Bibelkommentare

Erklärungen zur Bibel

 

Matthäus 15

Vers 1

Dann kommen Pharisäer und Schriftgelehrte von Jerusalem zu Jesus und sagen: Mt 15,1

Wir haben gesehen, dass Israel seinen Messias Jesus definitiv verworfen hat (Kapitel 12 und 13). In Seiner unermesslichen Gnade hat der HERR dann aber (in Kapitel 14 beschrieben) im Sinne eines prophetischen Ausblicks gezeigt, dass eine Zeit kommen wird, in der Er sich Israel erneut zuwenden wird. Doch dieser Ausblick ist nun zu Ende und wir haben hier in Mt 15 mehrere kurze Episoden vor uns, die das vorläufige Ende der Beziehungen zwischen dem HERRN und Israel andeuten, nämlich eine Diskussion über den Willen Gottes, wobei sich zeigen wird, dass die Juden diesen nicht erkannt haben, dann die Heilung des Kindes einer Ausländerin verbunden mit einigen bemerkenswerten Aussagen des Herrn Jesus sowie schliesslich eine erneute übernatürliche Speisung, die in ihren Details aber im Unterschied zur Speisung der Fünftausend eher vom Segen spricht, der zu den Nationen fliessen wird. Wieder liegt also ein reichhaltiges Kapitel der Heiligen Schrift vor uns!

Vers 2

Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Ältesten? Denn sie waschen ihre Hände nicht, wenn sie Brot essen. Mt 15,2

Die Pharisäer und die Schriftgelehrten sind von Jerusalem zu Jesus gekommen – nicht, um von Ihm zu lernen, sondern um Ihm Vorwürfe zu machen! Sie meinten, sie könnten Ihn einteilen, aber in Tat und Wahrheit versperrten sie sich nur selbst den Weg zum Heil. Leider gab es schon zu allen Zeiten viele Leute, die sich dem HERRN nur mit Vorwürfen nahen. Bereits zur Zeit von Hiob (kurz nach der Sintflut, noch vor Abraham) brachte einer von Hiobs Freunden dieses Übel treffend auf den Punkt: «Wegen der Menge der Unterdrückung erhebt man Klagegeschrei. Man ruft um Hilfe wegen der Gewalttätigkeit der Grossen. Aber man sagt nicht: Wo ist Gott, mein Schöpfer, der Lobgesänge gibt in der Nacht?» (Hiob 35,9.10). Damit wollte er sagen: Wenn es den Menschen schlecht geht, rufen sie anklagend nach Gott. Sie machen Ihm Vorwürfe und verlangen gewissermassen, dass Er das Unrecht, das Er ihnen vermeintlich angetan hat, wieder behebe! Aber wo sind die Menschen, die Gott loben, ob es ihnen nun gut oder schlecht geht? Der HERR kann Lobgesänge in der Nacht schenken, d.h. uns mit Seinem Frieden und Seinem Trost erfüllen, selbst wenn es uns schlecht geht. Aber das tut Er natürlich nicht, wenn wir mit Vorwürfen zu Ihm kommen.

Wer selbst Kinder hat, meint, der Vorwurf der Pharisäer und der Schriftgelehrten sei hier allerdings berechtigt gewesen. Wie oft haben wir schon unseren Kindern gesagt, dass sie sich die Hände waschen sollen, bevor sie essen! Nur geht es hier nicht darum, ob die Jünger mit gewaschenen oder dreckigen Händen gegessen haben. Gemeint sind hier rituelle Waschungen gemäss den Überlieferungen der Rabbiner. Um das zu verstehen, muss man einen kurzen Blick in die Geschichte werfen:

Das Wort Gottes (damals: das Alte Testament) enthält ein Gesetz für Israel, das zwar so ziemlich alle Aspekte des täglichen Lebens regelt, aber nur sehr grundlegend. Es enthält gewissermassen einen groben Raster; viele Details bleiben offen. Rasch hat sich bei den Israeliten eine Tradition entwickelt, eigene Detailregelungen aufzustellen, die die Gebote Gottes ergänzen sollten. Dabei setzte sich die Auffassung durch, dass man die Gebote Gottes verschärfen muss. Die Schriftgelehrten wollten gewissermassen einen Zaun um die Gebote Gottes bauen, der auf jeden Fall verhindern sollte, dass man irgendwie ein Gebot Gottes hätte brechen können. Wenn es im Wort Gottes beispielsweise heisst, dass man das Böckchen nicht in der Milch der Mutter kochen soll, gingen die Schriftgelehrten zuletzt so weit, von den Israeliten zu fordern, zwei komplette Kücheneinrichtungen (eine für Milch-, eine für Fleischgerichte) anzuschaffen und in jedem Fall mehrere Stunden zwischen dem Verzehr von Milch- und Fleischgerichten zu warten etc. Diese Überlieferungen wurden jahrhundertelang nur mündlich weitergegeben, denn man wollte ja nicht den Eindruck erwecken, sie gehörten zum geschriebenen Wort Gottes. Nach der Zerstörung des zweiten Tempels machte sich aber die Angst breit, durch die Zerstreuung der Juden könnten die Überlieferungen verloren gehen. Deshalb entschied man sich, die Überlieferungen trotzdem niederzuschreiben. Die meisten Juden befanden sich damals in Babylon, weshalb die zentrale Schrift dort entstand. Sie ist bis heute als der babylonische Talmud bekannt (Talmud bedeutet Lehre). Zur Zeit, als der Herr Jesus als Mensch auf der Erde lebte, waren die Überlieferungen bereits weit ausgearbeitet, aber noch nicht niedergeschrieben.

Das Wort Gottes enthält verschiedene Anweisungen zu rituellen Waschungen, insbesondere in 3.Mose 15. Die Juden haben das in ihren Überlieferungen ausgebaut und unter anderem genaue Anweisungen entwickelt, wie man sich die (bereits gewaschenen, also nicht mehr dreckigen) Hände vor dem Essen rituell waschen muss. Die Jünger des Herrn Jesus haben das offenbar nicht getan. Damit haben sie die Überlieferungen der Ältesten übertreten, aber – das muss unbedingt betont werden! – nicht das Wort Gottes. Die Antwort des Herrn Jesus auf den Vorwurf der Pharisäer und Schriftgelehrten deckt deshalb auf, was Er von diesen Überlieferungen gehalten hat.

Vers 3

Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Warum übertretet auch ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen? Mt 15,3

Die Pharisäer und die Schriftgelehrten hatten gefragt: Warum übertreten die Jünger die Überlieferung der Ältesten? Der Herr Jesus antwortete mit einer Gegenfrage: Warum übertretet ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen? Eine entlarvende Entgegnung! Die Pharisäer und die Schriftgelehrten waren der Überzeugung, sie würden die Gebote Gottes ganz besonders gut schützen, wenn sie sie verschärfen und ergänzen würden. Sie dachten, sie könnten einen Zaun um die Gebote aufstellen, um ja sicher zu stellen, dass diese niemals gebrochen würden. Aber dieser Schuss ging nach hinten los!

Der grosse Trugschluss der Pharisäer und Schriftgelehrten war, dass sie meinten, etwas durch und durch Göttliches durch rein menschliche Hinzufügungen bewehren zu können. Ihr Irrtum war, dass sie nicht mit der unvergleichlichen Kraft des Wortes Gottes rechneten. Gottes Wort allein ist Geist und ist Leben. Gottes Wort allein ist die Nahrung, die wir benötigen. Gottes Wort allein hat Kraft. Wenn wir davon etwas wegnehmen, fehlt uns etwas. Wenn wir etwas hinzufügen, verdunkeln wir es. Das zeigt doch bereits die Geschichte vom Sündenfall: Gott hatte geboten, nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Adam und Eva hätten sich von ganzem Herzen an dieses Wort klammern sollen. Obwohl die Beiden über ausserordentliche geistige Fähigkeiten verfügt haben müssen (Adam konnte problemlos spontan jedem Tier einen Namen geben!), war es Eva nicht gelungen, sich diese einfachen Worte zu merken. Das kann nur mit einer geringen Achtung vor dem Wort Gottes erklärt werden. Als der Teufel sie mit einer Art Fangfrage in Versuchung führte, antwortete sie ihm nicht mit dem Wort Gottes, sondern mit einer Mischung aus dem, was Gott gesagt hatte, und etwas, das sie selbst hinzugefügt hatte. Sie sagte nämlich, sie dürften nicht von den Früchten essen, den Baum aber auch nicht einmal berühren. Eva tat also genau das, was die Pharisäer und Schriftgelehrten später getan haben: Sie richtete einen eigenen Zaun rund um das Gebot Gottes auf. Dadurch bewehrte sie das Wort Gottes nicht, sondern nahm ihm seine Kraft. Und dann fiel sie.

