Matthäus 13
Vers 1
An jenem Tag aber ging Jesus aus dem Haus hinaus und setzte sich an den See. Mt 13,1
Nicht an irgendeinem, sondern an jenem Tag nahm der Herr Jesus einen Standortwechsel vor, was ganz deutlich anzeigt, dass die folgenden Verse in einem direkten Zusammenhang mit den vorhergehenden Versen stehen und damit an das anknüpfen, wovon das Kapitel 12 spricht. Worum geht es denn in Mt 12? Es geht um die definitive Verwerfung des Messias, um den Bruch zwischen dem Herrn Jesus und Seinem irdischen Volk. Und genau an jenem Tag, als es zu diesem Bruch gekommen ist, ging Er aus dem Haus hinaus und setzte sich an den See.
Das Haus spricht im Allgemeinen von einem privaten Bereich. Es steht im Gegensatz zum öffentlichen Raum. Im Haus kann man sich offener verhalten als draussen; im Haus kennt man sich. Man hat untereinander eine innigere Gemeinschaft als mit den Menschen «draussen». Das Haus steht aber auch für eine (erweiterte) Familie, für eine bestimmte Gruppe von Menschen. Im übertragenen Sinn wird das Wort deshalb nicht nur in der Bibel, sondern auch anderswo beispielsweise für ein ganzes Geschlecht bzw. für eine Dynastie verwendet: Das Haus David, das Haus Jerobeam, das Haus Habsburg etc. An verschiedenen Stellen in der Heiligen Schrift ist auch die Rede vom Haus Israel. In 3.Mose 17 taucht dieser Begriff beispielsweise gleich mehrfach auf. Das Volk Israel nimmt in den Wegen Gottes mit den Menschen eine Sonderstellung ein und innerhalb des Volkes Israel ist Gott besser bekannt gewesen als in den übrigen Völkern, weshalb beide übertragenen Bedeutungen des Begriffes «Haus» auf das Volk Israel zutreffen. Wie vielsagend ist es dann, dass der Herr Jesus nach all dem, wovon Mt 12 berichtet, aus dem Haus hinaus gegangen ist!
Ging der Herr nun einfach in ein anderes Haus? Nein! Er setzte sich an den See. Sowohl im Griechischen als auch im Hebräischen gibt es jeweils nur ein Wort, das gleichermassen «See» und «Meer» bedeutet. Das hebräische Wort «Yam» und das griechische Wort «Thalassa» bezeichnen jede Form einer Wasseransammlung und damit insbesondere Seen und Meere. Ein Meer ist schliesslich auch nichts anderes als ein (sehr) grosser See. Welche Bedeutung hat denn der See bzw. das Meer in der Bibel? «Wehe, ein Getöse vieler Völker; wie das Tosen der Meere tosen sie; und ein Rauschen von Völkerschaften; wie das Rauschen gewaltiger Wasser rauschen sie. Völkerschaften rauschen wie das Rauschen vieler Wasser» (Jes 17,12.13). Das Meer ist ein (überaus treffendes) Bild für die Nationen, denn wie das Meer befinden sich die Nationen in einer ständigen Unruhe; mal geht es auf, mal geht es ab, mal befinden sich die Grenzen hier, mal befinden sie sich dort – und nicht selten wird aus der Tiefe Schlamm und Dreck aufgewühlt. Wenn der Herr Jesus nun das Haus verliess und sich an den See setzte, dann symbolisierte Er also, dass Er sich von Israel ab- und den Nationen zuwandte. Genau das ist ja auch die grosse Aussage von Mt 12! Wir sehen damit, dass diese einfache Handlung, die man leicht überlesen würde, von grosser Symbolkraft ist.
Vers 2
Und es versammelten sich grosse Volksmengen um ihn, sodass er in ein Boot stieg und sich setzte; und die ganze Volksmenge stand am Ufer. Mt 13,2
Wie so oft kam eine grosse Volksmenge zusammen, um dem Herrn Jesus zuzuhören. Man könnte meinen, dass Er in Israel ein gutes Ansehen genossen habe, aber dieser Eindruck täuscht. Die Person des Herrn zog zwar viele Leute an, aber diese Anziehungskraft bestand hauptsächlich aus Sensationslust und aus dem Wunsch, für sich einen Vorteil zu gewinnen. Viele Leute waren einfach dabei, weil quasi alle dabei waren, und viele Leute hofften, etwas von Ihm zu erhalten, sei es die Heilung einer Krankheit, die Befreiung von einem Dämon oder Nahrung. «Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr sucht mich, nicht weil ihr Zeichen gesehen, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und gesättigt worden seid» (Joh 6,26). Was Er zu sagen hatte, zog die Leute nicht an, sondern stiess sie eher ab: «Viele nun von seinen Jüngern, die es gehört hatten, sprachen: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören? … Von da an gingen viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm» (Joh 6,60.66). Als es darum ging, mitten in einer überaus feindlichen Stimmung Stellung zu Ihm als zu einem Gefangenen und (ungerecht) zu Tode Verurteilten zu nehmen, schlug sich praktisch niemand auf Seine Seite.
Genau gleich ist es heute in der Christenheit. Obwohl die grossen Kirchen viele Austritte zu verzeichnen haben, gibt es doch immer noch sehr viele Menschen in Europa, die sich als Christen bezeichnen. Die meisten fühlen sich dem christlichen Glauben oder einer bestimmten Kirche aus Tradition verpflichtet. Sie wurden in dieses System hineingeboren und haben noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, sich davon zu lösen. Sie gehören zwar dazu, aber nicht etwa, weil sie sich bewusst dafür entschieden haben, ihr Vertrauen auf den Herrn Jesus Christus zu setzen, sondern einfach nur, weil sie nichts anderes kennen. Wenn (z.B. an Ostern oder Weihnachten) alle in die Kirche gehen, gehen sie auch. Andere Menschen suchen einen bestimmten Vorteil für sich selbst. Sie wollen auch irgendwo dazu gehören, sie wollen ein gewisses Ansehen geniessen oder sie hoffen, dass sie mit Gott gewissermassen einen Kuhhandel eingehen können: «Ich gehe regelmässig in die Kirche und Du schenkst mir dafür ein angenehmes Leben» (oder so ähnlich).
Es ist bezeichnend, dass der Herr Jesus sich nicht in der Volksmenge aufgehalten, sondern eine gewisse Distanz zwischen sich und die Menschen gebracht hat. Unter wahren Gläubigen hatte Er nie ein Problem mit Nähe. Vom Apostel Johannes wird beispielsweise mehrfach berichtet, wie er seinen Kopf an die Brust Jesu gelehnt hat. Aber wenn Er zu grossen Menschenmengen predigte, dann hielt Er sich eben nicht im Kreise Seiner Vertrauten und Liebsten, sondern mehrheitlich in einem Kreis von Menschen auf, die gar nicht auf eine echte Beziehung zu Ihm aus gewesen sind. «Als er aber zu Jerusalem war, am Passah, auf dem Fest, glaubten viele an seinen Namen, als sie seine Zeichen sahen, die er tat. Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, weil er alle kannte und nicht nötig hatte, dass jemand von dem Menschen Zeugnis gab; denn er selbst wusste, was in dem Menschen war» (Joh 2,23–25).
Vers 3
Und er redete vieles in Gleichnissen zu ihnen und sprach: Siehe, der Sämann ging hinaus zu säen; Mt 13,3
Der Herr Jesus fuhr fort, die Volksmengen zu belehren, aber nun tat Er es auf eine neue Weise, nämlich in Gleichnissen. Während wir in den ersten zwölf Kapiteln des Evangeliums nach Matthäus keine Gleichnisse finden, folgt hier ein Gleichnis auf das andere. Das ist so ein abrupter Wechsel in der Art der Verkündigung gewesen, dass die Jünger es nicht verstanden haben, wie wir noch sehen werden. Was das zu bedeuten hat, werden wir bei der Betrachtung eines Folgeverses noch erörtern. Hier soll nur das Augenmerk nochmals auf diesen Bruch gelenkt werden, der sich durch das Matthäus-Evangelium zieht und den wir in den anderen Evangelien nicht derart deutlich hervorgehoben finden. Für das richtige Verständnis ist es wichtig zu verstehen, dass das Eigentumsvolk Israel seinen Messias verworfen und damit eine Art Zeitenwende eingeläutet hat. Der erste Teil des Matthäus-Evangeliums (bis und mit Kapitel 12) ist deshalb noch überaus jüdisch geprägt, während der zweite Teil des Matthäus-Evangeliums zahlreiche Hinweise auf die christliche Zeit enthält. Wir werden noch sehen, dass Gleichnisse etwas Typisches für die christliche Zeit sind.
Das erste Gleichnis beginnt mit einem Sämann, der hinausging, um zu säen. Wer der Sämann ist und wofür das Säen steht, wird uns in einem späteren Vers vom Herrn Jesus selbst direkt erklärt werden, sodass wir darüber nicht mutmassen müssen. Wie die anderen Gleichnisse auch nimmt dieses Gleichnis Bezug auf eine völlig alltägliche Begebenheit. Der Herr Jesus hat nie über Dinge gesprochen, mit denen die Menschen nichts anzufangen wussten. Oft hat Er hochkomplexe Sachverhalte anhand einfachster alltäglicher Verrichtungen erklärt. Seine Ausführungen sind immer direkt aus dem Leben gegriffen und deshalb grundsätzlich nicht schwer verständlich. Auch dies wird uns in einem der folgenden Verse noch erklärt werden.
Vers 4
und indem er säte, fiel einiges an den Weg, und die Vögel kamen und frassen es auf. Mt 13,4
Der Sämann im Gleichnis tat das Richtige. Er säte den Samen aus. Das Gleichnis enthält keinen Hinweis darauf, dass der Samen fehlerhaft gewesen wäre oder dass der Sämann seine Arbeit falsch getan hätte. Die Erläuterung des Herrn Jesus wird klar machen, dass dies auch gar nicht der Fall sein konnte, denn der Sämann war Er selbst und der Same war das Wort Gottes. Beides ist absolut vollkommen und ohne jeden Makel. Trotzdem hatte das gute Werk keinen hundertprozentigen Erfolg. Ein Teil des Samens fiel nicht auf die vorbereitete Ackererde, sondern an den Weg. Diese Körner sanken nicht in die Erde ein, sondern lagen offen an der Oberfläche, weshalb es für die Vögel ein Leichtes war, sie aufzufressen. Wir werden sehen, dass der Sämann noch weitere Verluste hinnehmen musste, was absolut normal und natürlich ist, wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen. Bei allem, was wir tun, müssen wir gewisse Rückschläge hinnehmen. Bei der Arbeit mit Pflanzen oder Tieren zeigt sich das besonders deutlich. Manchmal reicht eine Woche mit schlechtem Wetter oder sogar nur ein fünf Minuten dauernder Hagelschauer, um die Arbeit eines ganzen Jahres zunichte zu machen. So nimmt das Gleichnis des Herrn also wirklich direkten Bezug auf das echte Leben. Die entscheidende Frage wird sein, was der Grund für diese Verluste ist.
Vers 5
Anderes aber fiel auf das Steinige, wo es nicht viel Erde hatte; und sogleich ging es auf, weil es nicht tiefe Erde hatte. Mt 13,5
Ein Teil der Samen im Gleichnis des Herrn fiel auf steinigen Boden. Man mag sich heute vielleicht fragen, wie es sein kann, dass der Samen nicht allein auf dem Ackerfeld, sondern teilweise auf dem Weg und teilweise auf dem steinigen Boden neben dem Acker ausgebracht wurde, aber für die Zuhörer damals ist das gewiss keine Überraschung gewesen, denn der Samen wurde damals noch von Hand ausgebracht und folglich in schwungvollen Bewegungen breitwürfig auf den Boden geworfen – etwa so, wie man heute Salz streut, wenn die Einfahrt zugeschneit oder vereist ist. Einige Samenkörner waren sehr fein und klein, weshalb es nichts Ungewöhnliches war, dass ein Teil davon nicht auf, sondern neben dem Acker landete.
Wir haben gesehen, dass der Samen, der auf dem Weg landete, gewissermassen sofort «verloren» war, denn die Vögel des Himmels kamen und frassen ihn auf, bevor er keimen konnte. Mit dem Samen, der auf dem steinigen Boden landete, verhielt es sich anders. Da sah es zunächst sogar optimal aus, denn der warme Steinboden förderte eine rasche Keimung. In professionellen Gartenbetrieben werden heute teilweise Bodenheizungen verwendet, die ein rasches Keimen von Samen oder ein rasches Bewurzeln von Stecklingen fördern sollen. Der warme Steinboden ist also eine Art Keimbeschleuniger gewesen. Aber wie ging es dann weiter? Das verrät uns der Folgevers.
Vers 6
Als aber die Sonne aufging, wurde es verbrannt, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. Mt 13,6
Das Problem des steinigen Bodens besteht darin, dass er kein Wasser speichern oder zur Verfügung stellen kann. Er schenkt einer Pflanze zwar angenehm viel Wärme, aber das nützt nichts, wenn die Pflanze dann weder Wasser noch Nährstoffe aufnehmen kann. Die Samen keimen rasch, die Pflanzen entfalten sich prächtig, aber dann verdorren sie auch gleich wieder. Eine Pflanze auf steinigem Boden gleicht einem Strohfeuer, das viel heller strahlt und viel heisser brennt als ein Holzfeuer, aber eben auch sehr viel weniger lang.
Ein Detail ist hier allerdings noch interessant: Im Gleichnis des Herrn Jesus verdorren die Pflanzen nicht einfach so langsam, weil ihnen das Wasser ausgeht, sondern sie verbrennen, sobald die Sonne aufgeht. Im Vordergrund steht also nicht das (unausweichliche) langsame Absterben der Pflanze, sondern ein Ereignis, das zu einem raschen Tod führt. Die Sonne geht auf, die Pflanze verbrennt. Wer selber regelmässig Pflanzen heranzieht, kennt diesen Effekt vielleicht. Wenn die Pflanzen noch jung sind und sich in kleinen Töpfchen befinden, dann kann es ab und zu passieren, dass die prächtigste Jungpflanze an nur einem einzigen heissen Tag verbrennt und abstirbt. Hätte man sie früher in einen grösseren Topf mit mehr guter Erde umgepflanzt, hätte sie den heissen Tag problemlos überstanden. Ja, die Sonne hätte vielleicht sogar zu einem weiteren Wachstumsschub geführt! Aber ohne gut verfügbaren Wasserspeicher kann die Sonnenenergie rasch zu viel des Guten sein.
Vers 7
Anderes aber fiel unter die Dornen; und die Dornen sprossen auf und erstickten es. Mt 13,7
Im Alten Testament gibt es mehrere Stellen, an denen das Volk Israel aufgefordert wird, einen Neubruch zu pflügen (z.B. Hos 10,12). So wird das Anlegen eines neuen Ackers bezeichnet. Dabei wird die Erde eines Stück Landes komplett aufgerissen; die oberste Schicht wird umgewälzt. Dadurch wird alles ausgerissen, was zuvor auf diesem Stück Land gewachsen ist. Zugleich wird die oberste Erdschicht gut durchlüftet, was wichtige Prozesse im Erdboden in Gang setzt, von denen die spätere Saat profitiert. Das Wesentliche ist aber, dass alle vorherigen Pflanzen entfernt werden. So folgt man eben auch dem HERRN nach: Man beginnt nicht einfach, mal hier oder da was Gutes zu tun, sondern man räumt zuerst im eigenen Leben auf, und erst danach ist man bereit für gute Werke. Diese Reihenfolge sehen wir z.B. in Jes 1,16.17: «Wascht euch, reinigt euch! Schafft mir eure bösen Taten aus den Augen, hört auf, Böses zu tun! Lernt Gutes tun, fragt nach dem Recht, weist den Unterdrücker zurecht! Schafft Recht der Waise, führt den Rechtsstreit der Witwe!»
Dem Ackerrand entlang bleibt die Vegetation allerdings unangetastet. Da wächst weiterhin alles Mögliche. Wenn der gute Same dort landet, beginnt ein Wettkampf um Wasser, Nährstoffe und Licht: Jene Pflanze, die rascher als die anderen Pflanzen wächst, wird sich durchsetzen; die anderen werden eingehen. Was wir auf unseren Äckern aussäen, ist oft sogenannt konkurrenzschwach. Das bedeutet, dass sich die gesäten Pflanzen gegen andere Pflanzen in der Regel nicht durchsetzen können, den Wettkampf verlieren und eingehen werden. Genau das beschreibt der Herr Jesus hier im Gleichnis: Der Same, der unter die Dornen fällt, geht zwar auf, aber die Dornen wachsen wesentlich schneller und ersticken die Jungpflanzen. Das Saatgut hat dort keine Chance, sich durchzusetzen und richtig zu entwickeln.
Vers 8
Anderes aber fiel auf die gute Erde und gab Frucht: das eine hundert-, das andere sechzig-, das andere dreissigfach. Mt 13,8
Wenn wir die Tätigkeit eines Sämanns beschreiben müssten, würden wir wohl zunächst schildern, wie er den guten Samen auf die gute Ackererde ausstreut. Nur vielleicht würden wir ergänzen, dass leider ein Teil des Samens auf den Weg, auf den steinigen Felsboden und unter die Dornen gefallen ist. Ganz anders hat der Herr Jesus die Tätigkeit des Sämanns beschrieben: Erst nachdem Er ausführlich beschrieben hatte, wie ein Teil des guten Samens an den unmöglichsten Orten gelandet ist, hat Er kurz festgehalten, dass natürlich auch ein Teil des Samens auf die gute Erde gefallen ist und Frucht gegeben hat. Als Zuhörer oder Leser atmet man gewissermassen auf und freut sich, dass nicht alles daneben gegangen ist. Wir werden bei der Auslegung des Gleichnisses aber sofort erkennen, dass die vom Gleichnis vorgestellte Wahrheit viel eher der Schilderung des Herrn als einer «gewöhnlichen» Tätigkeit eines Sämanns entspricht, die zu 80 oder 90 Prozent Erfolg bringt.
Interessant ist, dass es bei jenen Pflanzen, die auf die gute Erde fallen, Unterschiede gibt. Die Samen auf dem Weg werden nach der Schilderung des Herrn Jesus allesamt gefressen, jene auf dem steinigen Boden verbrennen allesamt und jene unter den Dornen werden allesamt erstickt. Da gibt es keinerlei Unterschiede. Man würde nun erwarten, dass alle Pflanzen, die auf dem guten Ackerboden wachsen, allesamt gleichermassen Frucht bringen. Aber einige bringen nur knapp einen Drittel so viel wie die besten Pflanzen. Für jemand, der sich um Pflanzen kümmert, ist das wenig überraschend, denn in einer Reihe von zehn identischen Pflanzen, die alle gleich gepflegt werden, gibt es immer einige Pflanzen, die überdurchschnittlich gut wachsen und Frucht bringen, aber auch einige, die eher nur vor sich hin kümmern. Auch hierin liegt eine geistliche Belehrung für uns, mit der wir uns bei der Auslegung des Gleichnisses befassen werden, so Gott will.
Vers 9
Wer Ohren hat, der höre! Mt 13,9
Mit einem ernsten Aufruf hat der Herr Jesus Sein Gleichnis abgeschlossen. Er hat die Zuhörer eindringlich aufgefordert, das Gehörte gut zu verarbeiten und darüber nachzusinnen. Wir finden diesen kurzen, ernsten Aufruf etwa siebenmal im Neuen Testament. Er zeigt eine wichtige Wahrheit an, die wir auf das ganze Wort Gottes beziehen können: Wenn der HERR zu uns spricht, dann geht es Ihm nicht einfach darum, gewisse Informationen zu vermitteln. Wenn wir die Bibel studieren, sammeln wir entsprechend auch nicht einfach Informationen, die wir irgendwo in unserem Gehirn abspeichern. Bibelstudium dient nicht in erster Line der Wissens- oder Informationsvermittlung, sondern einerseits der Beziehungspflege und andererseits der Anleitung zu einem Gott wohlgefälligen Leben.
