. Aber doch werden wir immer wieder Gelegenheiten erhalten, die Bosheit in unserem Herz auszuleben. Am Ende, wenn wir nach dem Tod vor dem göttlichen Thron stehen werden, wird der HERR uns anhand unserer Worte und Taten verurteilen und das Urteil wird gemäss dem ausfallen, was in unseren Herzen gewesen ist.

Hoffentlich stellt sich nun jemand ernsthaft die Frage, wie es Hoffnung für irgendeinen Menschen geben könne, wenn es sich so verhalte! Wer ehrlich zu sich selbst ist, muss nämlich einräumen, dass sein Herz nicht so ist, wie es sein sollte, und dass er keinen Menschen kennt, der ein (wesentlich) besseres Herz hat. Tatsächlich sagt der HERR in Seinem Wort dreimal klar und deutlich, dass es keinen einzigen Menschen gibt, der in Seinen Augen gerecht wäre!

Der HERR hat vom Himmel herniedergeschaut auf die Menschenkinder, um zu sehen, ob ein Verständiger da ist, einer, der Gott sucht! Alle sind abgewichen, sie sind alle verdorben; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer. Ps 14,2.3

Gott hat vom Himmel herabgeschaut auf die Menschenkinder, um zu sehen, ob ein Verständiger da ist, einer, der Gott sucht. Alle sind abgewichen, sie sind alle verdorben; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer. Ps 53,3.4

Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer. Röm 3,11.12

Wäre die Bibel ein religiöses Buch wie so viele andere auch, fänden wir darin ein Rezept, nach dem wir uns verbessern könnten. Aber die Bibel ist kein gewöhnliches religiöses Buch! Sie ist das Wort Gottes! Sie gibt uns kein Rezept, sie zeigt uns keinen Weg zur Verbesserung, sondern sie bezeugt – immer und immer wieder! –, dass wir Menschen hoffnungslos verloren und verdorben sind. Niemand von uns kann sich selbst retten. Aber Gott hat Sich uns in Gnade (unverdient!) zugewendet, indem Er Seine Hand jedem Einzelnen von uns zur Rettung entgegengestreckt hat. Wir müssen nichts weiter tun, als unseren verlorenen Zustand einzusehen, zu bereuen und die zur Rettung ausgestreckte Hand im Glauben bzw. im Vertrauen zu ergreifen. So sicher wie kein Mensch sich selbst retten kann, so sicher kann jeder Mensch von Gott gerettet werden!

Vers 38

Dann antworteten ihm einige der Schriftgelehrten und Pharisäer und sprachen: Lehrer, wir möchten ein Zeichen von dir sehen! Mt 12,38

Die Pharisäer und die Schriftgelehrten konnten die Worte des Herrn Jesus kaum unerwidert lassen, denn dann hätten sie ihr Gesicht vor den Menschen ihres Volkes verloren. Sie hatten Ihn wüst beschuldigt, worauf Er ihnen schwere Vorwürfe gemacht hatte. Nun mussten sie quasi demonstrieren, dass Er doch nicht Der war, für den Er sich ausgab. Also forderten sie ein Zeichen.

Kann man diese Frechheit fassen? Gerade hatte Er (nicht zum ersten Mal) deutlich gezeigt, dass Er der Messias war und gerade hatten sie dies wider besseres Wissen geleugnet. Nun forderten sie ein Zeichen, als wären sie bereit, ihre Haltung völlig zu ändern, wenn Er es tun würde! In Tat und Wahrheit hätten sie auch ein weiteres Zeichen abgetan. Noch wahrscheinlicher ist, dass sie damit rechneten, Er würde sich weigern, ein Zeichen zu tun. Auf diese perfide Art konnten sie ihr Gesicht wahren: Würde Er sich weigern, konnten sie dem Volk sagen, dass Er nicht der Messias sein könne, weil Er sonst ein Zeichen getan hätte; würde Er ein Zeichen geben, würden sie seine Bedeutung verdrehen.