Die Pharisäer und die Schriftgelehrten hatten mit ihren eigenen Überlieferungen dem Wort Gottes die Kraft für die Israeliten geraubt, denn sie hatten den Blick auf das klare, reine Wort Gottes verdunkelt, indem sie eigene Worte zwischen die Israeliten und das Wort Gottes gepflanzt hatten. Ihr Anliegen war zwar grundsätzlich gut, aber ihre Vorgehensweise war völlig verkehrt. Wie die folgenden Beispiele des Herrn Jesus zeigen werden, hatten sie es mit ihren eigenen Ideen sogar geschafft, die Leute dazu zu bringen, in krasser Weise gegen das Wort Gottes zu handeln! Deshalb bedeutete das Halten ihrer Überlieferungen, gegen das Wort Gottes zu verstossen.

Vers 4

Denn Gott hat gesagt: »Ehre den Vater und die Mutter!«, und: »Wer Vater oder Mutter flucht, soll des Todes sterben.« Mt 15,4

Die Pharisäer und die Schriftgelehrten hatten sich darüber empört, dass die Jünger ihre (gewaschenen) Hände vor dem Essen nicht rituell gereinigt hatten. Der Herr Jesus antwortete mit einem Gegenbeispiel, das nicht eine solche Kleinigkeit, sondern ein wirklich grosses Übel betraf.

Der HERR hatte geboten, dass die Israeliten ihre Eltern – positiv formuliert – ehren respektive ihnen – negativ formuliert – keineswegs fluchen sollten. Dieses Gebot ist sehr allgemein formuliert. Es fordert nicht ganz spezifische Verhaltensweisen, sondern es zeigt die Stossrichtung der Gedanken Gottes an. Es ist nicht wie die Routenhinweise eines Navigationsgerätes, das uns auffordert, dreimal links und dann zweimal rechts abzubiegen, sondern wie ein Kompass, der die allgemeine Richtung anzeigt. Jeder Israelit war gehalten, sich selbst Gedanken darüber zu machen, wie er dieses Gebot im Alltag umsetzen sollte. In jeder konkreten Situation hätte er sich fragen müssen, ob er eher mit diesem oder aber mit jenem Verhalten seine Eltern ehre.

Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Menschen so etwas als zu anstrengend empfinden. Sie lassen sich lieber einige konkrete Vorschriften geben, an die sie sich dann sklavisch halten. Das ist nicht nur bei den Israeliten so, sondern zieht sich durch alle Kulturen und Zeiten. So wird heute noch Politik gemacht: Man verkauft den Menschen ein einfaches Weltbild, gibt ihnen eine überschaubare Anzahl von Regeln und fordert sie auf, diese Regeln zu beachten. Die meisten von ihnen werden das lieber tun, als sich selbst Gedanken zu machen, eine eigene Meinung zu bilden und echte Selbstverantwortung zu übernehmen.

Bei den Israeliten hat sich ein System etabliert, das diese vermeintlichen Vorteile geboten hat: Die Rabbiner, als Gelehrte, haben die Gebote erklärt und durch zahlreiche Detailvorschriften ergänzt. Sie haben zum Beispiel gelehrt, dass zum Ehren der Eltern auch gehöre, diese im Alter finanziell zu unterstützen. Dieser Gedanke ist richtig gewesen, wie die weiteren Ausführungen des Herrn Jesus zeigen werden, aber das Problem war, dass sie den Israeliten die Abhängigkeit von Gott weggenommen und durch eine Abhängigkeit von einem menschlichen Regelwerk ersetzt haben. Noch schlimmer war, dass dieses menschliche Regelwerk einige wirklich grobe Fehler enthalten hat, wie wir sogleich sehen werden.

Vers 5

Ihr aber sagt: Wer zum Vater oder zur Mutter spricht: Eine Opfergabe sei das, was du von mir an Nutzen haben würdest, Mt 15,5

Wie schlimm, wenn der HERR sagen muss: «Gott sagt …, ihr aber sagt»! Denn wer etwas anderes sagt als Gott, liegt immer falsch. Hier haben wir sogar eine der ganz wenigen Regeln ohne jede Ausnahme vor uns.

Der HERR hatte geboten, dass man seine Eltern ehre, was, wie wir hier erfahren, auch bedeutete, finanziell für sie zu sorgen. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten haben dieses Gebot aber durch ihre Ausführungen durchbrochen. Sie haben nämlich gelehrt, dass man das, was eigentlich den Eltern im Alter zustehen sollte, auch einem anderen Zweck widmen könne, nämlich als Opfergabe für den Tempel. Das war ein wirklich geschickter Schachzug! Den einfachen Leuten konnte man weismachen, dass es besser sei, das Geld Gott als anderen Menschen zu geben, denn das scheint uns allen irgendwie logisch. Dadurch konnten sich die vermeintlichen Arbeiter am Wort Gottes die eigenen Taschen füllen. Kennen wir das nicht von den Kirchen? Die römisch-katholische Kirche hat dieses System auf die Spitze getrieben, indem sie die Lehre vom Fegefeuer aus dem Nichts erfunden und dann behauptet hat, mit Geld, das man der Kirche gebe, könne man seine Zeit dort im Fegefeuer verkürzen! Ja, das ging so weit, dass beispielsweise Johann Tetzel (er war bei weitem nicht der Einzige!), regelmässig den flotten Spruch verwendete: «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel (oder: aus dem Feuer) springt!» Damit wurde den Leuten vorgegaukelt, sie könnten mit Zahlungen an die Kirche sogar ihre toten Verwandten vorzeitig aus dem Fegefeuer holen. Als ob der HERR bestechlich wäre! Als ob Er unser Geld brauchen würde, das ja ohnehin Sein ist und uns von Ihm nur gnädigerweise zur Verfügung gestellt wird!

In Tat und Wahrheit ehren wir den HERRN nicht dann am meisten, wenn wir Seine (wahren oder vermeintlichen) Diener «bestechen», sondern dann, wenn wir Seinen Willen tun. Wenn Er sagt, dass wir unsere Eltern finanziell unterstützen sollen, dann können wir das Geld nicht besser als für unsere Eltern einsetzen. Genau dann tun wir nämlich, was Gott gesagt hat, und genau dann üben wir wahren Gottesdienst aus.

Vers 6

der braucht seinen Vater oder seine Mutter nicht zu ehren; und ihr habt so das Wort Gottes ungültig gemacht um eurer Überlieferung willen. Mt 15,6

Wer also jenes Geld, das er eigentlich seinen Eltern schuldete, um diese im Alter zu unterstützenm, als Gabe dem Tempel weihte, der war dadurch von seiner Pflicht, die Eltern finanziell zu unterstützen, befreit. Dadurch versagte ein solcher seinen Eltern aber die Ehre, die er ihnen nach dem Willen Gottes schuldete. So führte die Überlieferung der Schriftgelehrten also dazu, das Wort Gottes ungültig zu machen. Die Leute mochten sich ganz besonders fromm vorkommen und grosse Ehre vor ihren Mitmenschen haben, weil sie ja ach so freigiebig gegen den Tempel waren, aber in Wahrheit traten sie dadurch das Wort Gottes mit Füssen! Zudem war das Geld, das sie so dem Tempel spendeten, ja nicht einmal ihr eigenes Geld, sondern im Prinzip das Geld ihrer Eltern, weil sie dieses ihren Eltern schuldeten. Wie heuchlerisch ist es, wenn ein Mensch etwas nimmt, das ihm gar nicht wirklich gehört, um sich damit fromm darzustellen? Aber ist das nicht genau das, was man so oft in der Welt sieht? Man möchte möglichst fromm erscheinen, es sich aber möglichst wenig kosten lassen. Menschen kann man so hinters Licht führen, Gott nicht.