Der HERR hat den Menschen für die Gemeinschaft geschaffen – nicht nur für die Gemeinschaft untereinander, sondern auch für die Gemeinschaft mit Gott. Von Anfang an ist es die Absicht Gottes gewesen, eine Beziehung zu jedem einzelnen Menschen zu pflegen. Ein wesentlicher Teil einer Beziehung besteht darin, dass man einander immer besser kennen lernt. Die Qualität der Beziehung nimmt zu, je mehr wir unser Gegenüber verstehen, je besser wir seine Gedanken und Empfindungen nachvollziehen können. Durch die Bibel spricht der HERR deshalb sehr viel über Sich selbst. Wer die Bibel aufmerksam studiert, wird Gott immer besser kennen lernen. Das ist ganz ähnlich wie mit einem Freund oder einem Ehepartner, den man durch viele Gespräche immer besser kennenlernt.
Andererseits lernen wir durch die Bibel aber auch, wie Gott sich den Menschen gedacht hat, was Gott gefällt und was nicht. Wir werden immer wieder auf Stellen stossen, die direkt in unser Leben hinein sprechen, die uns zeigen, dass Gott sich gewisse Verhaltensweisen von uns wünscht und dass Er andere Verhaltensweisen nicht gutheissen kann. Ein Beispiel: Ich lese in der Bibel, dass es Gott nicht gefällt, wenn wir lügen. Wenn ich diese Information einfach irgendwo abspeichere, nützt das herzlich wenig. Ja, selbst wenn ich allen Menschen um mich herum erkläre, dass es Gott nicht gefällt, wenn wir lügen, ist der Nutzen noch gering! Den vollen Nutzen meines Bibelstudiums habe ich erst, wenn ich mein eigenes Verhalten hintersinne, feststelle, dass ich in gewissen Situationen regelmässig lüge, und dann den Wunsch fasse, damit aufzuhören.
Wenn wir nochmals auf den Aufruf des Herrn Jesus zurückkommen, stellen wir vielleicht fest, dass er an eine überflüssig erscheinende Bedingung angeknüpft ist: Wenn jemand Ohren hat … Wir haben doch alle Ohren! Aber genau das ist der springende Punkt: Wir sind allesamt angesprochen. Man könnte nun einwenden, der Herr Jesus hätte die Bedingung folglich weglassen können. Aber damit würde uns etwas fehlen. Haben wir schon einmal darüber nachgedacht, wofür wir Ohren von unserem Schöpfer erhalten haben? Die Antwort ist klar: Damit wir hören können. Diese Fähigkeit verpflichtet uns aber. In erster Linie verpflichtet sie uns gegenüber Demjenigen, der uns gemacht und uns die Ohren gegeben hat, nämlich Gott. Weder die Ohren noch sonst etwas ist uns einfach so gegeben worden oder damit wir es ganz nach unseren eigenen Vorstellungen für uns selbst nutzen. Alles hat seinen Sinn. Alles ist uns von Gott anvertraut worden. Und alles soll in erster Linie nach Seinen Vorstellungen genutzt werden. Der Schöpfer hat ein Anrecht auf Seine Geschöpfe!
Vers 10
Und die Jünger traten hinzu und sprachen zu ihm: Warum redest du in Gleichnissen zu ihnen? Mt 13,10
Die Jünger waren verwundert, denn bislang hatte der Herr Jesus immer offen und direkt zu den Menschen gesprochen. Aber nun verwendete Er plötzlich Gleichnisse. Er verschlüsselte gewissermassen Seine Botschaft, sodass selbst die Jünger damals, die Ihn bereits gut kannten, Probleme hatten, den Sinn des Gesagten zu erfassen. Wir erfinden also nichts, wenn wir betonen, dass es einen Bruch im Matthäus-Evangelium gibt. Die Jünger haben dies damals bereits deutlich gemerkt und sich darüber verwundert. Auf ihre Frage haben sie eine ausführliche Antwort erhalten, wie wir in den folgenden Versen sehen werden.
Vers 11
Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Weil euch gegeben ist, die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu wissen, jenen aber ist es nicht gegeben; Mt 13,11
Eine seltsame Antwort! Der Herr Jesus redete in Gleichnissen zu den Menschen, weil es den Jüngern gegeben war, die Geheimnisse des Königreiches der Himmel zu wissen, den andern Menschen jedoch nicht – was soll das bedeuten? Für die Beantwortung dieser Frage müssen wir kurz zurückblicken: Johannes der Täufer und der Herr Jesus waren in Israel aufgetreten und hatten gepredigt, dass das Königreich der Himmel nahe gekommen war. Israel hatte so lange auf seinen Messias-König und auf dessen Königreich voll Segen gewartet und nun war der König gekommen. Daran war nichts geheimnisvoll und nichts verschlüsselt. Jeder Jude konnte sofort verstehen, worum es ging. Nur wir haben teilweise Schwierigkeiten, das zu verstehen, weil die Kirchenlehre rund 1.800 Jahre lang (etwa ab dem Jahr 100 n.Chr. bis zum späten 19. Jahrhundert) ein völliges Durcheinander angerichtet und alle Aussagen über Israel und über die Gemeinde wild vermischt hat. Dann hat Israel aber seinen Messias verworfen. Und diese Verwerfung hat zur Folge gehabt, dass ein neuer Teil des grossen Planes Gottes offenbart worden ist, der zwar schon lange (sogar vor Anbeginn der Zeit!) gefasst, aber nie verkündet worden war. Diese «Erweiterung» des Planes Gottes kann, wenn wir uns weiterhin nur mit dem Königreich des Himmels, also mit dem Tausendjährigen Reich für Israel, beschäftigen, als eine zusätzliche Phase verstanden werden. Damit umfasst der Vorsatz Gottes bezüglich Seines Königreiches auf dieser Erde (je nach Zählweise) die folgenden Phasen: Zuerst ist das Königreich verheissen worden, dann ist es nahe gekommen, aber noch bevor es anbrechen konnte, ist es in eine geheimnisvolle Zwischenphase gegangen, die bis heute andauert, weshalb es erst in der Zukunft zu einer völligen und definitiven Erfüllung der Verheissungen in der letzten, tausend Jahre dauernden Phase kommen wird. Alles, was nun mit dieser neuen Zwischenphase zu tun hat, ist geheimnisvoll, weil es sich um etwas handelt, das im Alten Testament nicht angekündigt bzw. offenbart worden ist.
Die Gleichnisse, die wir hier in Mt 13 vor uns haben, beschäftigen sich mit dieser geheimnisvollen Zwischenphase. Sie stellen uns also die Geheimnisse des Königreichs der Himmel vor und beschreiben uns, wie es sich in dieser Zeit verhalten wird. Passend zum geheimnisvollen Charakter dieser neu offenbarten Phase hat der Herr Jesus diese Wahrheiten nicht mehr klar, einfach und für jeden Juden verständlich, sondern verschlüsselt in Gleichnissen offenbart. Wir werden noch sehen, dass dies gewissermassen ein Gericht Gottes über die Juden gewesen ist: Weil sie den Messias nicht annehmen wollten, sollten sie Sein Wort nicht länger verstehen. Das ist ein allgemeiner Grundsatz, dem wir immer wieder begegnen: Wer Gott und Seinen Christus ablehnt, wird auch das Wort Gottes nicht verstehen. Wer dagegen den Herrn Jesus liebt, wie die Jünger Ihn geliebt haben, der wird verstehen. Wir müssen also nicht meinen, dass der HERR einfach einer bestimmten Gruppe von Menschen Verständnis geschenkt und allen anderen verweigert habe, wie es im Calvinismus teilweise gelehrt wird. Das Unverständnis ist vielmehr die Folge der Verwerfung des Messias gewesen. Die Jünger hatten Ihn nicht verworfen und wurden deshalb nicht mit Unverständnis geschlagen. Ihnen war es gegeben, die Geheimnisse zu verstehen.
Vers 12
denn wer hat, dem wird gegeben und überreichlich gewährt werden; wer aber nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, genommen werden. Mt 13,12
Dieser Vers erscheint gewiss den meisten von uns als schwer verständlich und zudem ziemlich «unchristlich». Muss man nicht von jenem, der hat, etwas nehmen und es jenem geben, der nicht hat, damit am Ende alle gleich viel haben? Nein! Wohl ist es wahr, dass ein Mensch nichts haben kann, ausser es werde ihm von Gott aus Gnade (also unverdient) gegeben (Joh 3,27; Jak 1,17; 1.Kor 4,7). Aber jeder Mensch steht vor Gott in der Verantwortung, das, was ihm dargereicht wird, anzunehmen, denn eine Schenkung kommt erst zustande, wenn sie angenommen wird. Ich kann jemandem eine Banknote hinhalten, aber wenn er sie nicht nehmen will, kann ich sie ihm nicht schenken, selbst wenn ich es noch so sehr möchte.
Jeder Mensch besitzt vieles, das er von Gott angenommen hat, ohne dass ihm dies bewusst ist. Unser Leben ist uns von Ihm geschenkt worden, genauso wie die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, die Nahrung, die Kleidung, das Dach über dem Kopf und vieles mehr. Das meiste davon behandeln wir so, wie wenn es selbstverständlich wäre, dass uns das zur Verfügung stehen müsste. Wenn uns jemand sagt, dass Gott uns das geschenkt habe, lächeln wir nur mitleidig. Von anderen Dingen meinen wir, wir hätten sie uns selbst erarbeitet. Aber wer hat uns die Möglichkeiten, die Kraft und das Gelingen geschenkt? So gibt es also niemanden, der nichts hat. Leider gibt es aber viele, die nicht haben im Sinne unseres Verses hier. Das sind Menschen, die Gott offen misstrauen und deshalb das, was Er ihnen entgegenstreckt, nicht annehmen wollen. Alles, von dem sie merken, dass es von Gott kommt, weisen sie ab. Solche Menschen werden am Ende alles verlieren. Andere dagegen, die gerne und willig von Gott genommen haben, werden immer mehr erhalten, denn Gott ist gütig und freigiebig.
Wir haben es hier mit einem Prinzip zu tun, das auch das Leben eines echten Christen entscheidend prägt. Für unser Glaubensleben ist nicht in erster Linie (wie wir oft meinen) massgebend, was wir geben, sondern vielmehr, was wir nehmen. Ein Christ, der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, alles dankbar aus der Hand Gottes zu nehmen, was ihm dargereicht wird, und der den Wunsch hat, noch sehr viel mehr von Gott zu empfangen, wird im Glauben wachsen. Denn der HERR ist gütig! Wo Er ausgestreckte, offene Hände findet, füllt Er sie. In einem normalen Christenleben muss es folglich aufwärts gehen. Wenn ein Christ sich aber beginnt zu verschliessen, aus welchen Gründen auch immer, wenn er aufhört, das anzunehmen, was ihm in Gnade dargereicht wird, dann wird es in seinem Leben abwärts gehen.
Genauso hat es sich mit Israel verhalten. Die Israeliten waren besonders bevorzugt. So sind diesem Volk beispielsweise die Aussprüche Gottes (das Alte Testament) anvertraut worden (Röm 3,2). Als der HERR den Israeliten den lange verheissenen Messias geben wollte, haben sie aber ihre Arme verschränkt und diese grösste aller Gaben, die unaussprechliche Gabe (2.Kor 9,15), abgelehnt. Da ist ihnen das, was sie hatten, genommen worden. Der HERR sprach nun nicht mehr deutlich und offen, sondern unverständlich zu ihnen, sodass sie Ihm nicht mehr folgen konnten und den Anschluss an die fortschreitende Offenbarung verloren. Sehr ernst!
Vers 13
Darum rede ich in Gleichnissen zu ihnen, weil sie sehend nicht sehen und hörend nicht hören noch verstehen; Mt 13,13
Im Buch der Sprüche gibt es einen sehr interessanten Vers: «Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verbergen, die Ehre der Könige aber, eine Sache zu erforschen» (Spr 25,2). Während es für uns eine Ehre ist, eine Sache zu erforschen, ist es Gottes Ehre, eine Sache zu verbergen. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Er Spielchen mit uns spielen würde, sondern vielmehr, dass Er Sich nicht zum Hampelmann machen lässt. Wie viele Menschen haben schon frech gefordert, dass Er Sich auf diese oder jene Weise zeigen und zu erkennen geben müsse. Muss Er wirklich? Nein! Das Erstaunliche und zugleich Beeindruckende ist, dass Gott Sich sehr deutlich offenbart und zeigt, aber so, dass rebellische Menschen jeden Beleg leugnen (und sich dabei so klug fühlen) können. Wir sehen, dass es für die Menschen um uns herum ein Leichtes ist, jeden Beweis für Gottes Existenz in Frage zu stellen. Manchmal könnten wir fast verzweifeln, weil alles so leicht zu leugnen ist. Aber einmal werden all diese Menschen vor Gott stehen und zugeben müssen, dass sie gesehen und gehört haben und dass sie hätten verstehen und erkennen müssen. Niemand wird sagen können, dass Gott Sich versteckt habe! Genauso hat der Herr Jesus zu Seinem widerspenstigen Volk gesprochen. Er hat öffentlich und deutlich geredet. Sie haben gesehen und gehört. Die Gleichnisse können verstanden werden. Aber durch ihre Weigerung haben sich die Israeliten in eine Lage versetzt, in der sie das Gesprochene und Gezeigte knapp nicht mehr verstehen konnten. Es prallte an ihnen ab. Sie sahen und sie hörten, aber sie verstanden nicht. Sie fuhren fort, im Herrn Jesus einen Feind oder einen Verrückten zu sehen, aber sie werden einmal zugeben müssen, dass sie eigentlich hätten verstehen müssen. «Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verbergen» (Spr 25,2a).
Vers 14
und es wird an ihnen die Weissagung Jesajas erfüllt, die lautet: Mit Gehör werdet ihr hören und doch nicht verstehen, und sehend werdet ihr sehen und doch nicht wahrnehmen; Mt 13,14
Die Wege des HERRN sind wundersam und hoch erhaben! Weil Israel den Messias Jesus verworfen hatte, hat Gottes Plan gewissermassen eine Wendung genommen. Wir haben uns bei der Betrachtung der vergangenen Verse intensiv mit der menschlichen Seite, der menschlichen Verantwortung, den Konsequenzen des menschlichen Versagens befasst. Aber hier haben wir ein damals etwa 700 Jahre altes Zitat aus dem Buch Jesaja vor uns, das genau von dem spricht, was damals geschehen ist! Aus menschlicher Sicht hat Gottes Plan eine Wendung genommen, aber aus göttlicher Sicht war das alles schon längst in Gottes Plan enthalten gewesen! Der HERR hatte all das nicht nur vorhergesehen, sondern bereits längst fest eingeplant. Er kommt nie in die Verlegenheit, auf irgendeine Entwicklung re-agieren zu müssen, denn Er ist stets der Agierende. Nichts kann Ihn überraschen, nichts kann Ihn dazu bringen, Seine Pläne zu ändern, nichts kann Ihn daran hindern, Seine Pläne auszuführen.
Ja, was nun? Haben die Israeliten in ihrer Verantwortung des Heil (für eine lange Zeit) von sich gestossen oder hätten sie es damals ohnehin nicht erhalten können, weil Gott andere Pläne gehabt hat? Wir können diese beiden Erklärungen mit unserem begrenzten und gefallenen Verstand nicht zusammenbringen. Aus unserer Sicht muss das alles entweder längst geplant oder aber die Folge menschlichen Versagens gewesen sein. Biblisch gesehen ist beides gleichzeitig wahr. Es gibt kein: «Was wäre, wenn … ?» Alles hat so kommen müssen und trotzdem sind die Menschen voll verantwortlich für ihre Entscheidungen und Handlungen. Wir können das nicht fassen, aber das müssen wir auch nicht. Wir müssen nur glauben, nur vertrauen. Und wir sollten anbeten – anbeten unseren Gott, der so gross, so weise und so mächtig ist.
Vers 15
denn das Herz dieses Volkes ist dick geworden, und mit den Ohren haben sie schwer gehört, und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile. Mt 13,15
Hier endet das Zitat aus dem etwa 700 v.Chr. verfassten Buch Jesaja. Schon damals hatten die Israeliten längst eigene Wege eingeschlagen und den Willen Gottes ignoriert. Sie haben schon damals mit den Ohren schwer gehört und ihre Augen verschlossen. Das Hauptproblem war aber, dass ihr Herz dick geworden war. Es hatte nicht entschieden für den HERRN geschlagen und darin lag das ganze Übel.
Wir machen uns oft falsche Vorstellungen. Wir denken, dass es schlimm sei, wenn ein Mensch offen gegen Gott rebelliere, aber dass es okay sei, wenn ein Mensch sich neutral gebe. Dabei ist bereits eine neutrale Haltung gegenüber Gott Lieblosigkeit und Rebellion. Gerade hierin ist das Wesen von Sünde begründet, dass wir uns nämlich nicht um Gott und Seinen Willen scheren, sondern unser eigenes Ding durchziehen, unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen führen, als ob Gott nichts zu melden hätte.
Heute sind in unserer Gesellschaft viele Menschen «neutral» gegenüber Gott, wie es die Israeliten zur Zeit von Jesaja gewesen sind. Wenn dann aber Gott ganz persönlich in ihr Leben tritt, wie Er es in der Person Jesu Christi bei Seinem Volk Israel getan hat, dann schlägt die Neutralität plötzlich in Feindschaft um, denn schliesslich will man sich ja nicht in sein Leben funken lassen. Die entscheidende Frage, die sich jeder Mensch stellen muss, lautet: Wer ist Jesus Christus für mich ganz persönlich?
Vers 16
Glückselig aber eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören; Mt 13,16
In gewisser Weise ist es doch überaus erstaunlich, dass zwar all jene Israeliten dasselbe gesehen und dasselbe gehört haben, dass der Effekt des Gesehenen und Gehörten aber doch so unterschiedlich gewesen ist. Die Mehrheit der Zuhörer hat nichts mit dem Gesehenen und Gehörten anfangen können, aber die Jünger des Herrn Jesus sind von Ihm selbst als glückselig (die höchste Stufe des Glücks) gepriesen worden, weil sie wirklich gesehen und gehört haben. Für sie war das Gesehene und das Gehörte pures Gold – ja, mehr als das! Der Folgevers wird das noch eindrücklich bekräftigen.
Leider machen wir bis heute dieselbe Erfahrung: Wir haben gesehen, gehört und verstanden. Wir wissen tief in unserem Herzen, dass der Gott der Bibel der Schöpfer und Erhalter aller Dinge ist, dass wir (auf uns selbst gestellt) verloren gewesen sind und dass Er uns gerettet hat. Wir wissen das so sicher, wie wir wissen, dass die Sonne auch heute wieder aufgehen wird. Aber die meisten Menschen um uns herum sind wie blind und taub. Sie verstehen nicht, was wir ihnen vermitteln wollen, wenn wir mit ihnen über unseren geliebten Herrn Jesus Christus sprechen. Sie wollen nicht akzeptieren, dass sie schuldig sind vor Gott. Sie können mit dem Gesagten nichts anfangen und oft verstehen sie uns komplett falsch. Wie kann das sein? Sprechen wir so schlecht? Nein, das Problem liegt darin, dass sich das Wort Gottes nicht an den Verstand, sondern an das Herz und an das Gewissen wendet. Wo es auf ein offenes Herz trifft, da kann es frei wirken, aber wo das Herz verschlossen ist, prallt es (vermeintlich) wirkungslos ab. Deshalb sind teilweise die einfachsten Gemüter und sogar geistig (stark) eingeschränkte Menschen problemlos in der Lage, den Kern der biblischen Botschaft zu erfassen, während andererseits selbst die klügsten Köpfe einfach nicht verstehen können, worum es wirklich geht. Es ist eben keine Frage des Intellektes, sondern eine Frage des Willens, der Aufrichtigkeit und des Herzens!
Vers 17
denn wahrlich, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, was ihr anschaut, und haben es nicht gesehen; und zu hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört. Mt 13,17
Wenn wir die Menschheitsgeschichte im Überblick betrachten, dann können wir eine Entwicklung beobachten. Damit ist nicht der technische Fortschritt oder eine zunehmende «Zivilisation» gemeint, sondern die Umsetzung des göttlichen Ratschlusses. Schon vor der Grundlegung der Welt hat Gott einen bestimmten Plan gefasst. Diesen hat Er dann nach und nach in die Tat umgesetzt, wobei alle Fäden dieses Planes auf einen bestimmten Höhepunkt zugelaufen sind. Im Laufe der Jahrhunderte ist immer mehr von diesem Plan erkennbar geworden.