Nun müssen wir uns vor Augen führen, dass die Pharisäer und die Schriftgelehrten ein sehr hohes Ansehen bei ihrem Volk genossen. Sie waren die ultra-religiösen, superfrommen Vorbilder. Sie dünsteten geradezu eine Aura von Frömmigkeit aus. Und jetzt standen sie da vor Einem, der sie bereits mehrfach sehr schroff angefahren hatte, gaben sich vermeintlich demütig und taten so, als wären sie nur noch ein Zeichen davon entfernt, sich Ihm völlig zu unterwerfen. Was für eine religiöse Show! Doch das menschliche Herz ist so böse, dass es problemlos in der Lage ist, seine wahre Bosheit unter einem Deckmantel von Religiosität zu tarnen. Die Menschen können sich (auch heute noch) superfromm geben, während sie in Wahrheit den Herrn Jesus hassen und nichts von Ihm wissen wollen. Das muss uns einfach bewusst sein, damit wir uns nicht von einer falschen Fassade täuschen lassen.

Vers 39

Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht begehrt ein Zeichen, und kein Zeichen wird ihm gegeben werden als nur das Zeichen Jonas, des Propheten. Mt 12,39

Der Herr Jesus liess sich von der frommen Fassade nicht täuschen. Er wusste, dass ein weiteres Zeichen nichts geändert hätte und dass eine Weigerung, ein weiteres Zeichen zu tun, gegen Ihn verwendet worden wäre. Unumwunden bezeichnete Er die frechen Pharisäer und Schriftgelehrten als ein böses und ehebrecherisches Geschlecht. Die dabeistehenden Menschen sollten wissen, dass Er von Seinem eigenen Volk bereits definitiv verworfen worden war.

Und doch nennt Er noch ein weiteres Zeichen, das dem Volk Israel gegeben werden sollte. Es war das ultimative Zeichen, sowohl das letzte als auch das grösste Zeichen, nämlich das Zeichen Jonas des Propheten: Er, der Herr Jesus würde vom Tod verschlungen werden, ins Grab gelegt werden, aber dann nach drei Tagen wieder auferstehen, wie Jona vom Fisch verschlungen worden, im Herzen der See begraben worden, aber nach drei Tagen wieder an Land gespült worden war.

Wir sehen hier die Gnade Gottes, die quasi gar nicht anders kann, als den Menschen immer wieder doch nochmals eine Chance zur Umkehr zu geben, aber auch die Strenge Gottes, denn die Aussage des Herrn macht klar, dass der Bruch zwischen Israel und Ihm nun definitiv war. Sie hatten Ihn verworfen und deshalb sollten sie (noch) nicht in den Genuss der Segnungen des messianischen Friedensreiches kommen. Er würde Sein Reich nicht aufrichten, sondern in den Tod gehen, wieder auferstehen und dann in den Himmel auffahren, um Sich zur Rechten Gottes zu setzen. Die weiteren Verse in Kapitel 12 sowie der Bruch zwischen Kapitel 12 und 13 machen das ganz deutlich. Israel hatte seine Chance verpasst.

Vers 40

Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des grossen Fisches war, so wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein. Mt 12,40

Dass der Herr Jesus das, was mit Jona geschehen war, als ein Zeichen auf sich selbst deutete, ist sehr erstaunlich. Damit hat Er nicht nur die Wahrheit des biblischen Berichtes (einschliesslich der erstaunlichen Episode mit dem Fisch) bestätigt, sondern auch den als ungehorsamen Propheten bekannten Jona gewissermassen geadelt. Jona war im Bauch des Fisches gelandet, weil er ungehorsam gewesen war. Statt dem Auftrag Gottes gemäss nach Osten zu gehen, hatte er so weit wie möglich nach Westen fliehen wollen. Durch einen grossen Sturm und einen Sturz in das Herzen der See hatte der HERR Seinen Propheten zur Besinnung bringen müssen. Der Fisch hatte Jona anschliessend retten und sicher ans Ufer bringen müssen. Jona war also gewissermassen drei Tage im Grab gewesen und danach gleichermassen auferstanden. All das nur wegen seines Ungehorsams!

Aber der Herr Jesus hat diese Begebenheit nun als einen erstaunlichen Hinweis darauf verwendet, was mit Ihm geschehen sollte. Nur sollten die drei Tage im Grab nicht die Folge von Ungehorsam, sondern im Gegenteil von einem Gehorsam bis zum Tod sein! Denn Er «wurde gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz» (Phil 2,8). Obwohl das bei Jona überhaupt nicht der Fall gewesen war, durfte das, was der Prophet erlebt hatte, zu einem der deutlichsten und erstaunlichsten Hinweise auf den Tod Jesu Christi am Kreuz werden – ja, zum ultimativen Zeichen für Israel! So gütig ist der HERR, dass Er sogar den Mist, den Seine Diener manchmal leider produzieren, als Dünger benutzt, um doch noch etwas Gutes daraus hervorgehen zu lassen!