Was ist wohl besser: Wenn die Menschen Dich als fromm preisen und ehren oder wenn Gott der HERR Dir sagt, dass Du das Richtige getan hast? Mit grossen, möglichst öffentlichen Spenden an die Kirche können wir uns vor Menschen als fromm darstellen; wenn wir unser Geld, unsere Zeit und unsere Energie dagegen einsetzen, um unsere Eltern im Alter zu unterstützen und zu pflegen, wird das wohl nur selten für Aufsehen bei den Menschen sorgen. Aber wir dürfen wissen, dass der HERR sich freut, wenn wir das tun, was Er geboten hat, mag es nun vor Menschen fromm scheinen oder nicht.

Vers 7

Heuchler! Treffend hat Jesaja über euch geweissagt, indem er spricht: Mt 15,7

Ein Heuchler ist eine Person, die sich nach aussen besser darstellt, als sie wirklich ist. Wir neigen alle mehr oder weniger stark zu Heuchelei, denn uns allen ist wichtig, wie andere Menschen von uns denken. So menschlich dieses Verhalten auch ist, so falsch ist es. In einem Psalm heisst es: «Siehe, du hast Gefallen an Wahrheit im Innern» (Ps 51,8). Das bedeutet, dass der HERR an Aufrichtigkeit Gefallen findet. Er will, dass wir uns nach aussen so geben, wie wir wirklich sind. Das zeigt sich ja auch so deutlich in den Evangelien: Immer wieder kamen Menschen zum Herrn Jesus, mit denen wir ganz gewiss nichts hätten zu tun haben wollen, Zöllner (Volksverräter und Betrüger), Huren, Samariter, die von den Juden zutiefst verachtet wurden, Frauen, von denen die ganze Stadt wusste, dass sie schon zahlreiche Männer im Bett gehabt hatten, Aussätzige, also durch Krankheit schwer entstellte Menschen, die eigentlich nicht einmal in die Nähe von anderen Menschen hätten kommen dürfen, und – in einem Gleichnis – ein Mann, der das Geld seines Vaters für Huren und Wein verschwendet und zuletzt als Schweinehirte gearbeitet hatte. All diese Leute kamen so, wie sie waren, zum Herrn Jesus – und sie fanden alle ein offenes Ohr bei Ihm. Aber zu einer Menschengruppe sprach Er durchgehend hart; eine Menschengruppe tadelte Er unentwegt. Diese Menschen waren die Superfrommen, die Religiösen, die Pharisäer und die Schriftgelehrten. Wieso? Weil diese Menschen Heuchler waren! Das allein zeigt uns schon, dass Gott Heuchelei mehr hasst als alles andere.

Und so muss es auch sein, denn wir alle sind von Natur aus Sünder, verdorben und verloren. Die einen sind es mehr, die anderen weniger, aber wir alle kommen weit zu kurz bei Gott. Niemand von uns hat etwas, das Er Ihm vorweisen und für das Er von Ihm Lob erhalten könnte. Wer das einsieht, der hat die Chance, gerettet zu werden, denn wer nicht einsieht, dass er verloren ist, der wird sich auch nicht suchen und auch nicht retten lassen. Heuchler sind nun genau solche Menschen, die meinen, sie hätten etwas vorzuweisen. Sie überspielen ihren schlechten Zustand und verweigern sich dadurch der Rettung, die nur von Gott kommen kann. Deshalb müssen sie ganz besonders stark wach gerüttelt werden. So verstehen wir auch, dass der Herr Jesus nicht etwa einfach etwas gegen die Pharisäer und die Schriftgelehrten hatte, sondern dass Er mit Seinen deutlichen Worten vielmehr versuchte, sie wachzurütteln und ihnen klar zu machen, wie sehr auch sie die Hilfe Gottes benötigten.

Leider haben wir es in der Christenheit geschafft, die Heuchelei wiederum zu perfektionieren. Wie viele Menschen machen in der Kirche, beim Gottesdienst allen anderen etwas vor! Wie sehr sind wir auf den Schein bedacht, wie gut wollen wir da stehen! Aber die Kirche ist kein Ort für Leute mit Heiligenschein, sondern ein Ort für Kranke, Kaputte, Gebrochene, Arme, Bettler, Blinde, Lahme und Krüppel (im übertragenen Sinn), ein Ort für solche, die sich eingestanden haben, dass sie in ihrem Leben komplett gescheitert sind, für solche, die wissen, dass sie die Vergebung Gottes brauchen. Nur ein Beispiel: Den Korinthern musste der Apostel Paulus einmal schreiben: «Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Weichlinge noch mit Männern Schlafende noch Diebe noch Habsüchtige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erben. Und das sind manche von euch gewesen; aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes» (1.Kor 6,9–11). Nicht wenige von den Korinthern waren so schlimme Leute gewesen, wie der Apostel sie in Vers 9 beschreibt! Nicht wenige! Aber sie waren abgewaschen, geheiligt und gerechtfertigt worden durch den Herrn Jesus Christus. Das ist die gute Botschaft der Bibel!

Vers 8

»Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir. Mt 15,8

Schon durch den Propheten Jesaja, der etwa 700 Jahre vor Christus gelebt hatte, hatte der HERR Israel einen schweren Vorwurf machen müssen, den der Herr Jesus bei der vor uns liegenden Gelegenheit nun erneuert hat: Das Volk Israel ehrte den HERRN nur dem Schein nach. Sie sprachen gut von Ihm und sie sagten, dass sie Seinen Willen tun wollten, und so ehrten sie Ihn mit ihren Lippen. Aber das Gesagte stimmte nicht mit dem Gedachten und Gefühlten überein. Woher können wir das wissen? Ganz einfach: Die Taten zeigten es! Bei den Juden stimmte das Verhalten nicht mit den Worten überein. Sie redeten gut von Gott, aber sie taten alles Mögliche, um Sein Handeln zu torpedieren. Ja, sie haben Ihn so sehr gehasst, dass sie letztlich Seinen geliebten Sohn getötet haben! Ihr Herz war weit von Ihm entfernt.

Es ist gut und schön, wenn wir mit unseren Lippen Gott loben und preisen. Das sind Opfer, die Ihm wohlgefällig sind. «Durch ihn nun lasst uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen! Das ist: Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen» (Hebr 13,15). Aber unsere Lippen sollten nicht weiter gehen als unsere Herzen; wir sollten weder Gott noch den Menschen etwas vormachen, das in unseren Herzen gar nicht zu finden ist. «Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit!» (1.Joh 3,18). Liebe, die mit Worten bzw. mit der Zunge zum Ausdruck gebracht wird, ist gut – aber nur, wenn unsere Worte der Wahrheit entspricht und nur wenn unsere Taten das bezeugen können. Bedenken wir, dass Heuchelei in den Augen Gottes etwas vom Hässlichsten ist, das es gibt!

Vers 9

Vergeblich aber verehren sie mich, indem sie als Lehren Menschengebote lehren.« Mt 15,9

Hier endet das Zitat aus dem Buch Jesaja. Das erste Wort ist schrecklich: «Vergeblich»! O, wie viele Menschen meinen, sie würden Gott ehren, indem sie dieses oder jenes tun, aber: «Vergeblich»! Da ist viel Aktivität, aber kein Erfolg, viel Anstrengung, aber kein Lohn – «vergeblich»! Wieso? Weil die vermeintliche Verehrung nicht gemäss dem Wort Gottes (der Bibel), sondern nach eigenen Vorstellungen oder nach Lehren von Menschen (der Kirche) geschieht. Das ist das ganze Übel!

Durch die ganze Bibel hindurch macht der HERR immer und immer wieder klar, dass Er nicht auf der Suche nach irgendwelchen grossen Taten oder dergleichen ist, sondern nach Menschen, die einfach nur das tun wollen, was Er sagt. Doch das gefällt den Menschen nicht. Sie wollen selbst gross sein. Sie bauen riesige Kirchgebäude, obwohl der HERR das niemals geboten hat. Sie verehren die Mutter Jesu, obwohl der HERR das niemals geboten hat. Sie veranstalten Prozessionen, obwohl der HERR das niemals geboten hat. Sie tun so Vieles, das der HERR niemals geboten hat. Aber das, was Er geboten hat, das tun sie nicht. Wie sollte Gott daran Gefallen finden?

Wenn ich meinen Sohn bitte, den Rasen zu mähen, während ich weg bin, dann wünsche ich doch nichts anderes, als dass der Rasen gemäht ist, wenn ich nach Hause komme. Vielleicht hat mein Sohn aber gar keine Lust, den Rasen zu mähen. Stattdessen backt er mir einen Kuchen. Soll ich ihn loben, wenn ich nach Hause komme und feststellen muss, dass er meinen Auftrag nicht umgesetzt, stattdessen aber etwas getan hat, das ich gar nicht wollte? Wohl kaum! Aber Gott soll sich freuen, wenn wir Seinen Willen ignorieren und stattdessen irgendetwas anderes tun, das gut gemeint ist?