Besonders den alttestamentlichen Propheten hat der HERR dann sehr viele Details über die künftigen Ereignisse anvertraut. So heisst es im ersten Brief des Apostels Petrus: «Im Hinblick auf diese Rettung suchten und forschten Propheten, die über die an euch erwiesene Gnade weissagten. Sie forschten, auf welche oder auf was für eine Zeit der Geist Christi, der in ihnen war, hindeutete, als er die auf Christus zukommenden Leiden und die Herrlichkeiten danach vorher bezeugte. Ihnen wurde es offenbart, dass sie nicht sich selbst, sondern euch dienten im Blick auf das, was euch jetzt verkündet worden ist durch die, welche euch das Evangelium verkündigt haben im Heiligen Geist, der vom Himmel gesandt ist, in welche Dinge Engel hineinzuschauen begehren» (1.Petr 1,10–12). Den Propheten war es durchaus bewusst, dass sie nicht für ihre eigene, sondern für eine spätere Zeit weissagten. Sie hätten gerne mehr gewusst oder es selbst erlebt, aber dieses Vorrecht war ihnen verwehrt.
Erst die Geburt Jesu Christi läutete die «Fülle der Zeit» (Gal 4,4), den Höhepunkt der Menschheitsgeschichte ein. Unser geliebter Herr und Heiland ist das Kernstück des göttlichen Plans, das Zentrum des göttlichen Ratschlusses, der Dreh- und Angelpunkt. Seine Menschwerdung ist eines der grössten Wunder, die diese Erde je gesehen hat. Während Seiner Zeit hier auf der Erde hat Er den Vater in den Himmeln offenbart bzw. bekannt gemacht. Seine Jünger hatten das grosse Vorrecht, das zu sehen und das zu hören, was viele Propheten und Gerechte so gerne gesehen und gehört hätten. Nach Seinem Tod, Seiner Auferstehung und Seiner Himmelfahrt hat jenes Zeitalter begonnen, in dem Gott ganz besonders Seine «mannigfaltige Weisheit» (Eph 3,10) kundtut – die «Erfüllung der Zeiten» (Eph 1,10). In dieser ganz besonderen Zeit dürfen auch wir leben, denn sie hat mit Pfingsten begonnen und sie wird erst mit der Entrückung der wahren Gläubigen enden, die noch aussteht, aber jederzeit stattfinden könnte.
Wir sind also ebenso glückselig wie die Jünger des Herrn Jesus damals! Auch uns ist es gegeben, den vollen Ratschluss Gottes zu hören und zu verstehen. Die Offenbarung Gottes über die jetzige Zeit hat mit dem Gleichnis vom Sämann begonnen, das der Herr Jesus Seinen Jüngern damals sogleich ausgelegt und erklärt hat, wie wir in den Folgeversen sehen werden. Auch die anderen Gleichnisse in Mt 13 betreffen die christliche Zeit. Sie sind deshalb für uns von ganz besonderem Interesse.
Vers 18
Hört nun ihr das Gleichnis vom Sämann: Mt 13,18
Der Herr Jesus hatte das Gleichnis vom Sämann der gesamten Volksmenge erzählt, aber die Deutung des Gleichnisses ist nur für die Jünger bestimmt gewesen: «Hört ihr nun». Wir haben bereits an Spr 25,2 gedacht, wo es heisst, dass es die Ehre des HERRN ist, eine Sache zu verbergen. Die Bedeutung dieser Stelle ist, mit aller Ehrfurcht ausgedrückt, dass der über alles erhabene HERR Sich gewiss nicht zu unserem Hampelmann machen lassen muss. Wir haben kein Anrecht darauf, dass Er uns alles erklärt oder dass Er uns alles so mitteilt, wie wir es gerne hätten. Er spricht deutlich, aber auf Seine Weise. Wir müssen uns darauf einstellen, nicht umgekehrt.
An einer anderen Stelle heisst es: «Das Geheimnis des HERRN ist für die, welche ihn fürchten» (Ps 25,14). Den HERRN fürchten bedeutet, Ehrfurcht vor Ihm zu haben und zu wissen, dass man mit Ihm keine Spielchen spielen kann. «Die Furcht des HERRN bedeutet, das Böse zu hassen» (Spr 8,13). Wer den HERRN auf diese Weise fürchtet, den zieht Er in Sein Vertrauen. Die Furcht des HERRN ist gewissermassen der Schlüssel, der die Tür zum Verständnis des Wortes Gottes öffnet: «Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis» (Spr 1,7). Die Jünger haben den Herrn Jesus in diesem Sinne gefürchtet, was von der Volksmenge nicht gesagt werden kann. Deshalb hat Er sie ins Vertrauen gezogen und ihnen das Gleichnis vom Sämann ausgelegt, während die Volksmenge nur das Gleichnis gehört hat. Willst auch Du den HERRN besser kennen lernen? Dann wende Dich entschieden vom Bösen!
Vers 19
Sooft jemand das Wort vom Reich hört und nicht versteht, kommt der Böse und reisst weg, was in sein Herz gesät war; dieser ist es, bei dem an den Weg gesät ist. Mt 13,19
Nun folgt also die Auslegung des Gleichnisses vom Sämann, wobei der eigentliche Kernpunkt allerdings nur in äusserster Kürze erwähnt wird, nämlich, wovon das Aussäen des Samens denn eigentlich spricht. Diesbezüglich sind drei Aspekte von wesentlicher Bedeutung: Wer ist der Sämann, was ist der Same und was ist der Acker? Der Herr Jesus hat nur eine dieser drei Fragen ausdrücklich beantwortet, nämlich was der Same ist. Im Gleichnis wird Samen ausgesät, in der Auslegung wird das Wort vom Reich der Himmel verkündigt. Das Aussäen ist also das Predigen des Evangeliums. Was der Acker ist, wird nur angedeutet, denn das «Zielfeld» wird so vage wie nur möglich als quasi «irgendjemand» umschrieben. Daraus können wir schliessen, dass es nicht um eine bestimmte Personengruppe (z.B. die Israeliten), sondern grundsätzlich um alle Menschen gleichermassen geht. Nun enthält das Kapitel 13 des Evangeliums nach Matthäus aber noch weitere Gleichnisse mit ähnlichen Bildern. Eines dieser Gleichnisse betrifft wiederum einen Acker, auf dem Samen ausgestreut wird. In Seiner Auslegung dieses Gleichnisses hat der Herr Jesus klar und deutlich gesagt: «Der den guten Samen sät, ist der Sohn des Menschen, der Acker aber ist die Welt» (Mt 13,37.38). Das bestätigt, dass der Acker alle Menschen umfasst. Zudem lernen wir, dass der gute Sämann niemand Geringeres als der Herr Jesus selbst ist. Fassen wir also zusammen: Im Gleichnis vom Sämann geht es um den Herrn Jesus, der der ganzen Welt das Evangelium bezeugt.
Jemand könnte einwenden, dass der Herr Jesus nur für sehr kurze Zeit und nur in einer sehr begrenzten Gegend das Evangelium gepredigt habe. Das stimmt. Aber anschliessend hat Er Seine Jünger an Seiner Statt ausgesandt, diesen Dienst fortzusetzen (Mt 28,19.20; Mk 16,15); bis heute sind sie Botschafter an Christi Statt (2.Kor 5,20). Das gute Same wird also bis heute weiter ausgesät. Es ist wichtig, das zu verstehen, denn dieses – grundlegende – Gleichnis beschreibt, wie auch die anderen Gleichnisse in Mt 13, welche Aspekte die gegenwärtige christliche Zeit kennzeichnen. Unsere christliche Zeit ist also ganz wesentlich dadurch geprägt, dass das Evangelium gepredigt wird.
Der Same wird auf den Boden gestreut. Hier in diesem Gleichnis nimmt der Boden eine entscheidende Bedeutung ein, denn die Wirkung des Samens hängt vom Zustand des Bodens ab. Zunächst haben wir den Weg vor uns. Der Same, der auf den Weg fällt, wird von den Vögeln des Himmels gefressen, was bedeutet, dass der Böse (der Teufel und seine Dämonen) kommt und wegreisst, was in ein menschliches Herz gesät worden ist. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass auf einem Weg fast nichts wachsen kann. Der Grund dafür liegt darin, dass der Boden verdichtet ist. Die einfachste Form eines Weges ist ja auch nichts anderes als festgetretener oder regelmässig befahrener Boden. Wir können das mit einem verhärteten Herzen vergleichen. Ein solches Herz ist bei Menschen zu finden, die sich ihr eigenes Weltbild bereits vollständig selbst festgelegt haben und durchaus unwillig sind, sich nochmals Gedanken über Gott und sich selbst zu machen. Das müssen nicht zwingend Atheisten (Gottesleugner) sein. Auch religiöse Menschen können ein verhärtetes Herz haben. Oft wird z.B. ein evangelistisches Gespräch freundlich mit der Begründung abgelehnt, man gehöre zur römisch-katholischen Kirche und wolle deshalb nichts weiter wissen. Entscheidend ist nicht, ob ein Mensch religiös ist oder nicht, sondern vielmehr, ob er bereit ist, sein Herz dem Wort Gottes zu öffnen. Wo das nicht der Fall ist, hat der Teufel leichtes Spiel. Er muss nach einer Predigt des Evangeliums nur für ein wenig Ablenkung sorgen und schon ist alles wieder vergessen, was der Mensch gehört hat.
Vers 20
Bei dem aber auf das Steinige gesät ist, dieser ist es, der das Wort hört und es sogleich mit Freuden aufnimmt; Mt 13,20
Ein steiniger Boden ist, wie bereits erwähnt, ebenfalls keine gute Grundlage für Pflanzen. Die in den Steinen gespeicherte Wärme lässt die Pflanzensamen zwar besonders schnell keimen, aber die fehlende Feuchtigkeit wird sich bald als ein grosses Problem erweisen. Während das gute Wort Gottes bei Menschen, deren Herzen verhärtet sind, gar nichts bewirkt, scheint die Wirkung bei Menschen, deren Herzen steinern, aber «gelockert» sind, umso stärker zu sein. Diese Menschen würden sich wohl als «offen für alles» bezeichnen. Sie sind begeisterungsfähig und machen bei allen möglichen Dingen mit, aber unter dieser oberflächlichen Lockerheit befindet sich nur Stein. Diese Menschen lassen nichts unter die Oberfläche gehen und sind nicht bereit, sich wirklich tiefgehend mit einer Sache zu beschäftigen. So, wie sie sich für alles Mögliche begeistern, scheinen sie sich auch für das Evangelium zu begeistern. Sie nehmen das Wort sogleich, also sofort, mit Freuden auf. Aber der Folgevers wird zeigen, dass sie nicht gewillt sind, das Wort Wurzeln in ihren Herzen schlagen zu lassen respektive ihr Herz zu durchdringen.
Leider trifft sich eine solche Neigung nur allzu gut mit dem Wunsch nach Anerkennung und Bestätigung, den wir alle hegen. Wenn wir jemandem das Wort Gottes predigen und diese Person dann sofort mit Begeisterung und Zustimmung reagiert, sind wir oft viel zu schnell zufrieden und glücklich über einen anscheinend erzielten Erfolg. Nur zu gern wollen wir solche Reaktionen erleben! Zwar ist es auch nicht gut, wenn wir geradezu paranoid sind und alles ständig in Frage stellen, aber wenn jemand sofort mit Freude und Begeisterung auf das Evangelium reagiert, ist es in aller Regel doch gut, vorsichtig zu sein. Dringt das Evangelium wirklich durchs Herz, dann ist nicht Freude und Begeisterung, sondern Traurigkeit und Zerbruch die normale Reaktion. Der Mensch erkennt dann nämlich, dass er in allem falsch gelegen, Gott zutiefst verletzt und sich selbst sehr geschadet hat, ohne dass er in der Lage wäre, irgendetwas davon wieder in Ordnung zu bringen. Auch wenn das Evangelium eine gute, frohe Botschaft ist, weil es den Ausweg aus der ganzen Misere aufzeigt, ist der Zerbruch des Selbst- und Weltbildes keine kleine Sache, nichts, worüber man sich freut, nichts, was man mal einfach so hinnimmt. Bei Menschen, die freudig und begeistert auf das Evangelium reagieren, muss folglich befürchtet werden, dass sie es nicht wirklich verstanden haben oder dass sie es sich nicht wirklich zu Herzen genommen haben.
Vers 21
er hat aber keine Wurzel in sich, sondern ist nur ein Mensch des Augenblicks; und wenn Bedrängnis entsteht oder Verfolgung um des Wortes willen, nimmt er sogleich Anstoss. Mt 13,21
Wie treffend ist die Bezeichnung «Mensch des Augenblicks»! Hier werden nämlich genau jene Menschen kennen, die sich in Windeseile für alles Mögliche begeistern lassen, aber nichts weiter in die Tiefe verfolgen. Nimmt ein solcher Mensch – anscheinend! – das Evangelium an, tut er es so, wie er alles andere auch annimmt: Er begeistert sich sofort dafür, ist voller Freude und Tatendrang und scheint gleich den Nachbrenner zu zünden. Aber kaum tauchen Schwierigkeiten auf, kaum kommt er des Glaubens wegen in Bedrängnis oder wird er gar verfolgt, nimmt er Anstoss, d.h. er kommt zu Fall und wirft den scheinbar angenommenen Glauben gleich wieder weg. Es ist wirklich wie mit den Pflanzen, die auf steinigem Boden wachsen: Zuerst legen sie eine erstaunlich schnelle Entwicklung hin, aber kaum kommt die Sonne bzw. die Hitze, verdorren sie.
Pflanzen auf Steinboden gehen ein, weil sie nicht an das Wasser kommen. Genau dasselbe Problem stellt sich dar, wenn ein Mensch das Evangelium nur oberflächlich annimmt, aber nicht aus Wasser und Geist von Neuem geboren wird (vgl. Joh 3,5). Eine echte Bekehrung ist ein Werk des Geistes Gottes, das seine Grundlage im Wort Gottes, der Bibel, findet. Die Bibel wird nämlich in Eph 5,26 bezüglich ihrer reinigenden Wirkung bei der Anwendung auf das Gewissen mit einem Wasserbad verglichen. Eine Bekehrung ist also kein Ritual. Es genügt nicht, die «magischen Worte» zu sprechen oder eine bestimmte Handlung vorzunehmen, auch wenn es leider Christen gibt, die das lehren. Eine echte Bekehrung findet vielmehr dann statt, wenn der Heilige Geist mit dem Wort Gottes das Herz und das Gewissen eines Menschen durchbohrt (vgl. Apg 2,37) und dem Menschen damit keine andere Wahl mehr lässt, als sein ganzes Vertrauen auf Gott allein zu setzen. Wenn das geschieht, wird das Leben dieses Menschen eine Wendung nehmen, die nie mehr rückgängig gemacht werden kann.
In 1.Joh 2,19 werden «Antichristen», also Menschen, die eine gegen den Herrn Jesus Christus gerichtete Gesinnung haben, wie folgt beschrieben: «Von uns sind sie ausgegangen, aber sie waren nicht von uns; denn wenn sie von uns gewesen wären, würden sie wohl bei uns geblieben sein; aber sie blieben nicht, damit sie offenbar wurden, dass sie alle nicht von uns sind». Hier finden wir den ganz entscheidenden Punkt, der den echten von einem falschen Glauben unterscheidet, nämlich das Bleiben. Wer einmal echt zum Glauben gekommen ist, wird dabei bleiben. Ja, es ist leider wahr, dass ein solcher Mensch ganz üble Wege einschlagen und an finstersten Orten landen kann, aber er wird den Glauben nicht über Bord werfen. Er wird in irgendeiner Weise dabei bleiben. Wer sich dagegen nur scheinbar bekehrt hat, wird den Glauben irgendwann wieder fallen lassen. Es wird aussehen, als würde er den Glauben aufgeben, aber in Wahrheit wird ein solcher Mensch nur zeigen, dass er nie wirklich geglaubt hat und schon immer ein «Antichrist» gewesen ist, ein Same, der auf steinigem Boden aufgegangen ist.
Vers 22
Bei dem aber unter die Dornen gesät ist, dieser ist es, der das Wort hört, und die Sorge der Zeit und der Betrug des Reichtums ersticken das Wort, und er bringt keine Frucht. Mt 13,22
Wie eine Pflanze benötigt der Glaube Raum zur Entfaltung. Wenn der Geist Gottes Sein übernatürliches Werk im Herzen eines Menschen tun soll, muss Er genügend Platz dafür haben. Manchmal scheint alles zu passen, scheint ein Mensch wirklich vom Evangelium getroffen worden zu sein, aber dann geschieht doch nichts. Der Mensch hat zwar kein verhärtetes Herz und er ist auch kein Mensch des Augenblicks, aber es gibt zu viele andere Dinge in seinem Leben, die ihn zu sehr in Beschlag nehmen. Er wird abgelenkt. Die Dinge der Gegenwart sind ihm wichtiger als die Zukunft.
Interessant ist, dass die Dornen im Gleichnis, die wir als etwas durchwegs Negatives interpretieren würden, für zwei so unterschiedliche Dinge wie die Sorgen des gegenwärtigen Zeitlaufs und den Betrug des Reichtums stehen. Wenn wir etwas darüber nachdenken, ist das aber gar nicht so erstaunlich. Wenn wir den Sorgen des gegenwärtigen Zeitlaufs zu viel Raum geben, dann werden sie uns völlig einnehmen, denn in dieser Welt und in dieser Zeit gibt es tausend Dinge, die besorgniserregend sind. Wir fühlen dann, dass wir die Sache mit Gott aufschieben müssten, weil wir den Eindruck haben, es brenne gerade an allen Ecken und Enden und wir müssten versuchen, alle Brände zu löschen. Der Punkt ist, dass wir damit niemals fertig werden können. Wir werden die Frage nach der Ewigkeit so lange aufschieben, bis es zu spät ist. Mit dem Betrug des Reichtums ist es genau gleich. Es geht dabei nicht um Reichtum an sich, denn Geld und Reichtum sind in sich selbst neutral. Es geht um den Betrug des Reichtums. Was müssen wir darunter verstehen? Nun, Reichtum gaukelt uns Sicherheit vor. Wir meinen, wenn wir reich seien, könnten wir alle Probleme mit Geld lösen und ein sorgenfreies Leben in Unabhängigkeit führen. Wenn wir dieser Fata Morgana hinterher jagen, werden wir genauso wenig ans Ziel kommen wie beim Versuch, alle Sorgen-Brandherde zu löschen.
Wenn ein Mensch merkt (und er wird es merken!), dass Gott ihn in Sein Licht stellt und überführt, dann sollte der Mensch dem HERRN die volle und ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Er sollte alle anderen Dinge, alle Sorgen und Träume, für einen Moment beiseite schieben und sich völlig auf dieses Gespräch mit seinem Schöpfer einlassen. Der Teufel wird alles versuchen, um den Menschen abzulenken, was bei Menschen mit einem verhärteten Herzen sehr einfach ist, aber auch bei Menschen funktionieren kann, die grundsätzlich ein offenes Herz haben. Lassen wir diese Ablenkung nicht zu, sondern trachten wir danach, die wichtigsten Fragen in unserem Leben zu beantworten!
Vers 23
Bei dem aber auf die gute Erde gesät ist, dieser ist es, der das Wort hört und versteht, der wirklich Frucht bringt; und der eine trägt hundert-, der andere sechzig-, der andere dreissigfach. Mt 13,23
Wer das Wort Gottes nicht nur hört, sondern in sein Herz dringen lässt und versteht, wer den Geist Gottes in seinem Herzen wirken lässt, der wird neues Leben aus Gott empfangen. Der gute Same wird keimen und wachsen: Neues Leben! Dieses Leben ist aus Gott, es ist ewig, wie Er ewig ist, es ist rein und gut, wie Er rein und gut ist, es entspricht voll und ganz Seinem Wesen. Wo es sich frei entfalten kann, wird es gottgemässe Charakterzüge offenbaren – Frucht für Gott. «Frucht» bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht in erster Linie bestimmte Taten, sondern vielmehr Wesenszüge. Was Frucht aus und für Gott ist, wird im Brief an die Galater erklärt: «Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit.» (Gal 5,22.23).