Vers 41

Männer von Ninive werden aufstehen im Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, denn sie taten Busse auf die Predigt Jonas; und siehe, mehr als Jona ist hier. Mt 12,41

Es wird einmal einen Tag des Gerichtes geben, an dem jeder Mensch sich vor Gott verantworten müssen wird. «Und wie es den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht» (Hebr 9,27). An diesem Tag wird der HERR die Menschen nach dem verurteilen, was in ihren Herzen gewesen ist. «So verurteilt nichts vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Absichten der Herzen offenbaren wird!» (1.Kor 4,5). Aber wie wir bereits gesehen haben, wird der HERR Sein Urteil nachvollziehbar machen, indem Er uns anhand unserer Worten und Taten aufzeigen wird, was wirklich in unseren Herzen gewesen ist, wie es wirklich um unsere Herzen bestellt gewesen ist. «Denn das Sinnen des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an» (1.Mose 8,21). «Arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verdorben ist es; wer mag es kennen?» (Jer 17,9). «Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen» (Mt 15,19).

Ja, in der himmlischen Gerichtsverhandlung wird es sogar so etwas wie Zeugenaufrufe geben! Menschen werden antreten, um gegen andere Menschen auszusagen. Natürlich steht in erster Linie jeder für sich selbst vor Gott. Aber der HERR wird auf andere Menschen verweisen und diese als Zeugen anführen, um Seinen Urteilsspruch zu bekräftigen. So werden beispielsweise die Leute aus Ninive gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten aussagen, denn als Jona zu ihnen gekommen war, hatten sie Busse getan. Die Pharisäer und Schriftgelehrten hingegen, die mit einem Grösseren als Jona konfrontiert waren, die noch viel mehr hätten Busse tun müssen, haben ihre Herzen verhärtet. Das wird sehr schwer gegen sie zeugen.

Vers 42

Eine Königin des Südens wird auftreten im Gericht mit diesem Geschlecht und wird es verdammen, denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören; und siehe, mehr als Salomo ist hier. Mt 12,42

Nicht nur die Männer von Ninive werden in der künftigen Gerichtsverhandlung gegen «dieses Geschlecht» – das Volk Israel – als Belastungszeugen auftreten; auch die Königin des Südens, die Königin von Scheba, wird als Zeugin aufgerufen werden. Die Männer von Ninive hatten auf die Predigt von Jona hin Busse getan, aber die Israeliten hatten sich geweigert, auf die Predigt eines Grösseren als Jona hin Busse zu tun. Die Königin von Scheba hatte auf ein blosses Gerücht hin eine weite und beschwerliche Reise auf sich genommen, weil sie unbedingt den weisen Salomo persönlich kennenlernen wollte. Aber die Israeliten verspürten keinerlei Anziehungskraft Dessen, der mehr als Salomo gewesen ist, sondern sie wiesen Ihn vielmehr ab. Das sind ernste Worte. Sie sollten den Zuhörern noch einmal vor Augen führen, dass sie es definitiv mit der grössten, erhabensten Person zu tun hatten, die je über das Angesicht dieser Erde gewandelt ist, mit dem Messias Jesus, dem Sohn des lebendigen Gottes – mehr als Jona, mehr als Salomo. Ihre Ablehnung und Verleumdung dieser herrlichen Person wog sehr schwer und wird noch schlimme Konsequenzen haben, wie die folgenden Verse zeigen.