Vers 10

Und er rief die Volksmenge herbei und sprach zu ihnen: Hört und versteht! Mt 15,10

Was als eine Diskussion zwischen den Pharisäern und dem Herrn Jesus begonnen hatte, wurde nun zum Anlass für eine Belehrung der Volksmenge. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten hatten gerade anschaulich bewiesen, wie falsch sie bezüglich des Willens Gottes lagen, und der Herr Jesus wollte nun den Volksmengen erklären, was wirklich der Wille Gottes ist. Dazu rief Er die Volksmenge herbei. Er forderte die Leute auf, zuzuhören und zu verstehen.

Beachtenswert ist der Nachdruck, mit der der Herr Jesus die Menschen aufforderte, gut zuzuhören. Er sprach nicht nur: «Hört!», sondern: «Hört und versteht!». Hören und verstehen sind zwei verschiedene Dinge. Man kann jemandem zuhören, ohne sich wirklich für das Gesagte zu interessieren. Dann wird man das Gehörte rasch wieder vergessen. Das Hören bleibt ohne Wirkung. Man kann aber auch interessiert zuhören, mit dem Wunsch, zu verstehen. Dabei nimmt man eine deutlich aktivere Haltung ein. Man wird das Gehörte nicht nur quasi kosten oder herunterschlucken, sondern wirklich verdauen, d.h. das Gehörte wird im Innern bewegt und verarbeitet. Es gibt eine einfache Technik, die mehr oder weniger jeder Schüler anwendet, wenn er etwas verstehen und verinnerlichen will: Das Erstellen einer Zusammenfassung. Man hört zu (oder liest) und versucht anschliessend, in eigenen Worten die wesentlichsten Punkte zu wiederholen. Wer das versucht, hört viel aufmerksamer zu, als wer einfach auch dabei ist und ein bisschen mithört, was gesprochen wird.

Der HERR will, dass wir Sein Wort aktiv, aufmerksam und mit dem Wunsch lesen, nicht nur zu hören, sondern auch zu verstehen. Das fordert uns! Das kostet uns Energie. Aber sogar die Welt weiss, dass von nichts nichts kommt. Was allgemein für das ganze Wort Gottes gilt, gilt für bestimmte Stellen ganz besonders. Hier nun haben wir einen Vers vor uns, der unsere Aufmerksamkeit wecken will in Bezug auf das, was folgt. Wir verstehen also, dass nun besonders wichtige, besonders grundlegende Erklärungen folgen werden.

Vers 11

Nicht was in den Mund hineingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund herausgeht, das verunreinigt den Menschen. Mt 15,11

Die Pharisäer und die Schriftgelehrten waren – wie wir alle auch! – darauf bedacht, sich ja nicht durch Äusserlichkeiten zu «verunreinigen». Ihnen war es, wie uns allen auch, besonders wichtig, sich nach aussen von ihrer besten Seite zu zeigen. Wie viele Menschen verschwenden ihre ganze Energie darauf, eine möglichst gute Fassade aufrecht zu erhalten! Sie gehen in die Kirche, sie sind nett, sie spielen die glückliche Familie, ihr Garten ist immer perfekt gepflegt, ihr Auto immer frisch geputzt, alles ist tadellos, alles glänzt. Aber hinter der Kulisse tun sich Abgründe auf! Diese Menschen, die von allen bewundert werden, führen vielleicht eine katastrophale Ehe, in der man sich Tag für Tag anschweigt, sie sind vielleicht süchtig nach Pornographie, betrügen vielleicht sogar ihre Ehefrau, nehmen Drogen, sind alkoholabhängig, jähzornig oder von bösen Gedanken und Trieben geknechtet. Den anderen Menschen können sie etwas vormachen, aber Gott sieht nicht auf Äusserlichkeiten, sondern direkt in das Herz jedes Menschen. Ihm können sie nichts vormachen!

Gott richtet Menschen nach dem, was in ihren Herzen ist. Wir werden noch in einem der folgenden Verse sehen, dass sich das, was sich im Herzen verbirgt, früher oder später äussern wird. Es wird irgendwann seinen Weg aus dem Mund des Menschen heraus finden, zeigen, was im Herzen des Menschen ist und den Menschen verunreinigen, weil es seine innere Unreinheit «verraten» wird. Was aber von aussen an den Menschen herankommt, das verunreinigt ihn nicht. Darin liegt gerade für uns Gläubigen ein grosser Trost!

Doch hat Gott nicht im Gesetz für Israel zahlreiche äusserliche Dinge genannt, durch die ein Mensch sich verunreinigte? Die Berührung mit einer Leiche hatte bspw. zur Folge, dass ein Mensch unrein wurde. Dabei ging es allerdings um eine rituelle Unreinheit, von der sich ein Mensch rasch wieder befreien konnte. Solche Dinge hatten nicht zur Folge, dass ein Mensch bleibend unrein wurde. Hinter diesen Geboten stand eine geistliche Belehrung, eine tiefere Botschaft. Das ist ähnlich wie z.B. beim Schwein. Das Schwein gilt gemäss dem Gesetz für Israel als ein unreines Tier. Aber der HERR hat gewiss kein Tier erschaffen, das in sich unrein oder gar schlecht wäre! Allerdings hat Er dem Schwein Verhaltensweisen gegeben, die nach unserem Empfinden eklig sind, wie etwa das Wälzen im Schlamm. Gerade dadurch ist uns das Schwein aber so nützlich, denn mit seinem Verhalten kann der HERR uns geistlich belehren. Wenn Er das Schwein als unrein erklärt, will Er uns sagen, dass es verkehrt ist, sich im Dreck zu wälzen.

Wenn ich nun bspw. auf einem Plakat oder im Internet ein anzügliches, verführerisches Bild einer Frau sehe und darauf anspreche, d.h. wenn meine Begierde dadurch geweckt wird, muss ich mich nicht grämen, denn das verunreinigt mich noch nicht. Begierde ist nicht Sünde! Aber die Begierde kann die Sünde gebären, nämlich genau dann, wenn ich ihr nachgebe. Wenn ich also, nachdem ich so ein Bild gesehen habe, im Internet nach weiteren ähnlichen Bildern suche, mich in Tagträume und Phantasien stürze oder noch schlimmer, kurz: wenn ich beginne, mich im Dreck zu wälzen, dann verunreinige ich mich. Wieso? Weil ich mich doch durch etwas, das von aussen an mich herangekommen ist, verunreinigt worden wäre? Nein! Weil ich mit meinem Verhalten zeige, dass mein Herz überaus empfänglich für solche Dinge, also schon längst unrein ist.

Vers 12

Dann traten die Jünger hinzu und sprachen zu ihm: Weisst du, dass die Pharisäer Anstoss genommen haben, als sie das Wort hörten? Mt 15,12

Die Pharisäer stolperten über das Wort des Herrn Jesus, weil es ihren eigenen Ansichten völlig entgegengesetzt war. Sie hatten die Pflege des äusserlichen Scheins perfektioniert und sie bildeten sich sehr viel auf ihr äusserlich perfektes Auftreten ein. Nun sollte das alles belanglos sein? Nun sollten sie sich mit ihren eigenen Herzen befassen, was sie noch nie wirklich getan hatten? Wer war Dieser, der plötzlich alles in Frage stellte?! Was bildete Er sich ein?!

Es ist immer leichter, eine Ansicht zu verwerfen, als sein eigenes Weltbild in Frage zu stellen. Für einen Menschen ist es schwer zu akzeptieren, dass alles ganz anders sein könnte, als er immer gedacht hat. Ja, so etwas kann schlimmstenfalls sogar zu einer eigentlichen Identitätskrise führen! Der natürliche Impuls besteht deshalb darin, das, was die eigenen Überzeugungen ins Wanken bringen könnte, sofort und entschieden zu verwerfen. Das tun die meisten von uns jeden Tag mehrfach, meist ohne es zu merken. Es braucht sehr viel Demut, echte Demut, um Gedanken zuzulassen, die das eigene Weltbild erschüttern könnten. Für uns alle wäre es heilsam, wenn wir mehr von dieser Demut hätten, wenn wir mehr bereit wären, Gedanken aufrichtig zu prüfen, die nicht in unser Weltbild passen.