Weil das neue Leben direkt von Gott kommt, ist es in sich selbst vollkommen. «Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt in ihm; und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist» (1.Joh 3,9). Wo sich dieses neue Leben voll entfalten kann, wird es deshalb immer das Vollmass an Frucht bringen, in den Worten des Gleichnisses also hundertfach. Und doch gibt es solche, die «nur» 60 oder 30 Prozent dessen bringen, was möglich ist. Woran kann das liegen? Gewiss nicht am guten Samen, gewiss nicht an einer unzureichenden Gabe Gottes, denn Er gibt «nicht nach Mass» (Joh 3,34), sondern unbegrenzt und uneingeschränkt. Vielmehr muss es an Dingen liegen, die die volle Entfaltung des neuen Lebens hindern. Aber was könnte das sein?
Wenn wir uns nochmals das Gleichnis vor Augen führen, dann finden wir drei Dinge, die das Aufgehen der guten Saat verhindern: Ein verhärtetes Herz (der Weg), Oberflächlichkeit (das Steinige) und ein geteiltes Herz (die Dornen). Dieselben Dinge können auch das Wachstum des guten Samens, der auf den guten Ackerboden gefallen ist, hindern. Wenn jemand, der echt zum lebendigen Glauben gekommen ist, sein Herz in einem bestimmten Punkt verhärtet und seinen eigenen Willen durchstiert, wird er zwangsläufig das Wachstum des neuen Lebens behindern. Dasselbe gilt, wenn jemand in gewissen Dingen oberflächlich ist, sich ablenken lässt oder ein geteiltes Herz hat. Wer solche Dinge in seinem Leben zulässt und es gewissermassen versäumt, den guten Ackerboden unkrautfrei zu halten, wird zwangsläufig nicht den vollen Ertrag, sondern nur 60 oder gar nur 30 Prozent davon liefern.
Damit sind wir am Ende der Betrachtung dieses ersten und grundlegenden Gleichnisses über die aktuelle Phase des Reiches der Himmel angelangt. Wir haben gesehen, dass die christliche Zeit ganz grundlegend von der Predigt des Evangeliums geprägt ist und dass für einen Menschen alles davon abhängt, wie er auf das Wort Gottes reagiert. Es geht nicht darum, ob jemand ein Jude ist oder nicht, sondern darum, wie er sich zur Person des verworfenen Messias und Sohn Gottes, Jesus Christus, stellt. Die weiteren Gleichnisse werden uns Einzelheiten liefern, die sich alle in diese grundlegende Wahrheit einordnen.
Vers 24
Ein anderes Gleichnis legte er ihnen vor und sprach: Mit dem Reich der Himmel ist es wie mit einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Mt 13,24
Auf das erste, grundlegende Gleichnis folgt gleich ein zweites mit einem sehr ähnlichen Bild. Wieder geht es um einen Menschen, der guten Samen sät. Hier finden wir allerdings nicht vier verschiedene Herzenszustände, auf die der gute Same (das Wort Gottes) trifft; das Gleichnis betrifft nur jenen Samen, der sein Ziel – den Ackerboden – trifft. Wenn wir an das erste Gleichnis denken, können wir erwarten, dass dieser Same keimt und dass gesunde Pflanzen nach der Art des ausgestreuten Samens wachsen, denn dies ist das Ergebnis vom Zusammentreffen des guten Samens mit dem guten Ackerboden im ersten Gleichnis gewesen.
In diesem Zusammenhang ist auf ein wichtiges biblisches Prinzip hinzuweisen, das uns schon im ersten Kapitel der Bibel (ganz unscheinbar) vorgestellt wird: «Und Gott sprach: Die Erde lasse Gras hervorsprossen, Kraut, das Samen hervorbringt, Fruchtbäume, die auf der Erde Früchte tragen nach ihrer Art, in denen ihr Same ist! Und es geschah so» (1.Mose 1,11). Die natürliche Schöpfung ist von Gott so angelegt worden, dass sich sämtliches Leben innerhalb der Grenzen einer einzelnen Art abspielt. Es gibt keinerlei Form von Übergängen zwischen den Arten; jede ist und bleibt für sich getrennt. Zwar ist es erfahrungsgemäss möglich, Tiere von zwei verschiedenen Arten zu verpaaren, etwa das Pferd und den Esel, aber das ist kein natürlicher, von Gott vorgesehener Vorgang und das Ergebnis ist stets unfruchtbar; es kann sich nicht weiter vermehren. Dieses natürliche Prinzip hat eine geistliche Bedeutung, wie etwa der folgende Vers ganz deutlich zeigt: «Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist» (Joh 3,6). Fleisch und Geist stehen hier für zwei verschiedene Arten von Wesen, das Fleisch nämlich für den Menschen im Allgemeinen als den Nachkommen Adams und der Geist für den von Neuem geborenen Menschen mit dem ewigen Leben aus Gott. Kein einziger Nachkomme Adams, also kein einziger Mensch, kann – auf welche Weise auch immer – zu einem geisltichen Menschen mit ewigem Leben aus Gott werden. Das ist genauso wenig möglich, wie dass ein Tier seine Art (z.B. von Hund zu Adler) wechselt. Vielmehr muss ein Mensch neu gezeugt werden: «So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben; die nicht aus Geblüt, auch nicht aus dem Willen des Fleisches, auch nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind» (Joh 1,12.13); «nach seinem Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit geboren, damit wir eine Art Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe sind» (Jak 1,18); «Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen» (Joh 3,3). Wir werden bei der Betrachtung dieses und der weiteren Gleichnisse noch feststellen, dass unsere christliche Zeit von viel Durcheinander geprägt ist, sodass es für uns Menschen kaum möglich ist, alles richtig einzuordnen. Aber nicht so bei Gott! Er sieht und weiss genau, wer von welcher Art ist! Er kennt jeden echten Gläubigen und jeden, der nur so tut. Wechsel zwischen diesen beiden Gruppen gibt es nicht. Wer neues Leben hat, hat bleibend neues Leben; wer kein neues Leben hat, kann es nicht an sich reissen, sondern muss von Neuem geboren werden.
Vers 25
Während aber die Menschen schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut mitten unter den Weizen und ging weg. Mt 13,25
Der Fokus dieses zweiten Gleichnisses liegt nicht auf dem einzelnen Samenkorn, das – je nach Art des Bodens – keimt oder nicht. Es geht also nicht um den einzelnen Menschen respektive um die Wahrheit im Innern. Vielmehr ist der Blick auf den Acker als Ganzes gerichtet. Auf diesem Acker wächst Weizen heran, der (in der Sprache des ersten Gleichnisses) dreissig-, sechzig- oder hundertfach Frucht bringen wird. Aber dann geschieht etwas Unerwartetes: Während die Menschen schlafen, kommt der Feind des Ackerbesitzers und sät Unkraut unter den Weizen. Er sät nicht irgendein Unkraut, sondern Taumellolch, eine Pflanze, die dem Weizen täuschend ähnlich sieht, aber giftig ist.
Damit haben wir also ein Ackerfeld vor uns, auf dem zweierlei Pflanzen wachsen, die aber im ersten Stadium noch alle gleich respektive einheitlich aussehen, von denen aber nur einige echter Weizen sind, während die anderen bloss so aussehen. In einem späteren Vers werden wir noch sehen, dass der Acker für die Welt steht. Wir haben hier also ein Bild für das christliche Zeugnis auf der ganzen Welt vor uns, wobei im Mittelpunkt der Betrachtung steht, dass die Christenheit ein «Mischvolk» ist, das sich aus echten Gläubigen und aus solchen zusammensetzt, die bloss so tun, als wären sie gläubig, es in Wahrheit aber gar nicht sind. Doch wie konnte es so weit kommen? Die Menschen haben geschlafen!
Vers 26
Als aber die Saat aufsprosste und Frucht brachte, da erschien auch das Unkraut. Mt 13,26
Jeder Gärtner weiss, dass Unkraut mindestens so schnell erscheint und wächst wie das, was man gepflanzt hat und heranziehen will. Gartenarbeit ist ein ständiger Kampf gegen das unaufhörlich wuchernde Unkraut. Wenn dann sogar jemand Unkraut sät, ist es nur umso schlimmer. Kein Wunder also, dass im Gleichnis nicht nur der Weizen, sondern sofort auch das Unkraut erscheint. Leider ist es in der geistlichen Realität nicht anders. Kaum schafft der HERR etwas Neues, wird Sein grosser Erzfeind, der Teufel, aktiv. Er versucht auf alle möglichen Arten, das göttliche Werk zu sabotieren. So ist es leider auch in der Kirchengeschichte geschehen. Wir sehen das bereits in den Büchern des Neuen Testamentes: Kaum war die Versammlung entstanden, gab es schon die erste Form von Parteiungen. Wir lesen in der Apostelgeschichte über die Hellenisten (griechisch sprechende Juden), die sich zurückgesetzt fühlten, über die Pharisäer, die zwar zum Glauben gekommen waren, aber etwas von ihrem Pharisäertum «retten» wollten, von einem Zauberer Simon, der sich in die Versammlung einschleichen wollte und es auch fast geschafft hätte, obwohl er gar nicht echt gläubig gewesen ist, von Warnungen vor reissenden Wölfen und Leuten, die aus der Mitte der Versammlung aufstehen und Verkehrtes lehren würden, und vieles mehr. Die Lage, die in den Briefen geschildert wird, ist bereits weitaus schlimmer gewesen. Nach dem Abschluss des Neuen Testamentes und dem Abscheiden des letzten Apostels ist es rasch bergab gegangen. Heute ist die christliche Landschaft ein Trümmerfeld. Da ist so viel gewachsen, dass man gar nicht mehr weiss, was nun Weizen und was Unkraut ist. Was soll man da tun? Die Antwort folgt in den weiteren Ausführungen des Gleichnisses.
Vers 27
Es kamen aber die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn Unkraut? Mt 13,27
Anders als die (schlafenden) Menschen bemerkten die Knechte des Hausherrn (das sind die Engel, wie wir noch sehen werden) sofort, was geschehen war. Sie erkannten das Unkraut als solches. Die Ähnlichkeit des Taumellolchs zum Weizen konnte sie nicht täuschen. Ihre Frage, wie das geschehen konnte, erweckt den Eindruck, sie hätten das Werk des Feindes nicht mitbekommen. Eine solche Annahme würde aber dem klaren Zeugnis von mehreren anderen Bibelstellen widersprechen, die von einem andauernden geistlichen Kampf in den himmlischen Örtern sprechen, bei dem die Engel Gottes keineswegs schlafen oder gar entscheidende Kriegsbewegungen des Feindes verpassen. Die Frage und vor allem die Antwort darauf sind vielmehr in das Gleichnis eingeflochten, damit wir daraus etwas lernen können. Bedenken wir, dass wir hier ein Gleichnis vor uns haben und keine Allegorie oder gar einen detaillierten Tatsachenbericht! Man kann das mit einem Vater vergleichen, der seinem Kind eine Handlung vormacht und dann fragt, wie er das, was er gerade gemacht hat, bewerkstelligt hat. Natürlich weiss der Vater die Antwort, aber er will, dass das Kind darüber nachdenkt und die Antwort liefert. Hier im Gleichnis lässt der HERR gewissermassen die Engel auftreten, um die Frage für Ihn zu stellen. In Wahrheit sind die Einzigen, die nicht wissen und deshalb lernen müssen, wie das alles geschehen ist, wir. In den folgenden Versen werden wir noch sehen, dass es für uns elementar wichtig ist, diese Zusammenhänge zu verstehen.
Vers 28
Er aber sprach zu ihnen: Ein feindseliger Mensch hat dies getan. Die Knechte aber sagen zu ihm: Willst du denn, dass wir hingehen und es zusammenlesen? Mt 13,28
Woher kommt das Unkraut, der Taumellolch, das, was dem Weizen verblüffend ähnlich sieht, aber nicht nahrhaft, sondern giftig ist? Es könnte ja von selbst gewachsen sein, aber das ist nicht der Fall. Der Feind des guten Sämannes hat den Taumellolch ganz bewusst unter den Weizen gesät. Falsche Christen, die unter den Gläubigen Schaden anrichten, verirren sich nicht bloss zufällig in unsere Gemeinschaften, sondern sie werden gezielt vom Teufel eingeschleust. So heisst es beispielsweise in 2.Kor 11,13–15: «Denn solche sind falsche Apostel, betrügerische Arbeiter, die die Gestalt von Aposteln Christi annehmen. Und kein Wunder, denn der Satan selbst nimmt die Gestalt eines Engels des Lichts an; es ist daher nichts Grosses, wenn auch seine Diener die Gestalt von Dienern der Gerechtigkeit annehmen». Wir werden im Zusammenhang mit der Auslegung des Herrn Jesus noch näher darauf eingehen, wollen aber jetzt schon betonen, dass dies der Kernpunkt des Gleichnisses zu sein scheint, dass nämlich der Teufel falsche, aber täuschend echt aussehende «Christen» unter die Gläubigen «streut».
Die Knechte, die diesen Missstand entdeckt haben, stellen die logische Anschlussfrage: Soll das Unkraut ausgerissen werden? Dieser Gedanke liegt natürlich nahe. Die Antwort des HERRN auf diese Frage ist deshalb einigermassen überraschend, aber bedeutsam und kennzeichnend für die christliche Zeit.
Vers 29
Er aber spricht: Nein, damit ihr nicht etwa beim Zusammenlesen des Unkrauts gleichzeitig mit ihm den Weizen ausreisst. Mt 13,29
Obwohl die Knechte im Gleichnis ohne Weiteres in der Lage waren, das dem Weizen verblüffend ähnlich sehende Unkraut als solches zu erkennen, sollten sie es nicht sofort ausreissen. Der Herr im Gleichnis befürchtete, dass ansonsten aus Versehen auch Weizen beschädigt werden könnte. Wenn aber der Herr nicht einmal seinen scharfsichtigen Knechten diese Arbeit zutraute, wie viel weniger dann uns! Wir haben hier einen ganz wichtigen Grundsatz vor uns: Solange dieses christliche Zeitalter währt, sollen wir auf keinen Fall versuchen, «Unkraut» auszureissen. Das bedeutet, dass es uns nicht zusteht, Menschen, die von sich sagen, dass sie an den Herrn Jesus glauben, den Glauben abzusprechen.
Leider hat die Christenheit in diesem Punkt – wie in so vielen anderen Punkten auch – völlig versagt. Mit Schrecken denken wir etwa zurück an die Zeit der Inquisition und der Konfessionskriege in Europa, in der Zehntausende von wahren Gläubigen ihr Leben verloren haben, weil man überzeugt war, es handle sich bei ihnen um «Unkraut», das ausgerissen werden müsse.
Wir werden noch sehen, dass wir nicht untätig alles akzeptieren müssen, was unter dem christlichen Deckmantel geschieht. Aber es steht uns nicht zu, «Unkraut» ausreissen zu wollen. Wir sind nicht befugt, anderen den Glauben abzusprechen oder noch Schlimmeres zu tun. Der HERR will, dass alles zusammen wächst, bis der richtige Zeitpunkt zur Trennung gekommen ist.
Vers 30
Lasst beides zusammen wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Lest zuerst das Unkraut zusammen, und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber sammelt in meine Scheune! Mt 13,30
Hier haben wir nun ein ganz typisches und aussergewöhnliches Merkmal der christlichen Zeit vor uns, nämlich dass der Weizen und das Unkraut ungestört zusammen wachsen sollen, bis die Zeit der Ernte gekommen ist. Das Volk Israel hat stets einen grossen Abstand zu den übrigen Nationen wahren und jede Vermischung meiden müssen. Das ist so weit gegangen, dass die Juden einmal sogar all ihre fremden Frauen samt den Mischkindern wegschicken mussten (Esra 10,19). Auch hätte das Böse in Israel konsequent und rasch gerichtet werden müssen. Aus den prophetischen Schriften des Alten Testamentes wissen wir, dass der Herr Jesus, wenn Er Seine Herrschaft über Israel und den Rest der Erde angetreten haben wird, das Böse in einer bis dahin nie gekannten Konsequenz richten wird (vgl. etwa Ps 101,8).
Auch in der jetzigen christlichen Zeit sollen wir das Böse richten und uns vom Bösen absondern. Aber das Gleichnis, das wir hier betrachten, zeigt uns, dass unsere Zeit dennoch wesentlich von einer unheiligen Vermischung geprägt sein wird, die der HERR zulassen und erst am Ende der Zeit (in der Zeit der Ernte) beseitigen wird. Erst dann wird Er das Unkraut zusammenlesen, um es zu verbrennen. Wenn Er bis dahin nichts unternimmt, dürfen wir uns nicht anmassen, selbst Hand anzulegen. Wir sollen Taten beurteilen und entsprechende Konsequenzen ziehen, aber nicht Menschen. Es steht uns nicht zu zu bestimmen, wer echt ist und wer nicht. Das wird der HERR erst dann deutlich machen, wenn Er Seinen Weizen in Seine Scheune sammeln wird.
Vers 31
Ein anderes Gleichnis legte er ihnen vor und sprach: Das Reich der Himmel gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte; Mt 13,31
Wir haben bei der Betrachtung der beiden ersten Gleichnisse gesehen, dass die aktuelle Phase des Königreiches Gottes – unsere christliche Zeit – durch eine seltsame Mischung von Zuständen gekennzeichnet ist. Da wird guter Same ausgesät, aber er keimt nur in vergleichsweise wenigen Fällen. Und dann ist da noch das Unkraut, das vom Feind Gottes mitten unter den Weizen gesät wird, zusammen mit dem Weizen aufgeht, diesem täuschend ähnlich sieht, aber nicht essbar, sondern giftig ist. Nun folgen noch zwei weitere Gleichnisse, die diesen seltsamen Mischzustand unterstreichen. Das erste dieser beiden Gleichnisse (insgesamt also das dritte) hat wieder mit einer Saat zu tun. Hier wird aber nicht Weizen gesät, sondern Senf. Die Senfpflanze ist eine krautige, einjährige Pflanze, was bedeutet, dass sie innerhalb eines Jahres einen vollständigen Wachstumszyklus durchläuft und dann abstirbt. Anders als bei einer Staude stirbt nicht nur der oberirdische Teil ab, sondern die ganze Pflanze. Die im Mittelmeerraum verbreitete Senfart ist der Schwarze Senf. Dieser legt (ähnlich wie eine Tomatenpflanze) eine erstaunliche Entwicklung hin und kann im Extremfall eine Höhe von gut drei Metern erreichen. Die übliche Höhe liegt allerdings irgendwo zwischen einem halben und zwei Metern.
Vers 32
es ist zwar kleiner als alle Arten von Samen, wenn es aber gewachsen ist, so ist es grösser als die Kräuter und wird ein Baum, sodass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten. Mt 13,32
Hier stimmt etwas nicht! Das Senfkorn ist zwar klein, aber bei weitem nicht das kleinste aller Samenkörner, und die Senfpflanze legt zwar ein beachtliches Wachstum hin, wird aber keineswegs grösser als alle Kräuter und schon gar kein Baum, in dessen Zweigen die Vögel des Himmels nisten könnten. Kann es sein, dass Sich der Sohn Gottes geirrt hat? Selbstverständlich nicht! Wir haben hier keine biologische Beschreibung, sondern ein Gleichnis vor uns, dessen herausstechendstes Merkmal ein widernatürlicher Vorgang ist. Mit anderen Worten ist der springende Punkt dieses Gleichnisses gerade der, dass da etwas grundlegend nicht stimmt.