Vers 43

Wenn aber der unreine Geist von dem Menschen ausgefahren ist, so durchwandert er dürre Orte, sucht Ruhe und findet sie nicht. Mt 12,43

Die Verse 43–45 könnten als ein Gleichnis verstanden werden. Sie werden aber nicht so bezeichnet. Zudem hat der Herr Jesus offensichtlich Bezug darauf genommen, was den Auslöser für die Diskussion gebildet hatte, nämlich die Austreibung eines unreinen Geistes, die von den Pharisäern und Schriftgelehrten dem Belzebul zugeschrieben worden war. In erster Linie wendet sich diese ernste Belehrung in den Versen 43–45 an das Volk Israel, wie der letzte Satz deutlich macht: «So wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen». Der Mann, der vom Herrn Jesus befreit worden war, befand sich noch in grosser Gefahr, wie wir aus diesen Versen erfahren können. Aber genau dadurch wurde er zu einem Bild dafür, was mit Israel geschehen sollte.

Hier im Vers 43 haben wir die Ausgangssituation vor uns: Der unreine Geist ist von dem Menschen ausgefahren. Aber damit ist die Sache nicht erledigt, denn offensichtlich finden unreine Geister keine Ruhe, wenn sie sich ausserhalb eines menschlichen Körpers aufhalten müssen. Ein schrecklicher Gedanke! Der unreine Geist durchwandert dürre Orte, aber er findet keine Ruhe. Er muss ein neues Zuhause finden! Und ein solches Zuhause kann nur ein Mensch sein. Das ist sehr, sehr ernst. Bedenken wir, dass wir es hier nicht mit einem Gleichnis, sondern mit einer geistlichen Wahrheit zu tun haben. Unreine Geister haben ein starkes Verlangen, von Menschen Besitz zu nehmen. Was geschieht nun, wenn ein Mensch sich durch die Beschäftigung mit okkulten, dunklen Dingen beschäftigt, selbst wenn es nur eine Spielerei ist? Ein solcher Mensch öffnet eine Tür. Die unreinen Geister werden sich nicht zweimal bitten lassen, sondern sofort beginnen, den Spalt mit Gewalt weiter zu öffnen und Eintritt zu erlangen. Das Problem ist, dass es keine Rolle spielt, aus welchen Motiven ein Mensch sich solchen Einflüssen öffnet. Entscheidend ist, dass die unreinen Geister ein grosses Verlangen nach Besitzergreifung haben. Das ist der Grund, weshalb sich jeder in grosse Gefahr begibt, der sich mit solchen Dingen beschäftigt.

Vers 44

Dann spricht er: Ich will in mein Haus zurückkehren, aus dem ich herausgegangen bin; und wenn er kommt, findet er es leer, gekehrt und geschmückt. Mt 12,44

Hat ein unreiner Geist von einem Menschen Besitz genommen, so ist dieser Mensch in den Augen des unreinen Geistes «mein Haus». Das ist die schlimmste Form einer dämonischen Besessenheit. Wir dürfen allerdings nicht den Fehler machen anzunehmen, ein Mensch könne nur entweder vollständig oder aber gar nicht «dämonisiert» sein, denn zwischen diesen beiden Extremzuständen gibt es unzählig viele Abstufungen. Judas Iskariot öffnete dem Teufel beispielsweise durch seine Geldgier die Tür zur Beeinflussung. Zunächst wurde er vom Teufel nur beeinflusst: Der Teufel gab ihm böse Gedanken ein, verleitete ihn zur Sünde etc. Judas hatte sich selbst noch unter Kontrolle, aber er stand unter einem bösen Einfluss. Erst in der Passahnacht fuhr dann der Teufel in ihn, sodass er dann vollständig besessen war. Damit gibt Judas uns ein anschauliches Bild davon, wie ein Mensch unter einen stetig stärkeren Einfluss von Dämonen geraten und letztlich soweit die Kontrolle über sich selbst verlieren kann, dass er kaum noch mehr als das Haus eines Dämons ist. Schrecklich!

Wenn nun ein Mensch von einem unreinen Geist befreit wird, sucht der unreine Geist eine neue Bleibe. Er kann nicht zur Ruhe kommen, bis er wieder eine menschliche Behausung gefunden hat. Bei der Suche nach einer neuen Bleibe schliesst er offenbar auch eine Rückkehr in seine alte Behausung nicht aus, weshalb es sein kann, dass er zu diesem Menschen zurückkehrt und prüft, ob er dort wieder einziehen kann.