Bei den Pharisäern war das nicht mehr möglich. Sie hatten den Herrn Jesus bereits definitiv verworfen und sie waren deshalb nicht länger bereit, Ihm richtig zuzuhören. Für sie war Er ein Scharlatan, getrieben von der Macht des Beelzebul. Die Jünger waren über ihre Reaktion irritiert. Sie fühlten, dass der Herr Jesus mit Seiner konsequenten Haltung und Predigt immer mehr die Führerschaft Israels gegen Sich aufbrachte. Sie befanden sich nun in einem Zwiespalt, denn einerseits liebten sie ihren Herrn, andererseits waren sie aber auch Israeliten, fest verwurzelt in der israelitischen Gesellschaft; sie konnten das nicht ignorieren und sich auch nicht einfach so davon lösen. Wahrscheinlich zielte ihre Frage deshalb darauf ab, den Herrn Jesus anzuhalten, sich etwas zu mässigen, nicht gleich so entschieden auf Konfrontationskurs zu gehen. Konnte Seine Lehre nicht mit den typischen israelitischen Überzeugungen jener Zeit vereinbart werden? Gab es keinen versöhnlicheren Weg? Das waren wohl so in etwa die Fragen, die die Jünger bewegt haben.

Vers 13

Er aber antwortete und sprach: Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. Mt 15,13

Die Jünger waren besorgt über die Meinung anderer Menschen – wie wir es auch so oft sind. Aber der Herr Jesus hatte einen anderen Blickwinkel. Für Ihn zählte allein die Sicht Gottes. Er wusste genau, dass Menschen, die kein neues Leben aus Gott erhalten haben, immer irgendeinen Grund finden, um sich an Gott, am Herrn Jesus oder an den Seinen zu stören. Das liegt in der Natur des Menschen, denn seit dem Sündenfall erhebt er die geballte Faust gegen Gott. Das Wesen der Sünde liegt gerade in dieser Rebellion, in der Verwerfung jeglicher Autorität Gottes in Bezug auf das eigene Leben. Aber gerade diese Autorität ist es, was Gott zusteht. Deshalb erregt Sein Wort auch so oft Anstoss. Dem Herrn Jesus war das natürlich völlig bewusst. Deshalb war Ihm auch klar, dass sich die Pharisäer und die Schriftgelehrten sogar dann an Ihm gestört hätten, wenn Er gar nichts gesagt hätte.

Der Herr Jesus hat die Seinen in Seiner Antwort Pflanzen genannt, die vom Vater gepflanzt worden sind. Damit wollte Er zum Ausdruck bringen, dass das neue Leben aus Gott das Entscheidende ist. Wenn jemand echt zum Glauben kommt, dann ist er gemäss der Bibel von Gott gezeugt worden, dann hat er also neues Leben von Gott erhalten. Es gibt aber auch Menschen, die nur so tun, als wäre ihnen das widerfahren. Sie machen anderen oder auch sich selbst etwas vor. Sie sehen ähnlich aus, aber sie sind nicht vom Vater gepflanzt worden, also nicht echt. Das erinnert uns an die Gleichnisse in Mt 13, wo dieses Thema ausgiebig behandelt wird.

Vers 14

Lasst sie! Sie sind blinde Leiter der Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, so werden beide in eine Grube fallen. Mt 15,14

Welch ein erschreckendes und doch so treffendes Bild, das der Herr Jesus hier von den Pharisäern und Schriftgelehrten malt! Er bezeichnet sie als blinde Leiter von Blinden, die letztlich allesamt zusammen in die Grube fallen werden. Das Volk Israel ist ein Volk der Blinden gewesen. Zwar hatte der HERR Israel besonders Seine Aussprüche (das Alte Testament) anvertraut, aber sie hatten Sein Wort verworfen. Sie, die besonders gut hätten sehen müssen, verstanden letztlich wohl am wenigsten von allen Völkern. Denn diejenigen, die ins Licht gestellt werden und sich vom Licht abwenden, sind schlechter als jene, die nie zum Licht gekommen sind.

Ein Blinder benötigt einen Leiter, jemanden, der ihn auf seinem Weg führt. Dieser Leiter sollte natürlich gut sehen können, sonst wäre er ja denkbar ungeeignet für diese Aufgabe. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten meinten, sie seien solche geeigneten Leiter. Sie gaben vor, das Wort Gottes besonders gut zu kennen. Einmal musste der Herr Jesus ihnen sagen: «Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde. Nun aber sagt ihr: Wir sehen. Daher bleibt eure Sünde» (Joh 9,41). Damit wollte Er ausdrücken, dass sie eine Chance gehabt hätten, ins Licht geführt zu werden und wirklich zu sehen, wenn sie zugegeben hätten, dass sie blind seien; weil sie aber vorgaben zu sehen, hatten sie sich selbst die Tür zum Heil verschlossen.

Die Pharisäer und die Schriftgelehrten waren also genauso blind wie der Rest des Volkes. Und doch massten sie sich an, das Volk zu leiten. Sie waren Blinde, die andere Blinde an der Hand nahmen und mit sich führten. Das konnte nicht gut gehen! Zwei Blinde, die Hand in Hand gehen, werden irgendwann in eine Grube fallen.

Auch heute gibt es Leute, die vorgeben, sie könnten uns auf dem Weg Gottes führen. Dabei denken wir nicht nur an den Pontifex Maximus, sondern auch an die vielen anderen Pontifeces minores, die sich als Hirten, Leiter und Wegweiser ausgeben. Einige sind es wirklich, weil sie von Gott dazu berufen sind, andere haben sich selbst berufen. Wir erkennen den Unterschied daran, ob sie uns näher zum Herrn Jesus führen, ob sie uns Seine herrliche Person gross machen, oder aber, ob sie sich selbst ins Rampenlicht stellen respektive uns tendenziell eher vom Herrn Jesus weg führen.

Vers 15

Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Deute uns dieses Gleichnis! Mt 15,15

Für Petrus ging das alles offenbar ein wenig zu schnell; er konnte den Ausführungen des Herrn Jesus nicht folgen. Vielleicht ging es den anderen Jüngern ähnlich, aber wie so oft war es Petrus, der ganz spontan das Wort ergriff und offen nachfragte. Wenn wir all die Begebenheiten studieren, in denen Petrus der Schnellste beim Sprechen gewesen ist, stellen wir fest, dass er manchmal spontan sehr gute Dinge, manchmal aber – ebenso spontan – ziemlichen Mist von sich gegeben hat. Aber gerade diese Offenheit und diese Spontaneität machen Petrus so sympathisch!

Das Christenleben erscheint gerade denen, die es nicht wirklich kennen, als etwas Strenges und Starres. Viele Leute können sich nicht vorstellen, dass in einem Gottesdienst auch einmal herzlich gelacht werden kann, dass selbst gut bekannte Prediger einmal in ein Fettnäpfchen treten, dass wahre Gläubige sich nicht nur über positive Erfahrungen, sondern auch über ihre Schwächen und Probleme austauschen, diese miteinander teilen und versuchen, einander zu helfen. Aber all das muss unbedingt Platz haben im Christenleben! Viele Menschen denken auch, dass sie nur mit wohlformulierten, ausgeklügelten Gebeten vor Gott treten dürfen. Sie würden es nie für möglich halten, dass man in der Not auch einmal nur: «HERR, hilf!» schreien oder in einem Moment höchsten Glücks nur: «Oh, HERR!» seufzen kann. Sie fänden es verkehrt, wenn jemand zugeben würde, dass er Gott auch schon einmal Vorwürfe gemacht habe. Sie wären schockiert, wenn man ihnen sagen würde, dass Petrus dem Herrn Jesus einmal ganz entschieden gesagt hat, Er mache einen Fehler. Aber Gott hasst Heuchelei! Er liebt Wahrheit im Innern! Wir können Ihm sowieso nichts vormachen. Deshalb will Er, dass wir Ihm gegenüber ganz bewusst völlig transparent sind.

Natürlich ist es nicht immer richtig, einfach alles von sich zu sprudeln, was einem gerade so durch den Kopf geht. Menschen, die wie Petrus allgemein eher vorwitzig sind, müssen durchaus lernen, auch einmal den Mund zu halten. Aber zurückhaltendere Menschen sollen sich ruhig auch einmal trauen, dem HERRN oder ihren Nächsten ganz spontan zu sagen, was ihnen gerade so durch den Kopf geht oder das Herz bewegt. Das öffnet nämlich die Tür für einen echten Austausch, von dem alle profitieren.