Nun müssen wir nochmals kurz an die beiden ersten Gleichnisse zurück denken: Im ersten Gleichnis wird uns ein göttliches Werk beschrieben, das nur in einem Bruchteil der Fälle erfolgreich ist; im zweiten Gleichnis haben wir ein göttliches Werk vor uns, das durch einen Eingriff des Teufels gestört wird, sodass es zu einer Vermischung von Gutem und Schlechtem respektive zu einer unerwarteten Entwicklung kommt. Beide Gleichnisse zeigen also, dass sich das Königreich Gottes in der damals kurz bevorstehenden Phase in eine unerwartete Richtung entwickeln würde. Und genau hier setzt jetzt dieses dritte Gleichnis ein, denn es beschreibt eine komplett unnatürliche Entwicklung.
Wiederum ist der Ausgangspunkt ein Werk Gottes, denn wir haben erneut den guten Sämann vor uns, der Samen auf den Acker streut. Hier geht es allerdings nicht in erster Linie darum, was genau Er streut, sondern im Vordergrund steht, dass es sich um etwas ganz Kleines handelt. So lesen wir beispielsweise in Apg 1,15, dass die Versammlung der Gläubigen unmittelbar vor Pfingsten bloss 120 Personen umfasste. Schon der Herr Jesus hatte von der kleinen Herde gesprochen (Lk 12,32) und Seine Gegenwart dahin verheissen, wo selbst nur zwei oder drei Menschen zusammenkommen (Mt 18,20). So bescheiden ist der Anfang der Christenheit gewesen!
Schon im ersten Jahrhundert hat das christliche Bekenntnis dann aber einen unvergleichlichen Siegeszug angetreten. Schon bald gab es überall im gewaltigen römischen Reich christliche Versammlungen, obwohl die Christen damals verfolgt wurden. Mit der sogenannten konstantinischen Wende erlangten die Christen im vierten Jahrhundert weitgehende Freiheiten; kurz darauf wurde der christliche Glaube zur Staatsreligion des römischen Reiches erklärt, was bedeutete, dass es sogar politisch vorteilhaft wurde, ein Christ zu sein. Heute bekennen sich über zwei Milliarden Menschen zum christlichen Glauben. Das christliche Zeugnis hat also gewaltige, ungeahnte Ausmasse angenommen.
Doch dieses Wachstum ist unnatürlich gewesen, was wir im nächsten Gleichnis ebenfalls noch sehen werden. Das christliche Zeugnis ist nun grösser, als es sein sollte, d.h. es umfasst wesentlich mehr Menschen als jene, die wirklich Christen sind. Ja, klar! Auf dem Ackerfeld ist ja nicht nur Weizen, sondern auch Unkraut gewachsen. Die Christenheit umfasst also einerseits Personen, die wirklich Christen sind, und andererseits solche, die das nur von sich sagen, z.B. weil sie durch Tradition oder Geburt zu Christen erklärt worden sind.
Auf ein schreckliches Detail müssen wir noch kurz eingehen: Die Vögel des Himmels nisten in den Zweigen dieses Senf-Baumes. Wer sind diese Vögel des Himmels? Nun, wir haben bereits ein Gleichnis betrachtet, in dem diese Vögel vorgekommen sind, nämlich das erste Gleichnis. Dort haben die Vögel jenen Samen, der auf den Weg gefallen ist, gefressen. In der Auslegung hat der Herr Jesus erklärt, dass diese Vögel den Bösen darstellen, den Teufel (und seine Dämonen). Diese Vögel nisten also in diesem Senf-Baum! Wenn wir uns umsehen, müssen wir einräumen, dass dies leider heute auf die Christenheit zutrifft, denn gerade in den grossen Kirchen haben sich Ansichten und Lehren etabliert, die geeignet sind, Menschen vom wahren Glauben abzuhalten, statt sie anzuziehen!
Vers 33
Ein anderes Gleichnis redete er zu ihnen: Das Reich der Himmel gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Mass Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war. Mt 13,33
Ein Gleichnis schliesst sich an das andere an. Der Kerngedanke des vorherigen Gleichnisses ist das unnatürliche Wachstum der Senfpflanze und auch in diesem Gleichnis haben wir eine Art von übertriebenem Wachstum vor uns. Sauerteig ist ein vor sich hin gärender Teigansatz, den man früher verwendete, um luftiges Brot zu backen. Heute verwenden wir für gewöhnlich Hefe. Die Hefe spaltet die Stärke des Mehls in Zucker auf und vergärt diesen dann weiter in Alkohol, wobei auch Kohlendioxid entsteht. Beim Backen dehnt sich das Volumen der Gasbläschen im Teig aus. Das Brot wird luftig und locker, enthält entsprechend aber auch Löcher. Ein herausragender Bäcker hier in der Region bäckt phantastisches Brot, das eine sehr wilde Krume mit zahlreichen kleinen und grossen Löchern hat, weshalb die Leute ihn teilweise (abwertend) den Löcher-Bäcker genannt haben. Die Leute fühlten sich nämlich betrogen, weil sie ein grosses Brot kauften, das gefühlt zur Hälfte aus Luft bestand. Es war kein Betrug, denn sie bezahlten nach Gewicht, nicht nach Volumen, aber ihr Gefühl bringt etwas darüber zum Ausdruck, was Sauerteig auszeichnet: Er bläht einen Teig auf ein Volumen auf, das vorgibt, mehr zu sein, als es wirklich ist. Genauso erscheint auch die Christenheit heute weltweit als eine gewaltige Macht mit zig Millionen von Angehörigen, aber vieles davon ist nichts weiter als heisse Luft. Darauf habe ich schon bei der Betrachtung des vorangehenden Gleichnisses hingewiesen.
Hier in diesem Gleichnis steht nun die «Qualität» dieses unnatürlichen Wachstums im Fokus. Sauerteig oder Hefe ist sehr nützlich für das Backen von Brot, allerdings nur, wenn der Sauerteig bzw. die Hefe rechtzeitig getötet wird. Die Vorzüge von Sauerteig liegen nämlich nicht im Sauerteig selbst, sondern in seinem Stoffwechselprodukt, dem Kohlendioxid. In sich selbst hat Sauerteig aber eine geradezu zerstörerische Wirkung. Man kann – wie in diesem Gleichnis – sehr viel Mehl und sehr viel Wasser nehmen und nur ganz wenig Sauerteig hinzugeben. Gibt man dem Sauerteig aber genug Zeit, um sein Werk zu tun, wird er den ganzen Teig durchsäuern, was bedeutet, dass man dann einen einzigen riesigen Sauerteig hat. Stoppt man den Durchsäuerungsprozess nicht durch die Hitze des Ofens, wird der Teig so lange weiter vor sich hin gären, bis er am Ende nur noch eine stinkende Brühe ist, die man entsorgen muss.
Der natürliche Prozess an sich zeigt uns also schon die Problematik des Sauerteiges. Die biblische Symbolik macht das aber noch klarer. Reines, feines, ungesäuertes Mehl ist ein Hinweis auf die Vollkommenheit unseres Herrn Jesus. Es bildete bspw. den Hauptbestandteil des Speisopfers, das die Israeliten regelmässig dargebracht haben und das von Seinem makellosen Wandel als Mensch auf dieser Erde spricht. Mehl wird (unter anderem) aus Weizen gewonnen und wir haben bereits gesehen, dass der Weizen vom göttlichen Werk auf dieser Erde spricht. Dieses besteht darin, dass möglichst viele Menschen die Natur des Herrn Jesus erhalten, die so anziehend für den Vater in den Himmeln ist. Der Weizen bildet viel Frucht, neigt sein Haupt unter der Last der Frucht (ein Hinweis auf Demut), seine Wurzel stirbt ab (er löst sich von der Erde) und er wird golden (ein Hinweis auf die göttliche Natur). Er dient zur Nahrung für die Menschen, was von Hingabe für andere spricht. So hat die Geschichte der Christenheit begonnen: Eine Schar von Menschen ist von Neuem geboren worden und hat damit einen ungesäuerten, reinen Teig aus feinstem Mehl gebildet. Aber schon bald ist Sauerteig hinzugegeben worden, der in der Bibel ausnahmslos ein Bild für böse Moral (z.B. 1.Kor 5,6) oder für böse Lehre (z.B. Gal 5,9) darstellt. Böses, Falsches ist in die Christenheit eingedrungen. Das hat das christliche Zeugnis, wie man es allgemein in der Welt wahrnimmt (denn davon sprechen diese ersten Gleichnisse in Mt 13), nicht nur ein wenig beschmutzt, sondern völlig verdorben. Das christliche Zeugnis ist heute geprägt von Falschem und Bösem! Das erkennt man leicht, wenn man Menschen auf den Glauben anspricht, denn in mehr als der Hälfte der Fälle bekommt man als Antwort eine Form der Abwehr, die sich gegen die Kirchen richtet. Und kein Wunder, muss man leider sagen. Das muss uns alle tief beschämen, auch wenn ein leichter Trost darin zu finden ist, dass der Herr Jesus das alles genauso vorhergesagt hat.
Vers 34
Dies alles redete Jesus in Gleichnissen zu den Volksmengen, und ohne Gleichnis redete er nichts zu ihnen, Mt 13,34
Der Heilige Geist legt einen Nachdruck auf die Tatsache, dass der Herr Jesus ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch in Gleichnissen zu den Volksmengen geredet hat. Wir haben ja bereits gesehen, dass sich die Jünger über diesen Wechsel in der Art und Weise, wie der HERR zu den Menschen sprach, gewundert hatten. Aber hier wird nochmals – einmal positiv und einmal negativ formuliert – darauf hingewiesen, dass es sich tatsächlich so verhalten hat. Wenn wir die Gleichnisse, die wir nun zusammen betrachtet haben, nochmals Revue passieren lassen, müssen wir feststellen, dass die rätselhaft anmutende Rede in Gleichnissen überaus passend zur aktuellen rätselhaften Phase des Königreiches Gottes ist. Es ist, wie wenn der Herr Jesus den Menschen hätte zeigen sollen, dass etwas völlig Unerwartetes und Geheimnisvolles bevorstehe.
Vers 35
damit erfüllt wurde, was durch den Propheten geredet ist, der spricht: Ich werde meinen Mund öffnen in Gleichnissen; ich werde aussprechen, was von Grundlegung der Welt an verborgen war. Mt 13,35
Hier wird das Handeln des Herrn Jesus mit einem Zitat aus Ps 78,2 in Verbindung gebracht, was überaus erstaunlich ist. Jener Psalm beginnt mit den folgenden Worten: «Höre, mein Volk, auf meine Weisung! Neigt euer Ohr zu den Worten meines Mundes!» (Ps 78,1). Der Umstand, dass nun Gleichnisse und Verborgenes mitgeteilt werden sollten, signalisiert im Ps 78 also eine Art Aufrütteln des Volkes, das durch diese seltsame Redeweise zu einer besonderen Aufmerksamkeit angeleitet werden soll. Und was ist der Inhalt jenes Psalms? Es geht um die wunderbaren Taten und die herrliche Fürsorge Gottes für Sein Volk im Kontrast zu einem ständigen Versagen und einer unaufhörlichen Widerspenstigkeit des Volkes! Hier nur zwei, drei Auszüge aus diesem Psalm: «Denn er hat ein Zeugnis aufgerichtet in Jakob und ein Gesetz aufgestellt in Israel […] damit sie auf Gott ihr Vertrauen setzten und die Taten Gottes nicht vergässen und seine Gebote befolgten. Damit sie nicht würden wie ihre Väter, eine widersetzliche und widerspenstige Generation, eine Generation, deren Herz nicht fest war und deren Geist nicht treu war gegen Gott» (Ps 78,5.8); «weil sie Gott nicht glaubten und nicht vertrauten auf seine Rettung. Und doch hat er den Wolken oben geboten und die Torflügel des Himmels geöffnet» (Ps 78,22.23); «sie betrogen ihn mit ihrem Mund, und mit ihrer Zunge belogen sie ihn. Denn ihr Herz war nicht fest ihm gegenüber, und sie blieben nicht treu an seinem Bund. Er aber war barmherzig, er vergab die Schuld und vertilgte nicht; und oftmals wandte er seinen Zorn ab und liess nicht erwachen seinen ganzen Grimm» (Ps 78,36–38). Der Psalm 78 endet schliesslich mit der Erwählung des Stammes Juda und der Erwählung Davids: «Er erwählte David, seinen Knecht, und nahm ihn weg von den Hürden der Schafe. Von den Muttertieren weg holte er ihn, dass er Jakob, sein Volk, weidete und Israel, sein Erbteil» (Ps 78,70.71). O, wie hätten diese Worte zu den Herzen dieses Volkes sprechen müssen!
Vers 36
Dann entliess er die Volksmengen und kam in das Haus; und seine Jünger traten zu ihm und sprachen: Deute uns das Gleichnis vom Unkraut des Ackers! Mt 13,36
Zu Beginn des Kapitels 13 des Matthäus-Evangeliums ist uns mitgeteilt worden, dass der Herr Jesus das Haus verlassen hat und an den See gegangen ist. Wir haben gesehen, dass dieser Ortswechsel eine wichtige symbolische Bedeutung hat, weil er davon spricht, wie der HERR sich von Israel weg hin zu den Nationen gewendet hat. Seine Botschaft, die sich nun gewissermassen an die ganze Welt richtete, war rätselhaft und geheimnisvoll. Sie beschreibt im Wesentlichen das christliche Zeugnis auf der Erde, also die Art und Weise, wie die Christenheit von den Menschen im Allgemeinen wahrgenommen wird. Dabei spielen Vermischung, Täuschung und Böses leider eine ganz wesentliche Rolle.
Hier haben wir nun einen weiteren Ortswechsel vor uns. Der Herr Jesus entliess die Volksmengen. Seine Belehrungen für die Allgemeinheit waren fürs Erste beendet. Dann trat Er zusammen mit den Jüngern in ein Haus. Das war aber keine Rückkehr in das Haus, das Er verlassen hatte, um die Volksmengen am See zu belehren. Die weiteren Ausführungen im Matthäus-Evangelium werden uns zeigen, dass Er Seine besondere Beziehung zu Israel (als Messias) nicht wieder aufgenommen hat. Erst für eine sogar heute noch in der Zukunft liegende Zeit ist eine Wiederaufnahme der Beziehung zu Israel vorhergesagt. Das Haus ist hier also nicht als ein Symbol für das Haus Israel zu sehen, sondern allgemeiner zu verstehen, nämlich als ein Gegensatz zu einem öffentlichen Platz. Das Haus spricht hier von Intimität und wir werden noch sehen, dass der Herr Jesus im Haus Dinge gesagt hat, die nur für Seine Jünger, aber nicht für die Volksmengen gedacht waren.
Die Jünger haben das gut verstanden und nicht gezögert, die günstige Gelegenheit zu nutzen. Sofort baten sie den Herrn Jesus, ihnen das Gleichnis vom Unkraut des Ackers zu deuten, also jenes Gleichnis, in dem der Feind Gottes Taumellolch unter den Weizen sät. Ist das nicht wunderbar? Die Jünger waren nicht klüger als wir. Sie verstanden nicht einfach so alles, was der Herr Jesus sagte, sondern benötigten Erklärungen, wie wir auch. Aber sie waren Ihm nahe und hatten deshalb die Möglichkeit, Ihn direkt um solche Erklärungen zu bitten. Einen solchen Zugang hatten die Volksmengen nicht. In Ps 25,14 heisst es: «Das Geheimnis des HERRN ist für die, welche ihn fürchten». Wer den HERRN liebt, ehrt und fürchtet, der darf mehr vom Herzen Gottes verstehen als die übrigen Menschen, der darf Ihm näher sein, der wird von Ihm ins Vertrauen gezogen. Wunderbare Verheissung!
Vers 37
Er aber antwortete und sprach: Der den guten Samen sät, ist der Sohn des Menschen, Mt 13,37
Die Jünger erhielten auf ihre Frage prompt eine Antwort. Auch wir, die wir den HERRN aufrichtig besser kennen lernen wollen, dürfen durch das Wort Gottes in Verbindung mit Gebet in Sein Geheimnis eingeführt werden. In den Versen, die nun vor uns liegen, finden wir in kurzen, präzisen Ausführungen alle wichtigen Schlüssel, die wir für das Verständnis der «öffentlichen» Gleichnisse in Mt 13 benötigen. Bei den vorherigen Ausführungen habe ich schon mehrfach auf diese Schlüssel zugegriffen, weil die Gleichnisse ohne diese Schlüssel nicht ausgelegt werden können.
Der Sämann ist der Sohn des Menschen, das heisst der Herr Jesus selbst. Wenn wir an Seinen Dienst als Mensch auf der Erde denken, fallen uns gewiss in erster Linie die Zeichen und Wunder ein, die Er getan hat. Wir denken an Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen etc. Sein Dienst ist es aber in erster Linie gewesen, das Wort Gottes zu predigen. Die Zeichen und Wunder sowie all die Wohltaten, die Er den Menschen erwiesen hat, haben diesen zentralen Dienst lediglich flankiert. Das Kernelement Seines Wirkens ist also das Ausstreuen von Gottes Wort gewesen, wobei wir im nächsten Vers sehen werden, dass Er etwas anderes als den guten Samen bezeichnet. Darauf werden wir noch näher eingehen.
Sein Dienst hat mit Seinem Tod geendet, könnte man meinen. Der gute Sämann hat die Erde wieder verlassen. Aber der gute Same wird weiterhin ausgestreut. Wie das? Nun, Christus lebt in jedem einzelnen Gläubigen und wenn ein Gläubiger in dieses Werk eintritt und es fortführt, ist es so, wie wenn der Herr Jesus selbst weiter den guten Samen ausstreuen würde. Neben zahlreichen Stellen in den neutestamentlichen Briefen, die uns diese Wahrheit erklären, zeigt eine kleine Diskrepanz zwischen zwei sehr ähnlichen Gleichnissen diese Wahrheit auf eine sehr anziehende Weise: In Lk 14,15ff. finden wir ein Gleichnis über ein grosses Gastmahl, in dem unter anderem ein Knecht ausgesandt wird, Menschen zu nötigen, in das Haus des Gastgebers zu kommen (Lk 14,23); in Mt 22,1ff. geht es um eine Hochzeitsfeier, für die viele Knechte ausgesandt werden, die die Menschen einladen sollen (Mt 22,9). Die Aktivität ist dieselbe, aber einmal sind es viele Knechte und einmal ist es nur ein Knecht. Die vielen Knechte sind die Gläubigen, die Menschen einladen, an der Hochzeitsfeier des Sohnes Gottes teilzunehmen; der eine Knecht ist der Heilige Geist, der durch die Gläubigen Menschen zu Gott ziehen will. Die Gläubigen können nur einladen und bitten, aber der Heilige Geist kann nötigen, das heisst Menschen fast schon gewaltsam dazu bringen, an der Feier teilzunehmen. Wir haben hier also zwei Seiten von ein und derselben Münze vor uns. So ist es auch in Bezug auf den Sämann. Er führt Sein Werk noch weiter aus, bis dieses christliche Zeitalter endet, aber nicht mehr direkt als Mensch auf der Erde, sondern indirekt aus dem Himmel durch Seine Diener auf der Erde.
Vers 38
der Acker aber ist die Welt; der gute Same aber sind die Söhne des Reiches, das Unkraut aber sind die Söhne des Bösen; Mt 13,38
Der Acker, auf dem der gute Same gesät wird, ist die Welt. Was uns als eine Selbstverständlichkeit erscheint, ist für die Juden damals eine Sensation gewesen, denn seit Jahrhunderten hatte es eine klare Trennung zwischen Israel und den übrigen Nationen gegeben. Wir haben aber bereits gesehen, dass das Wort Gottes nun gleichermassen zu allen Nationen auf der ganzen Welt ausgehen sollte. Dieser umfassende Missionsbefehl hat in der Christenheit rund 1’800 Jahre lang ein Stiefmütterchendasein gefristet. Erst in der grossen Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert ist den Christen wirklich wieder bewusst geworden, dass das Evangelium in die ganze Welt hinaus getragen werden sollte!