Nun gibt es einen Zustand, der ganz besonders gefährlich ist. Diesen Zustand finden wir hier beschrieben: «Er findet es leer, gekehrt und geschmückt». Das klingt harmlos und nett, vielleicht sogar so, wie wir uns einen religiösen, frommen Menschen vorstellen. Aber es ist ein unnatürlicher Zustand! Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, leer, gekehrt und geschmückt zu sein, wobei nicht der Zustand des Gekehrt- und Geschmücktseins, sondern die Leere das Problem ist. Der Mensch muss etwas haben, das sein Herz erfüllt, und dieses etwas muss grösser sein als er selbst. So sind wir geschaffen worden. Entsagen wir allem, wofür unser Herz je gebrannt hat, entsteht eine Leere, die wir mit einem Vakuum vergleichen können. Ein Vakuum ist kein natürlicher und deshalb auch kein stabiler Zustand; es will gefüllt werden. Wenn wir uns nun vorstellen, dass ein Vakuum eine Art «Saugkraft» entwickelt, während ein unreiner Geist eine «Druckkraft» auf Menschen ausübt, weil er unbedingt eine menschliche Behausung finden will, fällt es leicht, sich vorzustellen, wie fatal eine solche Kombination sein muss.

Leider ist die Ansicht, ein Mensch könne ein Christ werden, indem er einfach alles Böse aus seinem Leben entferne, noch immer weit verbreitet. Das Christsein ist aber nicht definiert durch Dinge, die man nicht tut! Es geht vielmehr darum, das, was unser Herz bis jetzt erfüllt hat, durch etwas Besseres, Kostbareres, Bleibendes zu ersetzen, nämlich durch die Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus. Ein Christ ist nicht eine Person, die nichts Böses tut, sondern eine Person, die Jesus Christus liebt und Ihm allein vertraut. Das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Wenn ich alles Mögliche aus meinem Herzen entferne, erzeuge ich ein Vakuum, das von noch schlimmeren Dingen gefüllt werden kann, wie wir es leider bis heute immer wieder aus verschiedenen christlichen Kreisen hören, wo unsägliche Dinge geschehen. Wenn ich dagegen die Tür meines Herzens für den Herrn Jesus Christus öffne, dann wird Er mein Herz (realistischerweise: zunächst nur einen Teil davon) in Besitz nehmen und – weil der Platz in meinem Herz begrenzt ist – andere Dinge hinausdrängen. Je mehr ich in der Liebe zu Ihm und in der Erkenntnis Seiner Person wachse, umso mehr Dinge wird Er verdrängen. Dadurch entsteht kein Vakuum, sondern eine gesunde geistliche Entwicklung in die richtige Richtung, bei der Dämonen keine Chance haben, einen Platz neu für sich in Anspruch zu nehmen.

Vers 45

Dann geht er hin und nimmt sieben andere Geister mit sich, böser als er selbst, und sie gehen hinein und wohnen dort; und das Ende jenes Menschen wird schlimmer als der Anfang. So wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen. Mt 12,45

Die grosse Gefahr eines «Vakuums» besteht darin, dass es eine zweite Kraft entwickelt, die jene Kraft, mit der ein unreiner Geist Besitz von einem Menschen nehmen will, verstärkt. Natürlich gibt es nicht gewissermassen einen unreinen Geist pro Mensch, sondern sehr viele unreine Geister, weshalb ein Mensch durchaus auch von mehr als einem unreinen Geist oder Dämon besessen sein kann. Das traurigste Beispiel dafür finden wir in Mk 5, das einen Menschen beschreibt, der von einer ganzen Legion, also von 3.000–6.000 Dämonen besessen gewesen ist. Daher kann es sein, dass ein einmal ausgetriebener Dämon, der nach einer Ruhestätte sucht, den Menschen wieder findet, den er verlassen musste, und feststellt, dass dieser nun «leer» ist, noch sieben (oder sehr viel mehr) andere Dämonen mit sich nimmt und erneut Besitz von diesem Menschen ergreift. Am Schluss ist dieser Mensch dann viel schlimmer dran als zu Beginn!

Dieses Prinzip gilt nicht nur in Bezug auf Dämonen. Die Geschichte der Christenheit weist leider unzählbar viele Beispiele dafür auf, was geschehen kann, wenn Menschen versuchen, sich einfach von möglichst vielen Dingen abzuwenden respektive möglichst vielen Begierden zu entsagen, statt ein Verlangen nach immer mehr vom Herrn Jesus zu haben. Diese Menschen reissen sich eine Zeit zusammen und fallen dann aber umso tiefer.