Vers 16

Er aber sprach: Seid auch ihr noch unverständig? Mt 15,16

Auf seine Frage hin wurde Petrus zunächst vom Herrn Jesus (sanft) getadelt. Nun könnte jemand bezugnehmend auf die Ausführungen zu Vers 15 (oben) einwenden, es sei eben doch klüger, lieber keinen allzu offenen, spontanten Austausch zu suchen, wenn die Möglichkeit besteht, dafür getadelt zu werden. Tatsächlich ist Tadel unangenehm. Wir tendieren alle dazu, ihm aus dem Weg zu gehen, und ein geeignetes Mittel dazu ist, einfach so wenig wie möglich zu sagen.

Aber im Wort Gottes heisst es unter anderem: «Ein Weg zum Leben sind Ermahnungen der Zucht» (Spr 6,23); «wer Zucht liebt, liebt Erkenntnis; und wer Ermahnung hasst, ist dumm» (Spr 12,1); «treu gemeint sind die Schläge dessen, der liebt, aber überreichlich die Küsse des Hassers» (Spr 27,6). Wer nur darauf aus ist, jede Ermahnung und jeden Tadel zu vermeiden, verbaut sich viele Chancen dafür, Neues zu lernen, falsche Verhaltensmuster oder Ansichten zu korrigieren etc. Manchmal ist eben Tadel oder Ermahnung genau das, was wir benötigen! Wir dürfen darauf vertrauen, dass der HERR uns immer das gibt, was gut für uns ist, sei es Ermutigung, Ermahnung oder Unterweisung. Wenn wir in einer Sache Ihn offen um Rat fragen und Er uns dann ermahnen muss, ist uns das vielleicht im Moment zuwider, aber es wird nicht lange dauern, dann werden wir Ihm für die notwendige Korrektur danken! «Alle Züchtigung scheint uns zwar für die Gegenwart nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; nachher aber gibt sie denen, die durch sie geübt sind, die friedvolle Frucht der Gerechtigkeit» (Hebr 12,11).

Vers 17

Begreift ihr nicht, dass alles, was in den Mund hineingeht, in den Bauch geht und in den Abort ausgeworfen wird? Mt 15,17

Hatte sich Petrus mit seiner Offenheit einen sanften Tadel des Herrn Jesus eingeholt, bekam er aber doch auch die von ihm gewünschte Erklärung. Der Herr Jesus hatte gesagt, dass nicht das, was in den Mund hineingeht, den Menschen verunreinigt, sondern das, was aus dem Mund herauskommt. Was hatte das zu bedeuten?

In den Mund hinein geht die Nahrung. Diese landet im Verdauungstrakt, wird verwertet und dann wieder ausgeschieden. Mit diesem rein «biologisch-mechanischen» Blick auf den Stoffwechsel wollte der Herr Jesus wohl zeigen, dass das Essen an und für sich keine geistliche Komponente hat. Essen und Trinken gehört zu unserem Alltag. Wir nehmen etwas in uns auf und wir scheiden etwas davon wieder aus. Das kann uns, geistlich gesehen, nicht wirklich beschmutzen.

Natürlich sahen die Juden das anders, da sie in ihrem Gesetz ja zahlreiche Speisevorschriften hatten. Doch diese Speisevorschriften bedeuteten eben nicht, dass etwas, das Gott geschaffen hat, in sich selbst unrein wäre. Vielmehr wollten sie eine geistliche Belehrung vermitteln. Die Bezeichnung des Schweins als unreines Tier lässt uns bspw. daran denken, dass es in den Augen Gottes falsch ist, wenn jemand sich gerne im Dreck (in der Sünde) wälzt. Wer unter Gesetz war, musste diese Speisevorschriften natürlich beachten, aber wir Christen sind nicht unter dem Gesetz für Israel; für uns bleibt allein die geistliche Übertragung massgebend.

Der Apostel Paulus schrieb später unter der Leitung des Heiligen Geistes: «Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist» (Röm 14,17). Essen und Trinken sind die alltäglichsten Belanglosigkeiten. Das Leben des Gläubigen sollte nicht von diesen Dingen geprägt sein (so schön und gut Essen und Trinken auch sein mögen), sondern von wichtigeren Dingen, nämlich von Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist. Ich bin nicht geistlicher als mein Bruder, wenn ich nur dies oder jenes esse, wenn ich so und so enthaltsam bin oder wenn ich auf dieses oder jenes verzichte. Das Essen geht in den Mund, dann in den Bauch und schliesslich in den Abort. Es macht mich weder zu einem besseren noch zu einem schlechten Christ.

Allerdings heisst es an einer anderen Stelle auch: «Ob ihr nun esst oder trinkt oder sonst etwas tut, tut alles zur Ehre Gottes!» (1.Kor 10,31). Der HERR selbst zeigt damit also an, dass selbst die alltäglichsten und belanglosesten Dinge wie Essen und Trinken Ihn ehren oder verunehren können. Und tatsächlich zeigt die Art und Weise, wie und was wir essen und trinken, etwas von unserer Beziehung zum HERRN. Es gibt bspw. masslose Leute, die gierig alles in sich hineinstopfen, was ihnen vorgesetzt wird, die vermeintlich immer zu kurz kommen und die nie genug haben können. Damit zeigen sie unbewusst ein gewisses Misstrauen gegenüber dem HERRN, denn ihr Verhalten scheint auszudrücken, dass sie sich nicht sicher sind, ob der HERR ihnen all das geben werde, was sie brauchen. Andere Leute verzichten auf den grössten Teil der zur Verfügung stehenden Nahrung. Sie essen vielleicht nur Kartoffeln oder Reis. Diese Leute zeigen eine gewisse Geringschätzung gegenüber den guten Gaben Gottes. Genauso handeln Menschen, die Nahrung einfach zu sich nehmen, damit der Motor mit Treibstoff versorgt ist, die nichts geniessen, sondern nur «mechanisch» dem Leib Nahrung zuführen. Man könnte noch mehr Beispiele anführen. Wir können aber auch zur Ehre Gottes essen und trinken, und zwar indem wir mit Dankbarkeit das geniessen, was uns vorgesetzt wird, genussvoll, aber doch bescheiden essen und bereit sind, unseren Nächsten zuliebe auch einmal auf etwas zu verzichten (das ist der Kontext in Röm 14). So kann sogar so etwas Belangloses wie Essen und Trinken zu einem «kleinen Gottesdienst» werden. Und das gilt nicht nur für das Essen und Trinken, sondern für alle Aspekte des täglichen Lebens!

Vers 18

Was aber aus dem Mund herausgeht, kommt aus dem Herzen hervor, und das verunreinigt den Menschen. Mt 15,18

Das, was in den Mund hineingeht, ist die Nahrung; das, was herauskommt, sind unsere Worte. Unsere Worte kommen aber nicht von irgendwo, sondern aus unserem Herzen. «Aus der Fülle des Herzens redet der Mund» (Mt 12,34; Lk 6,45). Wir können unsere Worte noch so klug wählen, wir können noch so lange überlegen, was wir genau sagen wollen, aber je mehr wir reden, umso mehr zeigen wir von dem, was in uns vorgeht. Wenn wir vermeiden wollen, dass jemand etwas von unserem Herz erkennt, dann gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen schweigen, so viel es geht!

Der Herr Jesus hat allerdings nicht allein auf diese Tatsache hingewiesen, sondern Er hat betont, dass unsere Worte uns verunreinigen, und zwar gerade weil sie aus unserem Herzen kommen. Das ist ein ernstes Wort! Die logische Konsequenz, die im nächsten Vers festgehalten ist, lautet, dass unser Herz unrein sein muss. Denn nur aus einer unreinen Quelle kommt unreines Wasser. Eine reine Quelle würde reines Wasser hervorsprudeln lassen. Hier haben wir also eine Kampfansage an die vielen, vielen Menschen, die von sich behaupten, sie seien eigentlich gar nicht schlecht oder böse. Auch wenn ich noch nie etwas wirklich Schlimmes getan habe, wenn ich noch nie jemanden getötet und noch nie eine Ehe gebrochen habe, meine Worte haben doch schon wiederholt bewiesen, dass ich das Potential dazu in meinem Herzen hätte. Mein Herz ist bösen Dingen nicht abgeneigt; im Gegenteil! Das ist leider eine traurige Tatsache.