Nun haben wir aber noch ein Auslegungsproblem zu lösen, denn ich habe wiederholt vom guten Samen als dem Wort Gottes geschrieben, hier heisst es aber, dass der gute Same die Söhne des Königreiches Gottes seien. Allerdings haben wir hier in Mt 13 ja zwei Gleichnisse, die vom Ausstreuen von gutem Samen sprechen. Im ersten Gleichnis ist der gute Same, der ausgestreut wird, eindeutig das Wort Gottes, denn es heisst beispielsweise in der Erklärung des Herrn Jesus vom guten Samen, der an den Weg gestreut wird: «Sooft jemand das Wort vom Reich hört und nicht versteht, kommt der Böse und reisst weg, was in sein Herz gesät war» (Mt 13,19). Was gilt denn jetzt? Ist der gute Same das Wort Gottes oder sind es die Söhne des Königreiches Gottes? Beides!
Was wie ein Widerspruch klingt, ist keiner. Wir müssen verstehen, wie jemand ein Sohn des Königreiches Gottes wird, d.h. wie jemand von Neuem geboren wird. Beispielhaft seien hier zwei Stellen angeführt: «Nach seinem Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit geboren, damit wir eine Art Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe sind» (Jak 1,18); «denn ihr seid wiedergeboren nicht aus vergänglichem Samen, sondern aus unvergänglichem, durch das lebendige und bleibende Wort Gottes» (1.Petr 1,23). Das neue, ewige Leben kann nur von Gott gegeben werden und Er gibt es durch Sein Wort. Sein Wort ist gewissermassen der Same, der in unserem Herzen keimt und als eine neue Schöpfung aufgeht. Im ersten Gleichnis hier in Mt 13 steht der gute Same für das Wort Gottes, denn er wird ausgestreut und keimt nicht in jedem Fall; das zweite Gleichnis beschäftigt sich dagegen mit jenem Samen, der bereits auf dem richtigen Boden gelandet ist und gekeimt hat, also mit jenen Menschen, die das neue Leben empfangen haben und zum wahren, lebendigen Glauben an Gott gekommen sind. Wir haben es also nicht mit zwei widersprüchlichen Auslegungen zu tun, sondern mit zwei verschiedenen Phasen (vor und nach der Keimung). Das soll uns zeigen, welche wichtige Rolle das Wort Gottes bei der Verkündigung des Evangeliums spielt. Dieses Wort, die Bibel, ist das Mittel, durch das der HERR das neue Leben mitteilt. Wenn wir das Evangelium verkündigen, muss die Bibel deshalb die zentrale Rolle spielen.
Vers 39
der Feind aber, der es gesät hat, ist der Teufel; die Ernte aber ist die Vollendung des Zeitalters, die Schnitter aber sind Engel. Mt 13,39
Die Christenheit ist, wie wir nun mehrfach deutlich gesehen haben, geprägt von einer Vermischung zwischen echten und unechten Christen, solchen, die wirklich das neue Leben aus Gott empfangen haben, und solchen, die das nur von sich behaupten. Unter den unechten Christen gibt es solche, die ganz gezielt vom Teufel in die Gemeinden eingeschleust werden! Diesbezüglich sollten wir nicht naiv sein, denn der HERR hat uns ganz klar davor gewarnt. Allerdings liegt es nicht an uns, nach eigenem Ermessen «Unkraut zu jäten». Natürlich muss die Gemeinde Zucht üben, d.h. solche, die böse Lehren vertreten oder ein moralisch böses Leben führen, zurechtweisen und nötigenfalls aus der praktischen Gemeinschaft ausschliessen. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, herauszufinden, wer «echt» oder «unecht» ist, und noch viel weniger, die (vermeintlich) «Unechten» auszurotten, wie man es jahrhundertelang getan hat.
Die Trennung wird erst bei der Vollendung des Zeitalters erfolgen und sie wird von Engeln, nicht von Menschen ausgeführt werden. Was ist mit diesem Begriff «Vollendung des Zeitalters» gemeint? Darunter ist nicht das zu verstehen, was die Leute meinen, wenn sie von «Endzeit» oder gar von «Weltuntergang» sprechen. In der Bibel findet man zwar zahlreiche detaillierte Aussagen über eine schreckliche Zeit, die auf diese Erde zukommen wird, aber kein Weltuntergangsszenario. Vielmehr lehrt die Bibel, dass sich die Menschheitsgeschichte in verschiedene Zeitabschnitte einteilt, die «Zeitalter» genannt werden. Ganz genau betrachtet ist die christliche Zeit kein solches «Zeitalter», sondern vielmehr ein Einschub innerhalb eines Zeitalters, das früher begonnen hat und auch später enden wird, aber der Einfachheit halber kann man unter der «Vollendung des Zeitalters» ungefähr den Abschluss der christlichen Zeit verstehen. Das wird jener Moment sein, in dem sich der letzte Mensch, der nach dem Ratschluss Gottes zur wahren christlichen Gemeinde (ekklesia) gehört, bekehrt; dann werden die noch lebenden Christen entrückt werden, d.h. spurlos von diesem Erdboden verschwinden. Das wird ein ganz markanter Einschnitt in den Wegen Gottes mit den Menschen sein, von den Menschen aber wohl kaum bemerkt werden. Denn so ist es immer. Der absolut entscheidende Wendepunkt der Menschheitsgeschichte zum Beispiel, der Kreuzestod unseres Herrn Jesus, ist heute nichts weiter als eines von vielen historischen Ereignissen, obwohl sich in diesem Moment unser ganzes Schicksal entschieden hat. So wird auch die Entrückung keinen wesentlichen Einfluss auf das Weltgeschehen haben, obwohl sie einen ganz neuen Abschnitt in den Wegen Gottes mit den Menschen einleiten wird. Wie genau dann die Trennung zwischen Weizen und Unkraut erfolgen wird, schildern uns die folgenden Verse.
Vers 40
Wie nun das Unkraut zusammengelesen und im Feuer verbrannt wird, so wird es in der Vollendung des Zeitalters sein. Mt 13,40
Im Gleichnis werden der Weizen und das Unkraut separat gesammelt. Die Schnitter (die Engel) sorgen dafür, dass Weizen zu Weizen und Unkraut zu Unkraut gesammelt wird. Der Weizen wird in die Scheune gebracht, das Unkraut wird verbrannt. Bei der Vollendung des Zeitalters werden die wahren Gläubigen an ihren Bestimmungsort gebracht. Die bereits gestorbenen Gläubigen werden aus den Toten auferstehen und dann zusammen mit den noch lebenden Gläubigen verwandelt werden, was bedeutet, dass sie ihren neuen Auferstehungskörper erhalten werden, der perfekt ist. Dann werden sie zum Herrn Jesus entrückt werden, wobei die Bibel lehrt, dass Er selbst uns entgegen kommen wird, so dass wir uns alle gewissermassen in der Mitte treffen werden. Zusammen mit Ihm werden wir in das Haus des Vaters eingehen, in den himmlischen Tempel, wo es viele Wohnungen hat, die für uns bereitet worden sind. Das Sammeln des Weizens in die Scheune ist eine sehr schöne Veranschaulichung für diesen einmaligen Vorgang.
Nach der Entrückung wird diese Welt von schrecklichen Gerichten heimgesucht werden. Die Zeit der Gnade wird dann zu Ende sein und der HERR wird durch schlimme Plagen, die von Kriegen über Naturkatastrophen alles Elend beinhalten, das man sich nur vorstellen kann, einen Zustand unerbitterlicher Gerechtigkeit auf dieser Erde herstellen. Wer davor grosse Vorrechte genossen, diese aber im Eigendünkel für sich selbst verschwendet und die damit einhergehende Verantwortung nicht wahrgenommen hat, wird besonders hart getroffen werden. Israel, das Volk, das in den vergangenen Jahrhunderten schon so viel Schreckliches durchgemacht hat, wird besonders in die Mangel genommen werden. Die grosse Drangsal (Trübsal) wird in Jer 30,7 eine Drangsal für Jakob genannt. Aber auch die abgefallene Christenheit wird übel heimgesucht werden, denn sie hat den herrlichen Namen unseres Herrn Jesus Christus in den Dreck gezogen. Weil die wahren Gläubigen dann entrückt sein werden (der Weizen wird in der Scheune gesammelt sein), wird es zwar weiterhin eine Christenheit und sogenannt christliche Länder geben, aber alles Wahre wird daraus entfernt sein; es wird nur noch Falsches und Verkehrtes geben. Das Feuer des Gerichtes wird diese falschen Bekenner besonders hart treffen. Und das wird erst der Auftakt für die ewige Verdammnis im See sein, der mit Feuer brennt! Schrecklich!
Vers 41
Der Sohn des Menschen wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle Fallstricke zusammenlesen und die, die Gesetzloses tun, Mt 13,41
Nach der Entrückung der wahren Gläubigen werden die Christenheit und die Kirchen zunächst weiter «funktionieren» wie gewohnt. Es ist (leider!) fraglich, ob die Menschheit im Allgemeinen einen grossen Unterschied bemerken wird. Ein begnadeter Prediger hat einmal gesagt: «Wenn Sich der Heilige Geist aus der heutigen Kirche entfernen würde, würde 95 Prozent von dem, was wir tun, weiter laufen und niemand würde einen Unterschied bemerken; wenn Sich der Heilige Geist aus der Kirche zur Zeit des Neuen Testamentes entfernt hätte, hätte 95 Prozent von dem, was die Christen damals getan haben, gestoppt und jeder hätte den Unterschied bemerkt». Den Kirchen in der kommenden Zeit nach der Entrückung wird nur etwas fehlen, nämlich die Anwesenheit des Herrn Jesus Christus in der Mitte der Zusammenkünfte. Diese spielt aber leider bereits heute in vielen Kirchen keine Rolle mehr; die Kirchen entwickeln sich jetzt schon zu diesem hohlen und leeren Gerüst jener kommenden Tage. Aber dann werden die schrecklichen Gerichte, die Gott jetzt noch zurückhält, auf diese Erde und insbesondere auf die abgefallene Christenheit niedergehen. Am Ende wird der HERR Seine Engel aussenden, um all diese falschen und bösen Christen, die weiterhin durch die Sünde geprägt sind (denn die Sünde ist die Gesetzlosigkeit), zu sammeln und ins Feuer der Verdammnis zu werfen.
Das alles ist so schrecklich, dass es dafür keine passenden Worte gibt. Wir können uns in unseren schlimmsten Träumen nicht ausmalen, wie schlimm das alles sein wird. Der zweite Weltkrieg mit all seinen Schrecken und Gräueltaten wird im Vergleich dazu wie ein harmloses Geplänkel wirken. Wer allerdings schon jetzt seine Zuflucht beim einzig wahren Fels in der Brandung, bei Gott, gesucht und gefunden hat, der darf sich die grosse christliche Hoffnung der Entrückung vor jener schrecklichen Zeit zu eigen machen. Und bedenken wir wohl: Die falschen Christen werden von den Engeln gesammelt werden; die wahren Christen werden dagegen vom Herrn Jesus selbst abgeholt werden (1.Thess 4,16).
Vers 42
und sie werden sie in den Feuerofen werfen; da wird das Weinen und das Zähneknirschen sein. Mt 13,42
Jene Menschen, die nur so getan haben, als wären sie Christen, werden in einen Feuerofen geworfen werden. Im Gleichnis ist die Rede vom Verbrennen des Unkrautes. Aus der Bibel wissen wir, dass es einen «zweiten Tod» gibt, der ein Feuersee ist (Offb 20,14) bzw. ein See, der mit Feuer und Schwefel brennt (Offb 21,8). Das klingt so schrecklich, dass sich viele Leute mit dem Gedanken trösten wollen, was verbrannt werde, sei danach ausgelöscht. Man denkt also, dass die Leute, die an diesem schrecklichen Ort landen werden, irgendwann vergehen werden, dass ihre Qualen irgendwann einmal ein Ende finden werden. Aber das ist leider nicht der Fall. In Mk 9,48 heisst es z.B. von diesem Ort, dass das Feuer nicht erlischt und dass «der Wurm» der Menschen nicht stirbt, dass es also immer einen Teil des menschlichen Bewusstseins geben wird, für den die schrecklichen Qualen der Hölle kein Ende nehmen werden. Auch der Vers, den wir gerade betrachten, weist darauf hin, denn die Rede ist nicht von einem Vergehen oder von einem Verbrennen, sondern von Weinen und von Zähneknirschen ohne jeden Hinweis auf ein Ende. Die Hölle ist ein so schrecklicher Ort, dass wir uns keine Vorstellung davon machen können! Endlose Qualen, endloses Bereuen (Zähneknirschen), endlose Trauer und Hoffnungslosigkeit (Weinen) erwarten die Menschen. Wollen wir nicht die kurze Zeit, die noch bleibt, nutzen, um so viele Mitmenschen wie möglich vor diesem schlimmen Schicksal zu bewahren?
Vers 43
Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in dem Reich ihres Vaters. Wer Ohren hat, der höre! Mt 13,43
Wer sind die «Gerechten»? Sind das Menschen, die ein vorbildliches, frommes Leben geführt haben? Nein! Das sind Menschen, die von Gott selbst als gerecht erklärt werden, also Menschen, von denen Er sagen kann, dass keine Schuld an ihnen ist. Gibt es denn solche Menschen? Eigentlich nicht, denn wir alle sündigen. Die einen sündigen mehr, die anderen weniger, die einen offener, die anderen versteckter, aber wir alle haben in unserem Leben schon zigfach gegen das göttliche Gesetz verstossen und deshalb sind wir alle schuldig. «Denn wer das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller Gebote schuldig geworden» (Jak 2,10); «da ist kein Gerechter, auch nicht einer; da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer» (Röm 3,10–12).
Von all den vielen Milliarden Menschen, die je gelebt haben, gibt es nur eine einzige Ausnahme, nämlich den Herrn Jesus Christus. Er ist der einzige Mensch, der vollkommen gerecht gelebt hat. Er ist der einzige Mensch, der Gott nichts schuldet, weil Er alles erfüllt hat, was die göttliche Gerechtigkeit von einem Menschen nur fordern kann. Und dann hat Er Sich an ein Kreuz nageln lassen, um dort für fremde Schuld zu bezahlen! Wegen unserer Schuld ist Er in den Tod gegangen!
Der Tod ist der Lohn (oder: die Konsequenz) der Sünde. Wer absolut sündlos ist, muss nicht – darf nicht! – sterben. Der Herr Jesus hätte also unmöglich sterben können, weil Er keine Sünde getan hat, weil Er von keiner Sünde gewusst hat und weil Sünde nicht in Ihm gewesen ist. Nur fremde Schuld konnte Ihn in den Tod bringen – unsere Schuld. Die Tatsache, dass Er wirklich gestorben ist, ist also der schlagende Beweis dafür, dass Er unsere Sünden auf Sich genommen hat.
Aber konnte Er allein auch den vollen Preis für all diese Sünden bezahlen? Ja! Der Beweis dafür ist Seine Auferstehung. Wäre noch die kleinste Sünde an Ihm haften geblieben, wäre die kleinste Sünde ungesühnt geblieben, hätte Er nicht wieder aus den Toden auferstehen können, denn der Lohn der Sünde ist der Tod. Aber Er ist auferstanden! Er muss also vollständig bezahlt und gesühnt haben! So ist Er also gestorben wegen unserer Übertretungen und auferstanden zu unserer Rechtfertigung (Röm 4,25). Weil Er gestorben und auferstanden ist, kann Gott nun jeden, der Sein Vertrauen auf den Herrn Jesus setzt, für vollkommen gerecht erklären. Wir sind gerecht, weil Er gerecht ist. Ein «Gerechter» ist also ein Mensch, der an den Herrn Jesus Christus glaubt, d.h. sein Vertrauen zu seiner Errettung allein auf den Herrn Jesus setzt.
Diese «Gerechten» sind die wahren Gläubigen, im Gleichnis der Weizen, der in die Scheune gesammelt wird und dann, wenn das Königreich Gottes in die letzte Phase gehen wird, auf die die Juden schon so viele Jahrhunderte warten, strahlen wird wie die Sonne. Dann wird die Herrlichkeit, die Gott auf uns gelegt hat, völlig offenbar werden. Was wird das sein!
Vers 44
Das Reich der Himmel gleicht einem im Acker verborgenen Schatz, den ein Mensch fand und verbarg; und vor Freude darüber geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker. Mt 13,44
Gleich an die Auslegung des Gleichnisses vom Weizen und vom Unkraut folgen drei weitere Gleichnisse über die geheimnisvolle (christliche) Phase des Königreiches Gottes. Diese drei Gleichnisse richten sich nur an die Jünger, die mit dem Herrn Jesus im Haus versammelt sind, nicht mehr an die Volksmengen; es sind also drei eher private Gleichnisse. Tatsächlich werfen sie einen ganz anderen Blick auf unsere Zeit als die vier öffentlichen Gleichnisse. Wir erinnern uns: Die öffentlichen Gleichnisse sprechen von Vermischung und von einer Entwicklung hin zum Bösen. Die drei Gleichnisse, die wir jetzt vor uns haben, haben einen ganz anderen Charakter.
Das erste der Gleichnisse beschreibt keine Entwicklung, sondern eine bereits (offenbar seit langer Zeit) bestehende Sache, nämlich einen in einem Acker verborgenen Schatz. Der Schatz verändert sich nicht. Er ist einmal zusammengestellt worden und bei dieser Zusammenstellung bleibt es. Wir finden hier auch keinen Hinweis auf eine Vermischung. Der Schatz an sich ist wertvoll und jedes einzelne Teil des Schatzes ist wertvoll. Zumindest enthält das Gleichnis keinen Hinweis darauf, dass es anders sein könnte. Schliesslich finden wir auch keinen Hinweis auf etwas, das unsere Besorgnis erregen müsste. Im Gegenteil wird von Freude gesprochen.
Wie können wir das nun mit dem zusammenbringen, was wir bereits betrachtet haben? Das ist einfach! Die «öffentlichen» Gleichnisse beschreiben die Christenheit so, wie sie quasi von aussen oder eben «in der Öffentlichkeit» wahrgenommen wird. Es geht also um das, woran die Menschen im Allgemeinen denken, wenn man über die Christenheit spricht. Die «privaten» Gleichnisse beschreiben dagegen die Christenheit aus der Sicht Gottes, sozusagen das innere Wesen der Christenheit. Das ist etwas ganz anderes, weil «der HERR sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, aber der HERR sieht auf das Herz» (1.Sam 16,7). Wenn ein Mensch von sich behauptet, er sei ein Christ, dann gehört er unweigerlich zur Christenheit in ihrem weit verstandenen Sinn, also zu dem, was die Menschen unter dem Begriff Christenheit verstehen. Glaubt dieser Mensch aber gar nicht im Sinne der Bibel an den Herrn Jesus Christus, dann ist sein Bekenntnis hohl und inhaltslos. Das Bekenntnis rettet diesen Menschen nicht; er ist gar kein Christ in den Augen Gottes, sondern weiterhin ein verlorener Sünder. Aus der Sicht Gottes gehört ein solcher Mensch also nicht zur Christenheit. Damit ist klar, dass die «öffentlichen» Gleichnisse die Gesamtheit der heute rund zwei Milliarden Menschen mit all ihren verschiedenen Kirchen, System und Einrichtungen beschreiben, die sich Christen nennen. Die «privaten» Gleichnisse beschreiben dagegen den viel, viel kleineren Kreis derer, die ihr Vertrauen wirklich voll und ganz auf den Herrn Jesus setzen.
Die kleine Schar der wahren Christen gleicht einem im Acker verborgenen Schatz. Der Acker ist die Welt (Mt 13,38). In der Welt gibt es also – für Menschen verborgen, aber bei Gott gekannt – Menschen, die für Gott besonders wertvoll sind. Wieso für Gott? Weil der Mensch im Gleichnis hingeht und den Acker kauft und weil nur Gott etwas geben kann, um etwas zu kaufen. Der Mensch hat nichts, das ihm nicht gegeben worden wäre; alles, was er hat, ist ihm bloss von Gott anvertraut worden, damit er es verwalte – aber es gehört Gott!