Was der Herr Jesus hier geschildert hat, ist nicht nur ein allgemeines Prinzip, sondern hat noch eine ganz spezifische Bedeutung in Bezug auf das Volk Israel: Das Volk Israel ist jahrhundertelang gewissermassen von einem unreinen Geist, dem Geist des Götzendienstes, besessen gewesen. Das Problem der Götzendienerei zieht sich durch das ganze Alte Testament. Aber nach der Rückkehr aus Babylon war Israel davon befreit. Götzendienst ist seither nie mehr ein Problem in Israel gewesen. Die Evangelien berichten uns von vielen Missständen in Israel, aber Götzendienst gehört nicht zu diesen Missständen. In diesem Sinne ist Israel damals leer, gekehrt und geschmückt gewesen. Eigentlich wäre dieser Zustand ideal dafür gewesen, den Messias Jesus anzunehmen und ins Haus zu bitten. Aber gerade das wollten die Israeliten nicht! Die Folge davon ist, dass dieses Volk bis heute «leer» geblieben ist. Der unreine Geist irrt noch immer durch öde Gegenden und sucht einen Ruheort. Schon bald wird er zurückkehren und sieben andere unreine Geister mit sich nehmen. Dann wird der Zustand Israels schlimmer werden, als er es vor der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier gewesen ist. Aus der biblischen Prophetie wissen wir, dass die Israeliten einen falschen Messias (einen Anti-Christus, also einen «Anstelle von»-Christus) annehmen wird, der nach einer gewissen Zeit die übelste Form von Götzendienst in Israel einführen wird, die es je in der Geschichte dieses Volkes gegeben hat! Und weshalb werden die Israeliten diesem Antichrist auf den Leim gehen? Eben gerade weil sie den wahren Messias verworfen haben! «Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen» (Joh 5,43).

Vers 46

Als er aber noch zu den Volksmengen redete, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draussen und suchten ihn zu sprechen. Mt 12,46

Nicht nur die einzelnen Aussagen im ewigen Wort Gottes, sondern auch die Zusammenstellung bzw. Anordnung dieser Aussagen ist voller Bedeutung. In diesen letzten Versen des zwölften Kapitels des Evangeliums nach Matthäus haben wir eine scheinbar beiläufige Bemerkung über ein Ereignis vor uns, das uns als nebensächlich erscheinen könnte. Aber der Heilige Geist hat diese kurze Episode bewusst an dieser Stelle eingefügt, um einen weiteren Nagel einzuschlagen, der die Kernbotschaft des zwölften und dreizehnten Kapitels respektive den Bruch zwischen diesen beiden Kapiteln befestigen soll, den wir fast schon als eine Zeitenwende bezeichnen könnten.

Worüber redete denn der Herr Jesus zu den Volksmengen? Zuerst hatte Er ihnen erklären müssen, dass sie in ihrem Wahn, ihren Sabbat zu verteidigen, den Herrn des Sabbats verworfen hatten, wobei besonders schwer wiegt, dass der Sabbat das Zeichen des Bundes zwischen dem HERRN und Israel ist. Dann hatte Er ein (weiteres) Wunder getan, das Ihn ganz offensichtlich als den lange ersehnten Messias erwiesen hatte, sodass sogar die ungelehrte Volksmenge es erkannte. Aber die führenden Juden hatten sich wider besseres Wissen geweigert, das anzuerkennen; sie hatten Seine Tat dem Obersten der Dämonen zugeschrieben. Deshalb hatte Er ihnen erklärt, dass sie gerade den Fehler ihres Lebens begangen respektive das Mass ihrer Verfehlungen voll gemacht hatten. Diese Lästerung des Heiligen Geistes würde nicht vergeben werden. Israel würde (noch) nicht in den Segen des messianischen Friedensreiches eingeführt werden. Die Königin des Südens und sogar die Männer von Ninive würden dieses Geschlecht einmal verurteilen. Der ausgetriebene Dämon des Götzendienstes würde zusammen mit sieben anderen Dämonen zurückkehren. Israel hatte für den Moment alles verloren.