Aber gerade hier liegt das Problem, das wir angehen sollten. Wir müssen uns nicht «herausputzen» mit Äusserlichkeiten, wie etwa dem rituellen Waschen der Hände, sondern wir müssen uns mit unserem Innersten, mit unserem Herz beschäftigen. Gott der HERR ist nicht daran interessiert, dass wir unser Äusserstes geschickt überschminken, sondern als der vollkommene Arzt will Er dort ansetzen, wo das eigentliche Problem liegt, nämlich beim unreinen Herzen, bei der in uns wohnenden Sünde.

Vers 19

Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken: Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugnisse, Lästerungen; Mt 15,19

Zweifelsohne ist das menschliche Herz imstande, gute Dinge hervorzubringen. «Gott hat den Menschen aufrichtig gemacht; sie aber suchten viele Künste» (Pred 7,29). Aber leider fällt es dem menschlichen Herzen nur allzu leicht, auch böse Dinge hervorzubringen, Dinge wie Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, Lügen, Fluchen etc. Wie kann das sein? Die Antwort ist im Sündenfall zu finden. Damals haben die ersten Menschen bewusst entschieden, sich gegen Gott und gegen Gottes Gebot aufzulehnen. Dadurch haben sie ihre Unschuld verloren; das Wesen des Menschen hat sich grundlegend verändert. Da ist eine neue Saat gekeimt, die Sünde, ein Drang, zu tun und zu lassen, was einem selbst gefällt, ganz so, als ob es keine Regeln gäbe.

Sünde ist nicht Übertretung, also nicht das Brechen eines göttlichen Gebotes. «Die Sünde ist die Gesetzlosigkeit» (1.Joh 3,4). Ein Sünder lebt so, als gäbe es gar kein Gesetz, dem er verpflichtet wäre; der Sünder ist sich selbst sein Gesetz, indem er tut und lässt, was ihm gerade so gefällt. Er lebt autonom (autos = selbst; nomos = Gesetz). Dadurch wird die Begierde, die eigentlich ein ganz normaler Teil unseres Menschseins ist, zum Problem, denn sie verliert jede Beschränkung und übertritt (zumindest potentiell) jede Grenze.

Ein Beispiel: Wenn ein Mann auf dem Dach eines benachbarten Gebäudes eine schöne Frau sieht, die gerade badet, dann kann seine Begierde geweckt werden. Das ist an und für sich noch kein Problem, denn der HERR hat die Frauen als bezaubernde Wesen erschaffen, die Männern den Kopf verdrehen können. Die Begierde des Mannes, der nicht gezielt Ausschau nach nackten Frauen gehalten hat, ist an und für sich nichts Verkehrtes. Der Mann kann genauso wenig dafür wie für die Vögel, die über seinen Kopf hinweg fliegen. Aber jetzt kommt der entscheidende Punkt: Wird der Mann zulassen, dass ein Vogel auf seinem Kopf landet und dort beginnt, ein Nest zu bauen? Oder wird er den Vogel weiter fliegen lassen bzw. verscheuchen? Für den sündigen Mann gibt es in diesem Moment kein Halten. Seine Begierde ist geweckt und er will die Frau haben, koste es, was es wolle. Hier empfängt die Begierde (wie die Frau empfängt, wenn eine Eizelle befruchtet wird) und sie gebiert wenig später die Sünde (Jak 1,15). Das sündige Herz kennt nur noch den eigenen Wunsch, nur noch das eigene Verlangen. Die Frau wird nötigenfalls sogar gegen ihren Willen bestiegen, ob sie bereits verheiratet ist oder nicht; und sollte ihr Mann später zu einem Problem werden, wird er beseitigt, selbst wenn das nur durch seine Ermordung möglich sein sollte.

Wer vor sich selbst nicht zugeben will, dass sein Herz zu solchen Gedanken und Gefühlen imstande respektive solchen Gedanken und Gefühlen teilweise sogar richtiggehend zugeneigt ist, der täuscht sich selbst. In jedem von uns gibt es eine böse Wurzel; in jedem von uns wohnt und wuchert die Sünde. Wir können diese böse Pflanze immer wieder beschneiden, wir können eine Hecke darum pflanzen und sie so nach aussen hin unter einem Gebäusch von guten, religiösen Verhaltensweisen verstecken, aber bei jedem von uns muss das Problem an der Wurzel gepackt werden! Der Herr Jesus hat nie lange gefackelt. Er ist immer direkt zur Wurzel vorgedrungen. Sein Wort macht klar, dass es Sein grosses Anliegen ist, uns von dieser bösen Wurzel zu befreien. Wir selbst können das nicht, aber Er kann! Und Er will!

Vers 20

diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen, aber mit ungewaschenen Händen zu essen, verunreinigt den Menschen nicht. Mt 15,20

Weder Gott noch die Menschen sind so, wie es leider oft dargestellt wird. Es ist nicht so, dass der Mensch an und für sich gut ist, und es ist auch nicht so, dass Gott gewissermassen nur darauf wartet, dass wir einen Fehler machen, für den Er uns dann bestrafen kann. Der Mensch ist in seinem Innersten böse, getrieben von seiner sündigen Natur, die sich fortwährend gegen Gott auflehnt, aber Gott sucht jeden Tag Wege, um den verdorbenen und verlorenen Mensch zu suchen und zu retten. «Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist» (Lk 19,10).

Vor dem Thron Gottes wird uns nicht zum Verhängnis werden, dass wir einmal vergessen haben, uns mit Weihwasser zu besprengen, oder dass wir das Vaterunser falsch aufgesagt haben. Zum Verhängnis werden uns unsere bösen Taten werden, die wir so oft herunterspielen. Diese bösen Taten zeigen nämlich, wie böse unser Herz ist. Das wird uns so klar und deutlich werden, dass wir nicht mit Gott diskutieren oder feilschen, sondern nur noch beschämt schweigen werden. «Wenn er Lust hat, mit Ihm in einen Rechtsstreit zu treten, so könnte er Ihm auf tausend nicht eins antworten» (Hiob 9,3). Wir sollten deshalb unser Leben hier auf der Erde nutzen, um dieses grundlegende Problem mit Gottes Hilfe anzugehen. Es wäre ein fataler Fehler, stattdessen zu versuchen, das böse Herz hinter religiösen Übungen zu verdecken!

Vers 21

Und Jesus ging von dort weg und zog sich in die Gegenden von Tyrus und Sidon zurück Mt 15,21

Der Herr Jesus war von Israel definitiv verworfen worden. Das Kapitel 12 berichtet vom letzten grossen Bruch zwischen dem Volk und seinem Messias. Das Kapitel 13 enthält zahlreiche Gleichnisse im Hinblick auf eine neue Zeit, die anbrechen sollte – eine Zeit, in der das Volk Israel in den Heilswegen Gottes keine Sonderstellung mehr einnehmen wird. Trotzdem finden wir den Herrn Jesus im Kapitel 14 und zu Beginn des Kapitels 15 weiterhin in Israel. Das Volk hatte Ihn verworfen, aber Er konnte nicht aufhören, diesen Menschen in Gnade zu begegnen und Sich in Gnade um sie zu kümmern. Was für eine Liebe!

Doch dann kam doch der Moment, in dem der Herr Jesus das Land Israel für eine Zeit verliess. Er zog hinauf bis in die Gegenden von Tyrus und Sidon. Diese einst gewaltigen phönizischen Handelsstädte lagen im Gebiet des heutigen Libanon. Wir wissen, dass Matthäus die Ereignisse im Leben des Herrn Jesus nicht strikt chronologisch, sondern thematisch gegliedert schildert. Das Verlassen des Landes Israel steht folglich in einem thematischen Zusammenhang mit den vorher geschilderten Ereignissen. Mit Blick auf die obigen Ausführungen wird rasch klar, dass dieser «Ausflug» eine prophetische Bedeutung hat und die Zeit andeutet, in der der HERR sich mehr den anderen Nationen als Israel zuwenden wird. Das nun folgende Ereignis muss deshalb für uns von besonderem Interesse sein.

Vers 22

und siehe, eine kanaanäische Frau, die aus jenem Gebiet herkam, schrie und sprach: Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist schlimm besessen. Mt 15,22

In den Gegenden von Tyrus und Sidon suchte eine kananäische Frau Hilfe beim Herrn Jesus. Offenbar war die Kunde von Ihm und den Wundern, die Er getan hatte, bis in jene Gegenden ausgegangen. Diese Frau suchte Hilfe für ihre schlimm besessene Tochter. Sie rief zum Herrn Jesus, zum Sohn Davids.