Gott hat mit der «unaussprechlichen Gabe» (2.Kor 9,15) bezahlt, Er hat Seinen eingeborenen Sohn am Kreuz gegeben, um Sich diesen Schatz zu sichern. Gerettete Menschen sind immer erlöste Menschen, d.h. erkaufte Menschen. Obwohl Gott alles gehört, musste Er diese Menschen kaufen, denn Rettung ist nicht möglich, ohne dass unsere Schuld beglichen wird. Doch welch wunderbare Gnade! Gott hat nicht nur den Schatz, sondern den ganzen Acker, also die ganze Welt, gekauft! Das Werk Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha ist wertvoll genug, um jeden einzelnen Menschen, der je gelebt hat, zu retten! Wenn alle ihr Vertrauen auf Ihn setzen würden, würde das, was Er bezahlt hat, für alle ausreichen. So herrlich ist das, was Er getan hat! Aber nicht alle nehmen dieses Angebot an, nicht alle leisten dem Befehl zur Busse Folge. Deshalb gibt es einen Acker und einen Schatz; deshalb gehört nur ein Bruchteil der Menschheit zum Schatz.
Vers 45
Wiederum gleicht das Reich der Himmel einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte; Mt 13,45
Auf das Gleichnis vom Schatz im Acker folgt gleich ein weiteres Gleichnis, das einen sehr ähnlichen Gedanken vermittelt, aber die Sache von einem anderen Blickwinkel beleuchtet. Der Schatz im Acker hat viele Bestandteile und spricht damit eher von den einzelnen Erlösten. Eine Perle, um die es in diesem Gleichnis geht, ist dagegen ein Stück, das seinen Wert komplett verliert, wenn es zerteilt wird. Nur als Ganzes ist eine Perle wertvoll. Der Kaufmann in diesem Gleichnis sucht also etwas, das sich nicht aus vielen Teilen zusammensetzt, sondern ein Ganzes. Hier steht also eher die ekklesia, die Gemeinde, als eine vollkommene, organisch verbundene Einheit vor uns. Wir denken vielleicht an Eph 5,25, wo es heisst, dass der Christus die Gemeinde (und nicht etwa die einzelnen Erlösten) geliebt und sich für die Gemeinde hingegeben hat. Man könnte auch sagen, dass diesbezüglich das Ganze mehr als nur die Summe seiner Teile ist. Die Gemeinde als Ganzes hat für sich gesehen einen zusätzlichen, besonderen Wert für den Herrn Jesus!
Noch ein Aspekt unterscheidet die beiden Gleichnisse: Im Gleichnis vom Schatz im Acker scheint der Mensch eher zufällig über den Schatz gestolpert zu sein. Er entdeckt ihn vermeintlich unerwartet und wirft dann quasi alle seine vorherigen Pläne über Bord, um diesen Schatz für sich haben zu können. Das könnte den Eindruck erwecken, dass der HERR reaktiv gehandelt habe, was allerdings völlig verkehrt wäre. In 1.Petr 1,19.20 heisst es, dass der Herr Jesus als das Lamm für die Sühnung der Sünden ausersehen gewesen ist vor Grundlegung der Welt. Das Sündopfer stand also bereits, bevor die Sünde in die Welt gekommen ist! Diesen Aspekt zeigt das Gleichnis von der Perle deutlicher, denn hier haben wir einen Kaufmann vor uns, der sich auf der Suche nach der Perle befindet. Er ist also aktiv, Er ist auf der Suche, Er hält das Geld für den Kauf bereit. Alles geht von Ihm aus.
Vers 46
als er aber eine sehr kostbare Perle gefunden hatte, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie. Mt 13,46
Es gibt viele schöne Perlen. Ein Kaufmann, der nach solchen schönen Perlen sucht, kann an vielen Orten fündig werden, Perlen kaufen, wieder verkaufen, investieren, aufbewahren etc. Aber der Kaufmann im Gleichnis des Herrn Jesus war nicht auf der Suche nach irgendeiner Perle oder nach vielen Perlen, sondern er suchte eine ganz bestimmte Perle. Endlich fand er sie! Aber sie war so unglaublich teuer, dass er alles verkaufen musste, was er hatte, um sie zu kaufen. Weil dies sein eigentliches Ziel war, weil dies seine Bestimmung war, gab er willig alles, was er hatte, um diese Perle zu kaufen.
Der Herr Jesus hat nicht nur alles gegeben, was Er hatte, sondern Er hat Sich selbst gegeben! Seine Hingabe ist grenzenlos gewesen. Wenn wir bedenken, dass Er der Einzige im Universum ist, der überhaupt etwas von Wert hat, das Er geben kann, wenn wir bedenken, dass Er – gerade im Gegensatz zu uns – unendlich reich ist, dann ist es umso erstaunlicher, dass Er alles gegeben hat, dass Er Sich selbst gegeben hat. Der Vater in den Himmeln könnte, wenn Er wollte, von allen möglichen Dingen und Geschöpfen Milliarden von Kopien erstellen, aber Seinen geliebten Sohn gibt es nur ein einziges Mal. Und Ihn hat Er für uns hingegeben!
In diesem Zusammenhang ist interessant zu erfahren, wie Perlen entstehen. Perlen entstehen, wenn ein Sandkorn oder irgendeine andere Form von Verunreinigung in das empfindliche Fleisch einer Muschel eindringt. Die Muschel kann sich nicht so bewegen, dass sie ein solches Sandkorn oder eine solche Verunreinigung wieder loswerden könnte. Sie muss Schmerzen leiden, ohne dass sie sich zunächst dagegen wehren könnte. Allerdings ist sie in der Lage, die Verunreinigung mit einem eigens produzierten Stoff (Perlmutt) zu überziehen. Dadurch kann sie Entzündungen vermeiden und dem störenden Fremdelement die scharfen Kanten nehmen, die sie so schmerzen. Mit der Zeit überzieht die Muschel die Verunreinigung mit immer weiteren Schichten von Perlmutt. Eine Perle entsteht. So ist auch die ekklesia, die Gemeinde, entstanden. Der Herr Jesus hat einen unvergleichlichen Schmerz in Sein Fleisch dringen lassen, aber dann das, was Ihn so geschmerzt hat – unsere Sünden – mit Seiner eigenen Herrlichkeit überkleidet. Das Ergebnis ist perfekt und vollkommen, weil es Sein Werk ist.
Vers 47
Wiederum gleicht das Reich der Himmel einem Netz, das ins Meer geworfen wurde und Fische von jeder Art zusammenbrachte, Mt 13,47
Das siebte und letzte Gleichnis in Mt 13 steht in einem auffälligen Kontrast zu den vorangehenden Gleichnissen. Inhaltlich scheint es eher zu den ersten, «öffentlichen» Gleichnissen zu gehören, die vom äusseren Erscheinungsbild der Christenheit und von einer schlimmen Vermischung von Gutem und Bösem sprechen. Aber das Gleichnis richtet sich wiederum an den vertrauten Kreis der Jünger. Es enthält nämlich in seinem Kern eine Verhaltensansweisung für Nachfolger des Herrn Jesus.
Während die Gleichnisse vom Menschen, der einen Schatz im Acker findet, und vom Kaufmann, der eine besondere Perle findet, davon sprechen, wie der HERR ganz gezielt Menschen sucht und findet, die Seine wahre Gemeinde (die ekklesia) bilden, haben wir hier nun die menschliche Seite vor uns, denn es hat dem HERRN gefallen, Seine Jünger in die Arbeit miteinzubeziehen und sie zu Menschenfischern zu machen. Natürlich können Menschen aber nie so zielgerichtet vorgehen wie der HERR. Wir können nicht Ausschau nach jenen Menschen halten, die sich wohl bekehren werden, denn wir kennen weder die Herzen der Menschen noch den Ratschluss Gottes im Einzelnen. Aber das ist Gott sei Dank auch gar nicht unsere Aufgabe!
Als Christen sind wir aufgerufen, ein Netz ins Meer zu werfen. Das hier verwendete Wort kommt nur an dieser Stelle vor. Es bezeichnet ein Schleppnetz, mit dem man üblicherweise in einem Teilbereich eines Sees oder Meeres einfach alles zusammengesammelt hat, was es zu sammeln gab. So sollen wir also Fische von jeder Art zusammenbringen. Wir sollen so breit wie nur möglich streuen, denn das Ziel ist es, so viele «gute» Fische wie nur möglich zusammen zu bringen – egal, wie viele «schlechte» Fische als Beifang mitkommen. Unser Auftrag in unserer heutigen christlichen Zeit ist also zuerst einmal dadurch geprägt, dass wir so viele Menschen wie nur möglich in die Nähe Gottes führen sollen. Das Evangelium soll so breit wie nur irgend möglich gestreut werden.
Vers 48
das sie dann, als es voll war, ans Ufer heraufzogen; und sie setzten sich nieder und lasen die guten in Gefässe zusammen, aber die faulen warfen sie hinaus. Mt 13,48
Mit einem Schleppnetz fängt man alles Mögliche. Das Schleppnetz eignet sich nicht für eine gezielte Jagd; sein Einsatz erfordert stets eine nachfolgende Auslese. In unserem Vers ist die Rede von guten und faulen Fischen, aber wenn man sich vor Augen führt, dass die damaligen Zuhörer unwillkürlich an fischende Juden denken mussten, dann dürfte es sich vielmehr um die Auslese im Sinne von 3.Mose 11 gehandelt haben, also um die Unterscheidung zwischen reinen (koscher) und unreinen Tieren, denn die Israeliten durften nicht alle im Wasser lebenden Tiere essen (3.Mose 11,9ff.). Nach dem Einsatz eines Schleppnetzes mussten sie also eine Auslese vornehmen: Die reinen Tiere sammelten sie in Gefässe, die unreinen warfen sie zurück ins Wasser.
Genau so sollen wir als Christen im übertragenen Sinn heute auch vorgehen. Wir sollen das Evangelium so weit und so breit wie nur irgend möglich streuen, danach trachten, so viele Menschen wie nur möglich in die Nähe Gottes zu führen. Aber wir sollen dann nicht einfach wahllos alle Menschen, die wir «gefangen» haben, als «reine Tiere» betrachten. Wenn es um die Frage geht, mit wem wir den christlichen Weg gemeinsam gehen wollen, müssen wir eine Auslese vornehmen. Jene Menschen, die ein ernsthaftes Interesse und Anzeichen für eine echte Bekehrung zeigen, sollen wir «in Gefässe sammeln», d.h. in lokale Gemeinden (Kirchen) aufnehmen, uns um sie kümmern. Die übrigen Menschen sollen wir wieder gehen lassen. Wir müssen sie nicht etwa mit Gewalt zwingen, sich uns anzuschliessen, wie das leider in der Kirchengeschichte über Jahrhunderte versucht worden ist, sondern ihre Entscheidung akzeptieren und ihrem Wunsch, in die Welt zurückzukehren, nachgeben. Vor dem HERRN ist nämlich alles andere als eine aufrichtige Bekehrung wertlos.
Doch wie können wir sicher sein, dass wir richtig «auslesen»? Das können wir leider nicht! Wir müssen nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen. Dabei müssen wir uns an dem orientieren, was wir wahrnehmen und beurteilen können. Für die definitive, richtige Auslese wird der HERR besorgt sein, wie wir im folgenden Vers finden werden.
Vers 49
So wird es in der Vollendung des Zeitalters sein: Die Engel werden hinausgehen und die Bösen aus der Mitte der Gerechten aussondern Mt 13,49
Solange diese christliche Zeit währt, stehen wir Christen in der Verantwortung zu beurteilen, ob jemand wirklich den Weg des Glaubens geht oder nicht. Da wir nicht in die Herzen der Menschen sehen können (1.Sam 16,7), sind wir gehalten, uns einerseits am Bekenntnis der Menschen zu orientieren, andererseits aber auch zu prüfen, ob das Verhalten mit dem Bekenntnis übereinstimmt. Wir müssen und können also gar nicht prüfen, ob jemand wirklich ein Christ ist. Entscheidend für uns ist, ob sich jemand selbst als Christ bezeichnet: «Wenn jemand, der Bruder genannt wird, …» (1.Kor 5,11). Vertritt eine solche Person aber böse Lehren oder zeigt sie ein moralisch böses Verhalten, kann es für sie in der Gemeinde keinen Platz geben. Soweit wir dazu fähig sind, müssen wir also dafür sorgen, dass sich in den Gefässen möglichst nur «reine Fische» tummeln; die übrigen gehören zurück in den See.
In der Vollendung des Zeitalters, also dann, wenn der Herr Jesus zurückkehren wird, um Seine Herrschaft über die ganze Erde anzutreten, wird der HERR selbst durch Seine Engel eine definitive Auslese vornehmen. Im Gegensatz zu uns kennt Er jedes menschliche Herz durch und durch (1.Sam 16,7). Niemand kann Ihm etwas vormachen. Die «Bösen», die sich erfolgreich unter den «Gerechten» halten konnten, werden dann entlarvt und entfernt werden.
Das soll uns Mut machen und uns zugleich auch etwas vom Druck entlasten, möglichst alle perfekt beurteilen zu wollen. Natürlich ist unsere Verantwortung gross und selbstverständlich sollen wir nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen, aber wir dürfen uns mit dem Gedanken trösten und entlasten, dass der HERR weiss, dass wir nicht alles richtig beurteilen können. Er wird Sich selbst darum kümmern!
Vers 50
und sie in den Feuerofen werfen; da wird das Weinen und das Zähneknirschen sein. Mt 13,50
Derzeit identifizieren sich weltweit etwa zwei Milliarden Menschen als Christen. Die meisten von ihnen sind in christlich geprägten Ländern geboren und aufgewachsen und halten sich einfach traditionsgemäss zum christlichen Glauben. Das bedeutet aber nicht, dass sie auch wirklich Christen im biblischen Sinn sind, denn nicht der ist ein Christ, der sich Christ nennt, sondern derjenige, der eine lebendige, persönliche Beziehung zu Gott führt, die auf dem Fundament aufgebaut ist, das der Herr Jesus Christus am Kreuz durch Sein Blut gelegt hat.
Vor vielen Jahrzehnten fragte ein Befehlsführer in einer Armee, ob es in seiner Truppe einen Schneider gebe. Einer der Soldaten trat vor und bejahte die Frage. Da forderte der Befehlsführer ihn auf, ihm einen abgerissenen Knopf wieder an die Hose anzunähen. Entschuldigend entgegnete der Soldat: «Ich heisse Schneider, aber ich bin kein Schneider!» Dasselbe werden leider auch sehr viele Menschen einmal vor Gott bekennen müssen, dass sie sich nämlich nur Christen genannt haben, es aber nicht gewesen sind.
Das blosse Bekenntnis kann einen Menschen nicht retten. Nur der Glaube, das feste und ausschliessliche Vertrauen auf Gott, rettet. Ob sich jemand in diesem Leben Christ genannt hat oder nicht, auf ihn wartet ein schreckliches Gericht, wenn er keinen rettenden Glauben hat. Der Ort, an dem er landen wird, wird hier ein Feuerofen genannt. In der Offenbarung wird derselbe Ort «Feuer- und Schwefelsee» (Offb 20,10) sowie «der zweite Tod» (Offb 20,14) genannt. Es ist der schrecklichste Ort, den man sich nur vorstellen kann! Die Menschen werden dort nicht nur körperliche, sondern auch seelische Qualen erleiden, wovon das Weinen und das Zähneknirschen sprechen. Man kann sich nicht ausmalen, wie schrecklich das sein wird! Aber jeder, der dort landen wird, wird genau wissen, dass er am «richtigen» Ort ist, denn nicht ein (fehlbares) menschliches Gericht, sondern der Herr Jesus selbst wird bestimmen, wer wo landet.
Vers 51
Habt ihr dies alles verstanden? Sie sagen zu ihm: Ja. Mt 13,51
Ich weiss nicht, ob ich über die Jünger schmunzeln oder den Kopf schütteln soll! Der Herr Jesus hat die damals anbrechende Phase des Königreich Gottes in sieben anspruchsvollen Gleichnissen beschrieben; zwei davon hat Er den Jüngern auf deren ausdrücklichen Wunsch hin ausgelegt. Was Er vermittelt hat, ist so unglaublich reichhaltig, dass man problemlos ein dickes Buch damit füllen könnte. Und dennoch erwidern die Jünger die Frage des HERRN, ob sie alles verstanden hätten, kurzentschlossen mit einem uneingeschränkten «Ja»!
Meine Vermutung ist, dass es den Jüngern in etwa so ergangen ist wie den meisten von uns im Mathematikunterricht: Wenn der Lehrer an der Tafel die Lösung eines mathematischen Problems Schritt für Schritt aufzeigt und erklärt, kann fast jeder folgen. Alles klingt logisch und alles scheint einfach. Aber später sitzt man allein zuhause vor einer ähnlichen Aufgabe, nur um erschrocken festzustellen, dass man nicht die leiseste Ahnung hat, wie man diese Aufgabe lösen soll! Die Jünger haben damals wohl noch nicht die Tiefe und Komplexität des Themas verstanden. Die Apostelgeschichte beschreibt anschaulich, wie schwer sie sich nach der Himmelfahrt unseres HERRN getan haben, diese Wahrheiten in ihrem Verhalten umzusetzen. Am Ende seines Lebens, in der Todeszelle in Rom, hat der Apostel Petrus eingeräumt, dass vieles von dem, was der Apostel Paulus geschrieben hatte, schwer verständlich sei. Da ist ihm wohl langsam bewusst geworden, wie mannigfaltig («vielfarbig») und tiefgründig die Weisheit Gottes ist.
Den meisten von uns geht es ähnlich. Zunächst meinen wir (oft in einem gehörigen Anflug jugendlichen Leichtsinns), wir hätten den vollen Durchblick. Aber je länger wir unseren Weg als Pilger durch diese Welt gehen, umso klarer wird uns, dass das Leben an sich und das geistliche Leben im Besonderen eine hochkomplexe Sache ist. Wir stellen fest, dass sich hinter der zunächst simpel scheinenden Oberfläche Tiefen und Komplexitäten verbergen, die wir nicht einmal ansatzweise erfassen, geschweige denn durchdringen können. Und so lernen wir, demütig zu sein.
Leider gibt es einige Christen, die sich auf diesen Erkenntnisprozess nicht einlassen wollen. Man erkennt diese Sorte Menschen daran, dass sie auf jede Frage eine Antwort hat, die sie im Brustton der Überzeugung äussert, nicht bereit ist, sich auf neue Gedanken einzulassen, und niemals zugeben würde, dass sie irgendwann einmal irgendwo falsch gelegen hat. Solche Leute sind mühsam im Umgang und sie stehen sich selbst im Weg, denn wie will der HERR sie im Verständnis weiter führen, wenn sie (vermeintlich) schon alles wissen? Aufpassen sollte man allerdings, wenn sich solche Leute als Lehrer aufspielen, was gerade durch das Internet, wo jeder alles behaupten kann, wesentlich gefördert wird. Da ist immer eine gesunde Portion Skepsis beziehungsweise der gute Ratschlag in 1.Thess 5,21 angezeigt: «Prüft aber alles, das Gute haltet fest!»
Vers 52
Er aber sprach zu ihnen: Darum ist jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Reichs der Himmel geworden ist, gleich einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorbringt. Mt 13,52
Der Herr Jesus nahm die Antwort der Jünger ernst, auch wenn sie etwas gar vorschnell gegeben worden war. Er ermutigte sie mit einem weiteren kurzen Gleichnis, nach (weiterer) Verständnis im Wort Gottes zu streben. Man könnte vielleicht meinen, angesichts des gewaltigen Wechsels, der sich damals gerade in der Heilsgeschichte Gottes vollzog, sei alles Frühere unwichtig geworden. So denken leider heute noch viele Christen. Das Alte Testament führt bei ihnen ein Schattendasein, obwohl es (zusammen mit den Zitaten im Neuen Testament) mehr als 75 Prozent unserer Bibel ausmacht!
Wir müssen verstehen, dass der HERR zwar zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich mit den Menschen gehandelt hat, dass Er Sich selbst aber niemals verändert. Jedes Wort, das aus Seinem Mund ausgegangen ist, ist Geist und ist Leben. Nichts davon wird jemals ungültig werden. Das Alte Testament ist für uns genauso relevant wie das Neue. Natürlich richtet es sich nicht direkt an uns, aber es ist doch auch für uns gegeben worden.