Und nun kommen die Mutter und die Brüder (Halbbrüder) des Herrn Jesus, Seine nächsten Verwandten nach dem Fleisch, um Ihn zu sprechen. Wenn es irgendjemand gab, der unter allen Menschen ein besonderes Anrecht darauf hatte, ein persönliches Wort an den Herrn Jesus zu sprechen, dann waren es Seine Mutter und Seine Brüder. Bis heute sagen wir ja schliesslich, dass Blut dicker als Wasser ist, womit wir meinen, dass die Blutsverwandtschaft eines Menschen immer die höchsten Vorrechte gegenüber diesem Menschen geniesst. Der Herr Jesus hatte also gerade erklärt, dass das aus allen Völkern auserwählte Volk Israel seine Volks-Vorrechte verspielt hatte. Wie würde Er nun auf das Begehren Seiner Blutsverwandtschaft reagieren?

Vers 47

Und es sprach einer zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draussen und suchen dich zu sprechen. Mt 12,47

Weshalb die Mutter und die Brüder des Herrn Jesus nicht direkt zu Ihm gekommen sind, wird nicht berichtet. Sie liessen den Herrn durch einen Boten zu sich rufen, was ein wenig an eine Vorladung durch eine Autorität erinnert. Aus anderen Stellen der Heiligen Schrift wissen wir, dass insbesondere die Halbbrüder des Herrn Jesus grosse Schwierigkeiten mit dem hatten, was Er tat. Irgendwo heisst es ganz direkt, dass sie nicht an Ihn glaubten (Joh 7,5). An einer anderen Stelle wird uns berichtet, dass sie sich gesagt haben, Er sei von Sinnen (Mk 3,21). Wahrscheinlich waren sie auch hier gekommen, um Ihn in Seiner vermeintlichen Raserei zu stoppen, um Ihn zu tadeln und Ihn auszubremsen. Die Mutter dürften sie im Schlepptau mitgeführt haben, um ihrem Anliegen mehr Gewicht zu verleihen, denn wir wissen aus den Evangelien, dass Maria seit der Ankündigung der Schwangerschaft alles sehr ernst genommen hat, was mit der Person des Herrn Jesus zusammengehängt hat. Deshalb dürfte sie wohl eher keine führende Rolle bei der Mission gespielt haben, den Herrn Jesus zurückzupfeifen. Die Halbbrüder haben sie also gewissermassen als einen Hebel benutzt, um ihrem Anliegen mehr Chancen zu verleihen, ganz ähnlich wie die römisch-katholische Kirche lehrt, dass man das Herz Gottes besser erreicht, wenn man über Maria an Ihn gelangt. Haben wir hier einen Präzedenzfall für diese Behauptung? Hat das besonders gut geklappt?

Vers 48

Er aber antwortete und sprach zu dem, der es ihm sagte: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Mt 12,48

Was für eine Entgegnung! Der Herr Jesus fragte wie wenn Er jene nicht kennen würde, die Ihn vorladen wollte. Natürlich kannte Er Seine Mutter und Seine (Halb-) Brüder. Aber als Seine Familienangehörigen nun besondere Ansprüche an Ihn stellen wollten, verhielt Er Sich so, als ob es diese besondere familiäre Bande nicht geben würde. Das ist doch sehr erstaunlich! Die folgenden Verse werden deutlich machen, welchen Punkt der Herr Jesus damit klarstellen wollte.

Vers 49

Und er streckte seine Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, meine Mutter und meine Brüder! Mt 12,49

Als Mensch ist der Herr Jesus ein Israelit, ein Jude, ein Sohn Marias. Er ist folglich in einer besonderen Weise mit einer bestimmten Familie, mit einem bestimmten Stamm Israels und mit dem Volk Israel verbunden. Das Volk Israel ist jenes Volk, das der HERR Sich unter allen Völkern der Erde besonders erwählt hat. Man könnte folglich sagen, dass die Israeliten gewissermassen mehr Anrecht auf den Herrn Jesus gehabt haben als die anderen Menschen, dass die Juden mehr Anrecht auf Ihn gehabt haben als die übrigen elf Stämme und dass Maria das grösste Anrecht auf Ihn gehabt hat. Tatsächlich ist Er ja gekommen als der Messias für Israel. Aber die Israeliten haben Ihn verworfen und damit ihr besonderes Anrecht (für eine Zeit) verloren. Dieser Verlust ist das grosse Thema von Mt 12.

Um diesen Punkt besonders zu unterstreichen, verleugnete der Herr Jesus gewissermassen Seine familiäre Herkunft. Er hielt Sich so, als ob Er nicht wüsste, wer Maria und Seine Halbbrüder seien. Sie hatten kein grösseres Anrecht auf Ihn als jeder andere Mensch. Wer immer zu Ihm kommen und Ihn hören wollte, der sollte Seine Mutter und Seine Brüder sein – was auch immer seine Abstammung sein mochte! Von jetzt an gab es keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen. Von nun an war der Herr Jesus gleichermassen der Erlöser für alle Menschen und nicht mehr nur der Messias für Israel.

Viele Jahre später trieben Juden in den ersten christlichen Gemeinden ihr Unwesen, die die Christen zurück unter das Joch des Judentums zwingen wollten. Sie beriefen sich auf die alttestamentlichen Schriften, verdrehten diese und behaupteten, dass nur die Israeliten bzw. die Juden ein besonderes Anrecht auf den Herrn Jesus hätten. Auch die Korinther standen in Gefahr, diesen Irrlehrern auf den Leim zu gehen. Der Apostel Paulus erklärte ihnen deshalb durch den Heiligen Geist, dass wir als Christen eine komplett neue Schöpfung sind, die ihrem Wesen nach keinen Bezug mehr zu dieser Erde und zu irdischen Verheissungen aufweist und folglich auch nicht irgendeiner Nationalität zugeordnet oder unter irgendein irdisches Gesetz (wie jenes für Israel) gezwängt werden kann: «Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden» (2.Kor 5,17). Folglich gilt auch: «Daher kennen wir von nun an niemand nach dem Fleisch; wenn wir Christus auch nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr so» (2.Kor 5,16). Einige Christen kannten den Herrn Jesus noch als Mensch, als Israeliten, als Messias für Israel. Aber Er war nun nicht mehr bzw. noch nicht der Messias für Israel, sondern zuerst einmal der Sohn Gottes. Diese irdischen Banden mussten aufgegeben werden; man musste den Herrn Jesus ganz neu als den verherrlichten Menschen im Himmel zur Rechten der Majestät kennenlernen und verstehen, dass man nun kein Israelit mehr war, sondern ein Himmelsbürger (Phil 3,20). All das ist angedeutet in dieser kurzen Episode am Ende von Mt 12, die wir hier vor uns haben.

Vers 50

Denn wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. Mt 12,50

Die Israeliten bildeten sich viel auf ihre Erwählung und auf ihre Abstammung von Abraham ein. Sie meinten, nur weil sie ihren Stammbaum auf Abraham zurückführen könnten, stünden sie Gott besonders nahe. Der Herr Jesus machte nun aber deutlich, dass nicht die Israeliten oder eine andere bestimmte Nation, nicht die Männer oder die Frauen, nicht jene mit dieser oder jener Hautfarbe, sondern – aus allen Menschen gleichermassen – jene Menschen Ihm am nächsten standen, die bereit waren, den Willen des Vaters in den Himmeln zu tun. Das ist gewissermassen die Einführung der Christenheit gewesen.

Das Alte Testament ist zwar voll von Segensverheissungen für Menschen aus anderen Nationen als Israel, aber mehrheitlich können diese Verheissungen so verstanden werden, dass sie über Israel zu den Nationen ausgehen werden. Die Israeliten waren und sind deshalb überzeugt, dass Menschen aus allen Nationen von Gott gesegnet werden können, aber nur, wenn sie zum Judentum konvertieren. Die Christenheit hat zwar als eine Art jüdische Sekte begonnen, aber sie ist keine Erweiterung des jüdischen Glaubens auf alle Nationen, sondern etwas ganz Eigenständiges. Ein Christ ist ein Christ, und zwar unabhängig davon, wie er zum Judentum steht. Man könnte die Beziehung zwischen dem Judentum und der Christenheit vielleicht am ehesten mit zwei Seiten einer Münze vergleichen. Beides gehört zur selben Münze, aber die beiden Seiten weisen keine Überschneidung oder Überlappung auf. Auf der einen Seite der Münze ist das Judentum, auf der anderen die Christenheit. Versucht man, beides miteinander zu vermischen, richtet man ein Chaos an.

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