Wenn zu jenem Zeitpunkt ein Schriftgelehrter zum Glauben an den Sohn Gottes gekommen ist, hat er – im Gegensatz zu den Bekehrten aus den anderen Nationen – nicht bei Null angefangen, sondern bereits über ein Startkapital verfügt, nämlich über seine Kenntnis des Alten Testamentes. Auch für einen solchen Menschen gab es aber nach der Bekehrung noch sehr viel zu lernen! Die Apostelgeschichte beschreibt anschaulich, wie schwer sich die ersten Jünger getan haben, mit dem beiseite gesetzten jüdischen System zu brechen. Aber wer nicht nur ein Kind Gottes, sondern ein Jünger (wir könnten sagen: ein Student) des HERRN geworden war, konnte im Verständnis wachsen und weitere Schätze anhäufen, d.h. im Schriftverständnis weiter wachsen. Dadurch konnte er den übrigen Christen sehr nützlich werden, denn er verfügte über einen Schatz, aus dem er Neues und Altes hervorbringen konnte. Das Paradebeispiel für einen solchen Diener ist der Apostel Paulus.
Vers 53
Und es geschah, als Jesus diese Gleichnisse vollendet hatte, ging er von dort weg. Mt 13,53
Hier haben wir ganz offensichtlich den Abschluss eines Abschnittes und den Beginn eines neuen Abschnittes vor uns: Etwas ist beendet bzw. vollendet worden und etwas Neues beginnt. Wenn wir im Matthäus-Evangelium nach weiteren ähnlichen Versen suchen, werden wir feststellen, dass es fünf solche Stellen gibt, nämlich Mt 7,28; Mt 11,1; Mt 13,53; Mt 19,1 und Mt 26,1. Damit ergibt sich eine «natürliche» Unterteilung des Evangeliums in sechs Abschnitte. Einige Ausleger trennen Mt 1,1–4,22 von Mt 4,23ff., wobei sie als Begründung anführen, dass der erste Abschnitt eine Art Einführung sei; erst im zweiten Abschnitt beginne der Bericht über den Dienst des Herrn Jesus. So erhält man dann insgesamt sieben Abschnitte.
Ob es nun sechs oder sieben Abschnitte sind, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass der inspirierte Text selbst eine Einteilung vorgibt. Solche Einteilungen findet man auch in anderen Bibelbüchern, wenn man nach «Refrains» sucht. Beispielsweise endet jedes der fünf Bücher der Psalmen (diese Einteilung ist im inspirierten Text bereits vorgegeben) mit einem Lobpreis Gottes und einem doppelten «Amen» (Ps 41,14; 72,19.20; 89,53; 106,48; den Abschluss des fünften Buches bildet ein zehnfaches «Hallelujah»); im Hohenlied finden wir einen doppelten Refrain in Hld 2,7 und Hlf 3,5, in dem vor einem vorzeitigen Wecken der Liebe gewarnt wird, wodurch sich das Buch in drei Teile gliedert.
Das Beachten solcher «natürlichen» Unterteilungen kann für das Verständnis des Textes hilfreich sein, weil diese Unterteilungen deutlich und vor allem inspiriert anzeigen, wo ein Abschnitt und damit ein zusammenhängender Gedankengang Gottes endet und wo ein neuer Abschnitt beginnt. Die erst im Mittelalter (ohne göttliche Inspiration) eingeführte Einteilung in Kapitel und Verse eignet sich dafür nicht gleich gut, weil sie stellenweise einen Abschnitt fälschlich unterteilt, wie das etwa beim Übergang von Jes 52 zu Jes 53 (Jes 52,13ff. gehört inhaltlich zu Jes 53,1ff.) oder beim Übergang von Mt 11 zu Mt 12 (Mt 11,28ff. gehört inhaltlich zu Mt 12,1ff.) der Fall ist. In den allermeisten Fällen sind die Kapiteleinteilungen sehr gut gewählt, aber sie können eben doch teilweise unpassend sein. Das sollte man sich einfach bewusst machen.
Noch viel grössere Vorsicht ist bei den in manchen Übersetzungen eingefügten Zwischentiteln zu wahren, denn diese Zwischentitel sind freie Erfindungen der Übersetzer. Oft sind sie hilfreich, manchmal sind sie überflüssig und teilweise können sie sogar irreführend sein. Man sollte sich einfach immer wieder in Erinnerung rufen, dass solche Zwischentitel nicht zum inspirierten Wort Gottes gehören.
Hier in Mt 13 wäre es folglich vorteilhaft gewesen, das Kapitel 13 mit dem Vers 52 abzuschliessen und Mt 13,53 den ersten Vers des Kapitels 14 sein zu lassen. So hätte auch Mt 7,28 besser den Beginn des Kapitels 8 gebildet. Wir stellen allerdings auch fest, dass die Kapiteleinteilung bei Mt 19,1 und Mt 26,1 perfekt mit der «natürlichen» Einteilung des Textes übereinstimmt.
Vers 54
Und er kam in seine Vaterstadt und lehrte sie in ihrer Synagoge, sodass sie sehr erstaunten und sprachen: Woher hat er diese Weisheit und die Wunderwerke? Mt 13,54
Wie wir gesehen haben, läutet Mt 13,53 einen neuen Abschnitt des Evangeliums nach Matthäus ein. Der vorheriger Abschnitt (von Mt 11,1 bis Mt 13,53) hat den grossen Bruch zwischen Israel und seinem Messias zum Inhalt. Die Gleichnisse in Mt 13 gehören dazu, weil sie den Charakter des Königreich Gottes in einer Zeit beschreiben, die es so nicht gegeben hätte, wenn Israel seinen Messias nicht verworfen hätte. Der nun vor uns liegende Abschnitt von Mt 13,54 bis Mt 19,1 enthält weitere Enthüllungen über die Person des Herrn Jesus – aber nicht als Messias, sondern als Sohn Gottes.
Damit zusammenhängend finden wir in diesem Abschnitt immer wieder Konfrontationen mit Israeliten, die als den Herrn Jesus bereits definitiv verworfen habend auftreten, sowie Begegnungen mit Menschen von ausserhalb Israels, denen sich der Herr Jesus auf eine ganz neue Weise offenbart. So gesehen finden wir in diesem Abschnitt auch die grosse Wahrheit vorgestellt, dass die Gnade Gottes, nachdem sie von Israel verworfen worden ist, zu den übrigen Nationen ausströmt, wie es bis heute der Fall ist.
Wenn man den ersten Abschnitt des Matthäus-Evangeliums in eine Einleitung (bis Mt 4,22) und eine Beschreibung der Anfänge des öffentlichen Dienstes des Herrn Jesus unterteilt (vgl. den Kommentar zu Mt 13,53), ähnelt die Gliederung des Evangeliums der Menorah, dem siebenarmigen Leuchter: Wir haben sieben Abschnitte mit jeweils zwei Abschnitten, die sich «spiegeln», und eine Mittel- respektive Spiegelachse:
- a) Zeit vor dem öffentlichen Dienst
- b) Dienst und Lehre in Galiläa
- c) Autorität des Messias und seiner Jünger
- d) Verwerfung des Messias, Geheimnisse des Reiches Gottes
- c') Autorität des Sohnes Gottes und der Gemeinde
- b') Dienst und Lehre in Jerusalem
- a') Zeit nach dem öffentlichen Dienst
Man könnte das als «Spielerei» bezeichnen und vielleicht ist es das auch, aber es zeigt doch sowohl die Harmonie als auch die Symmetrie, die das Evangelium nach Matthäus prägen, denn unabhängig von dieser «strikten» Einteilung ist der Inhalt so angeordnet, dass er sich am Mittelteil «spiegelt». Da wir wissen, dass Matthäus die Ereignisse nicht strikt chronologisch geschildert hat, kann diese Anordnung nur göttlich inspiriert sein.
Vers 55
Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? Heisst nicht seine Mutter Maria und seine Brüder Jakobus und Josef und Simon und Judas? Mt 13,55
Als der Herr Jesus einst vor einer grossen Volksmenge zu Seinen Jüngern gesprochen hatte (sog. Bergpredigt), da hatten sich die Menschen sehr über Seine Lehre erstaunt – denn Er hatte nicht wie ihre Schriftgelehrten, sondern wie Einer gelehrt, der Vollmacht hat (Mt 7,28.29). Auch in Seiner Vaterstadt Nazareth erstaunten sich die Menschen über Seine Weisheit und über Seine Wunderwerke, denn dass alles, was Er sagte und tat, völlig aussergewöhnlich gewesen ist, war nicht zu übersehen.
Aber hier nun war es kein positives Staunen wie noch im Anschluss an die Bergpredigt, sondern – passend zur «Spiegelstruktur» des Matthäus-Evangeliums – ein negatives Gefühl. Die Leute sahen nämlich einerseits diese unvergleichliche Vollmacht, erinnerten sich aber andererseits auch an die niedrige Herkunft des Herrn Jesus als Mensch. Er war der Sohn eines Zimmermanns, ein einfacher Handwerker. Man kannte Seine Mutter Maria und Seine (Halb-) Brüder Jakobus, Josef, Simon und Judas. Man wusste gewiss auch, dass selbst Seine Halbbrüder Ihm gegenüber kritisch eingestellt waren (vgl. Joh 7,5). Woher nun sollte dieser Jesus eine solche Weisheit und eine solche Kraft haben? Da musste doch etwas faul sein! So mochten die Leute dort in Nazareth wohl gedacht haben.
Vers 56
Und seine Schwestern, sind sie nicht alle bei uns? Woher hat er nun dies alles? Mt 13,56
Die Leute in Nazareth wussten, dass dieser Jesus, der nun mit grossen Worten und Zeichen auftrat, in einer ganz normalen Familie als der Sohn eines Zimmermannes mit Brüdern und Schwestern aufgewachsen war, die alle noch in Nazareth lebten und so «normal» waren, wie jemand nur sein kann. An dieser Familie war nichts Aussergewöhnliches! Wie sollte nun eines der Kinder von Josef und Maria plötzlich eine solche Wortgewalt und solche Wunderkräfte entwickelt haben? Das war für die Leute unerklärlich.
Was der Mensch nicht erklären kann, was aus seiner Sicht nicht «mit rechten Dingen» zugeht, das lehnt er grundsätzlich ab. Natürlich kann es ein Schutz sein, dem Unbekannten mit Vorsicht zu begegnen, aber in aller Regel übertreiben wir es diesbezüglich doch sehr. Einst im Paradies hat die Schlange den Samen des Zweifels in unsere Herzen gesät: «Sollte Gott wirklich gesagt haben, … ?» Dieser Zweifel prägt uns bis heute. Was nicht so ist, wie es unserer Meinung nach sein müsste, ist uns suspekt. Das ist nicht gut. Wir sollten aufgeschlossen sein und die Bereitschaft haben, auch Neues, Ungewohntes anzunehmen. Niemand von uns hat eine vollkommene Sicht auf die Dinge; jeder von uns kann jeden Tag dazu lernen.
Andererseits sollen wir natürlich auch nicht naiv sein. Jemand hat einmal treffend gesagt: «Wer offen für alles ist, kann nicht ganz dicht sein». Die Beröer sind uns da ein gutes Beispiel. Von ihnen heisst es in Apg 17,11, dass sie das Wort Gottes, das Paulus predigte, mit aller Bereitwilligkeit aufnahmen. Sie waren also bereit, ihre eigenen Ansichten (nötigenfalls sogar ganz grundlegend!) korrigieren zu lassen. Sie begegneten Paulus nicht mit Argwohn. Aber sie untersuchten auch täglich in den Schriften, ob es sich so verhielt. Das bedeutet, dass sie alles Gehörte anhand der Bibel prüften. So verwirklichten sie den Grundsatz von 1.Thess 5,21: «Prüft aber alles, das Gute haltet fest!» Wir sollten es ihnen gleichtun.
Vers 57
Und sie nahmen Anstoss an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet ist nicht ohne Ehre, ausser in seiner Vaterstadt und in seinem Haus. Mt 13,57
Die Menschen in Nazareth lehnten den Herrn Jesus im Allgemeinen ab. Das griechische Wort, das mit «Anstoss nehmen» übersetzt worden ist, ist ein mit «Skandal» verwandtes Wort. Es hat ursprünglich eine Stolperfalle bzw. einen Teil einer Stolperfalle bezeichnet und später dann eine übertragene Bedeutung erhalten. Man könnte sagen, ein Skandal sei etwas, worüber man stolpert, etwas, wodurch man zu Fall kommt. Für die Nazarener war der Herr Jesus also gewissermassen ein Stolperstein – aber nicht etwa, weil Er sie zu Fall bringen wollte oder weil Er in irgendeinem Punkt einen Anlass zum Sturz geboten hätte, sondern weil sie nicht akzeptieren wollten, dass jemand, den sie hatten aufwachsen sehen, so aussergewöhnliche Wunder tat und so unvergleichlich predigte. Sie kamen zu Fall, weil sie falsch lagen.
Man kann das (zugegebenermassen mehr schlecht als recht) mit der Sonne vergleichen. Wer der Sonne zu nahe kommt, verglüht ohne Pardon. Ist die Sonne also etwas Schlechtes, etwas Böses? Nein! Sie ist unglaublich wichtig für uns, aber nur aus jener Entfernung, die der HERR festgesetzt hat. Wir sind einfach nicht fähig, uns in ihrer unmittelbaren Nähe aufzuhalten. Wenn sich ein Mensch der Sonne zu sehr nähert und dann verglüht, dann hat dieser Mensch einen Fehler begangen, nicht die Sonne. Der Herr Jesus ist als Licht in diese Welt gekommen und Er hat einfach bezeugt, wie Gott ist. Das ist nichts Verkehrtes, sondern durch und durch gut gewesen. Aber die Menschen sind, weil sie verkehrt gewesen sind, weil sie böse gewesen sind, weil sie nicht ins Licht gestellt werden wollten, damit nicht klar gekommen. Sie sind sozusagen über ihre eigenen Füsse gestolpert. Der Herr Jesus hat nur den Anlass gebildet, sie zu Fall zu bringen, weil Er so unvergleichlich gut und vollkommen gewesen ist.
Aber welche Demut spricht aus Seinen Worten! Er sagte nicht etwa: «Dies aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Denn jeder, der Arges tut, hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht blossgestellt werden; wer aber die Wahrheit tut, kommt zu dem Licht, damit seine Werke offenbar werden, dass sie in Gott gewirkt sind» (Joh 3,19–21), sondern Er stellte sich in eine Reihe mit weiteren Propheten und sagte, dass jeder Prophet in seiner Heimatstadt und in seiner Familie am wenigsten Gewicht hat, so als ob Er einfach einer von vielen Propheten gewesen wäre. Wie herrlich zurückhaltend ist das!
Für uns schwingt da aber auch ein Trost mit. Wir müssen uns nicht grämen, wenn man uns da, wo man uns am besten kennt, am wenigsten ernst nimmt. Das scheint ein allgemeines Prinzip zu sein. Allerdings bedeutet das nicht, dass wir deshalb in unserem engsten Umfeld gar nicht beginnen sollten zu predigen! Nur müssen wir nicht enttäuscht sein, wenn der gewünschte Erfolg ausbleibt.
Vers 58
Und er tat dort nicht viele Wunderwerke wegen ihres Unglaubens. Mt 13,58
Der Unglaube, den die Nazarener dem Herrn Jesus entgegen brachten, hatte zur Folge, dass Er dort nicht viele Wunderwerke tat. Was Matthäus einfach nüchtern beschreibt, drückt Markus in fast schon schockierenden Worten aus: «Und er konnte dort kein Wunderwerk tun, ausser dass er wenigen Schwachen die Hände auflegte und sie heilte» (Mk 6,5). Hat der Unglaube der Menschen die Kraft des HERRN also behindert? War Er etwa nicht fähig, Wunderwerke zu tun, wenn die Kraft des menschlichen Glaubens fehlte? Natürlich nicht!
So paradox es zunächst klingen mag, gerade in solchen Selbstbeschränkungen zeigt sich die Allmacht Gottes. Der HERR vermag alles. Er hätte jederzeit jeden Menschen heilen können, ohne dass Er auch nur den kleinsten Beitrag eines Geschöpfs benötigt hätte. Bedenken wir: Er rief die Dinge ins Dasein – allein durch die Kraft Seines Wortes! Nun folgt vieles im Universum einer bestimmten Gesetzmässigkeit. Diese Gesetzmässigkeiten hat der HERR in die Schöpfung gelegt und auch wir sind diesen Gesetzmässigkeiten unterworfen. Uns ist ein gewisser Rahmen vorgegeben, in dem wir uns bewegen können, aber wir können diesen Rahmen nicht verlassen. Man könnte nun auf die Idee kommen, dass auch Gott solchen Gesetzmässigkeiten unterworfen sei. Aber das stimmt nicht. Die Gesetzmässigkeiten beschreiben im Prinzip nur, wie Er für gewöhnlich handelt. Er kann aber jederzeit auch anders handeln. Er kann die Drehung der Erde für einen ganzen Tag stoppen (Jos 10,13) oder sogar umkehren (Jes 38,8). Dass solche Abweichungen die Ausnahme bilden, ist eine gnädige Herablassung des HERRN, damit Sein Handeln für uns vorhersehbar ist.
Nun hat der HERR immer die Kraft und die Möglichkeit, Wunder zu tun. Der Herr Jesus ist aufgetreten, um das Wort Gottes zu predigen und die Predigt durch Wunder zu unterstreichen. Da gab es auch eine Art Gesetzmässigkeit, denn Er heilte ausnahmslos jeden, der zu Ihm kam, und Er predigte eigentlich nie, ohne zugleich auch Wunder zu tun. Aber da gab es keinen Zwang, keine Notwendigkeit, denn Er – und nur Er allein! – ist völlig frei, zu tun und zu lassen, was auch immer Er will. Die Allmacht Gottes schliesst notwendigerweise eine unbegrenzte Freiheit ein, sich so oder anders zu verhalten. Wir sind nicht allmächtig, was bedeutet, dass wir vieles nicht tun können, aber auch, dass wir vieles nicht lassen können. Gewisse Dinge können wir z.B. nicht vergessen, obwohl wir uns das so sehr wünschen. Aber Gott kann es! «Ihrer Sünden werde ich nie mehr gedenken» (Hebr 8,12). Wie geht das? Das ist nur möglich, weil der HERR allmächtig ist. Er kann Seine Allwissenheit gewissermassen beschränken und Dinge aus Seinem Wissen verbannen, wenn wir das so schreiben dürfen. Er kann Seine Macht zurücknehmen und dort keine Wunder tun, wo man Wunder erwarten würde.
Genau das ist damals in Nazareth geschehen. Der Herr Jesus hätte eigentlich predigen und Wunder wirken müssen; das war Sein Dienst. Aber Er war nicht gebunden, sondern völlig frei (als Mensch allerdings freiwillig dem Willen des Vaters unterworfen). Weil die Menschen Ihn derart ablehnten, handelte Er aber nicht wie gewöhnlich, sondern anders, indem Er keine Wunder tat. Diese Freiheit hat Er gehabt und genutzt. Wir können mit Ihm keine Spielchen treiben; wir können nicht denken, dass Er ja ohnehin so oder so handeln müsse, und dass wir uns deshalb leisten könnten, was wir wollten! Er ist unvergleichlich konsequent und kann tun oder eben auch lassen, was immer Er will.
Die Menschen in Nazareth hätten so eine gewaltige Chance gehabt, das Wort Gottes zu hören und die Kraft Gottes zu erleben! Durch ihre eigene Dummheit, man kann es kaum anders ausdrücken, haben sie sich selbst die Tür dazu verschlossen. Ihr Unglaube hat den Herrn Jesus gewissermassen daran gehindert, so zu handeln, wie man es erwartet hätte. Das ist sehr ernst! Das ist genauso ernst wie die Tatsache, dass der Herr Jesus das Gebiet der Gadarener auf deren Bitte hin verlassen hat, ohne dort weiter zu wirken (Mk 5,17.18). Wir können uns dem Wirken Gottes auch verschliessen, aber dann müssen wir ja nicht denken, dass Er uns hinterher rennen wird. Wer nicht will, der hat gehabt! Der HERR ist konsequent und wir täten gut daran, uns das mehr in Erinnerung zu rufen.