Diese Begebenheit ist für uns von besonderem Interesse: Wie wird der Herr Jesus in jener Zeit, in der Er sich von Israel abgewandt hat, auf den Hilferuf eines Nicht-Israeliten reagieren? Bedeutet der Umstand, dass Er Israel beiseite gesetzt hat, wirklich, dass Seine Gnade nun in besonderer Weise zu den übrigen Nationen ausgeht?

Um die nachfolgenden Verse richtig verstehen zu können, ist es entscheidend, auf ein Detail hinzuweisen: Die Frau rief den Herrn Jesus als den Sohn Davids an. Das war ein Titel für den Messias Israels, denn die Schriften des Alten Testamentes machen klar, dass der Messias ein direkter Nachkomme Davids ist. Wenn also die Israeliten in Mt 12,23 fragen: «Dieser ist doch nicht etwa der Sohn Davids?», dann geht es darum, ob Er der Messias für Israel sei. Der Titel «Sohn Davids» steht also in einem besonders engen Zusammenhang mit dem Schicksal Israels. Er zeigt in erster Linie an, dass der Messias wie einst David als König über Israel regieren wird. So gesehen gibt es nur ein Volk auf der Welt, das ein Recht darauf hat, den Herrn Jesus als den Sohn Davids anzusprechen, nämlich Israel.

Die Bücher Mose und das Buch Josua zeigen zudem auf, dass Israel den Auftrag hatte, alle Kanaaniter (insgesamt sieben Nationen, die das Land Kanaan bewohnt haben), auszurotten. Die Kanaaniter haben im Land Kanaan nichts mehr zu suchen gehabt, weil sie sich ihr Recht darauf durch das Vollmass ihrer Sünden verspielt hatten. War es Israel erlaubt, gewisse Beziehungen zu anderen Völkern zu unterhalten, durfte es keinerlei Zusammenkommen mit den Kanaanitern geben. So gesehen sind die Kanaaniter (nicht die einzelnen Menschen, sondern jene Völker – in einer bildlich-symbolischen Weise) diejenigen Völker, die am wenigsten vom Messias Israels erwarten dürfen. Das Verhältnis zwischen dem Sohn Davids und den Kanaanitern könnte folglich mit «Feindschaft» umschrieben werden.

Was wird also der Sohn Davids für diese kananäische Frau in den Gegenden von Tyrus und Sidon sein? Wie wird Er auf ihren Hilferuf reagieren?

Vers 23

Er aber antwortete ihr nicht ein Wort. Und seine Jünger traten hinzu und baten ihn und sprachen: Entlass sie! Denn sie schreit hinter uns her. Mt 15,23

Der Aufbau des Matthäus-Evangeliums zwingt geradezu zum Schluss, dass der Herr Jesus dieser kananäischen Frau helfen würde. Hatte nicht Israel seinen Messias verworfen? Hatte Er nicht in der Folge durch Gleichnisse gezeigt, dass das Evangelium nun zu den übrigen Nationen ausgehen würde? Und hatte Er nicht kurz darauf Israel verlassen, um nach Tyrus und Sidon zu gehen? Aber nun antwortete Er dieser Frau nicht ein einziges Wort! Ja, Sein Schweigen war so auffällig und so belastend, dass sogar die Jünger Ihn baten, der Frau zu antworten, damit diese endlich Ruhe gebe!

Wie kann man sich dieses Schweigen erklären? Die Antwort ist einfach; sie wird uns im nächsten Vers gegeben. Diese Frau hatte den Herrn Jesus als «Sohn Davids» angesprochen, aber der Sohn Davids ist der Heiland für Israel, nicht für den Rest der Welt. Nur Israel darf vom Sohn Davids Grosses erwarten. Der Segen des Sohnes Davids wird zwar durch Israel auch zu den übrigen Nationen ausströmen, aber nur indirekt. Die Welt hat vom Sohn Davids quasi nichts zu erwarten.

Man könnte nun einwenden, das sei doch Haarspalterei oder aber eine an den Haaren herbeigezogene Erklärung. Aber das ist es nicht. Das Wort Gottes ist siebenfach gereinigt (Ps 12,7), was bedeutet, dass der HERR jedes einzelne Wort sorgfältig abgewägt hat. Begebenheiten wie diese, gerade wenn sie uns zunächst einmal etwas «vor den Kopf stossen», haben uns etwas zu sagen. Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, was das ist. Hier soll uns erklärt werden, dass die Nationen nicht auf dieselbe Weise in Beziehung zum Herrn Jesus treten wie Israel. Es ist quasi ein anderer Zugang, aber zur selben Person. Wir Nicht-Israeliten haben gewissermassen nichts mit dem Sohn Davids zu schaffen; wir suchen den Sohn Gottes. Dabei geht es nicht um Details, sondern um etwas ganz Grundlegendes, auf das wir bei der Betrachtung des folgenden Verses zu sprechen kommen werden.

Vers 24

Er aber antwortete und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Mt 15,24

Hier haben wir nun die Antwort des Herrn selbst auf Sein für uns wunderliches Verhalten: Der Sohn Davids ist nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Vom Sohn Davids hatte diese kananäische Frau folglich gar nichts zu erwarten. Ach, wie wenig hat die Christenheit diese Tatsache in den vergangenen Jahrhunderten bedacht!

Insbesondere die Briefe an die Galater und an die Hebräer machen ganz klar, dass es einen himmelweiten Unterschied zwischen dem jüdischen und dem christlichen Gottesdienst, zwischen dem jüdischen und dem christlichen Glaubensweg gibt, und dass jeder, der diese beiden Dinge vermischt, einen grossen Fehler begeht und alles durcheinander bringt. Aber genau das hat die Kirche getan. Weite Teile der Christenheit glauben heute noch, dass die Kirche den Platz von Israel eingenommen habe, dass Israel sich seine Stellung also definitiv verspielt und dass die Kirche diese Stellung geerbt habe. Die Folge davon ist, dass die Kirche sich auf die irdisch-materiellen Segnungen (Einfluss auf das Weltgeschehen, Wohlstand und Gesundheit für den einzelnen Christen etc.) konzentriert und ihre himmlische Berufung aus den Augen verloren hat.

Weite Teile der Christenheit meinen, wir Christen seien den zehn Geboten verpflichtet. Die zehn Gebote sind aber die Zusammenfassung des Gesetzes, das der HERR Seinem Volk Israel am Berg Sinai durch Mose gegeben hat. Wer meint, er müsse die zehn Gebote halten (von denen eines übrigens das Sabbat-Gebot ist!), der muss konsequenterweise das ganze Gesetz für Israel halten! Man kann sich nicht einzelne Dinge aus dem Gesetz herauspicken, die man beachten will, während man den Rest ignoriert! Ein Gesetz gilt oder es gilt nicht. Wer sich aber unter das Gesetz stellt, ist gemäss dem Galater-Brief aus der Gnade gefallen. Ein solcher Mensch verleugnet sowohl den Antrieb (die Motivation) als auch die Kraft, durch die ein Christ lebt. Und eines ist gewiss: Er wird scheitern!

Weite Teile der Christenheit meinen, Feiertage, Kirchengebäude, eine Priesterklasse, entsprechende Gewänder, Zeremonien etc. seien etwas typisch Christliches. Das Neue Testament kennt nichts davon! All das, was die Allgemeinheit als typisch christlich ansieht, stammt entweder aus dem Heidentum oder aber aus dem Judentum. Hier ist nicht der Ort, um das im Detail zu besprechen, aber wer diesem Gedanken einmal nachgeht, wird rasch feststellen, wie wenig von dem, was wir als «normal» für einen christlichen Gottesdienst ansehen, im Neuen Testament erwähnt wird.

Als Christen haben wir nicht eine irdische, sondern eine himmlische Berufung. Wir trachten nicht nach Einfluss auf diese Welt, sondern versuchen vielmehr, noch so viele Menschen wie nur möglich aus dem Einfluss dieser Welt zu befreien, während wir gleichzeitig mit himmlischen Dingen und insbesondere mit dem Sohn Gottes, der zur Rechten der Majestät thront, beschäftigt sind. Wir orientieren uns nicht am Gesetz für Israel, sondern lassen uns von der Frage leiten, wie wir dem Sohn Gottes, der uns geliebt und Sich für uns hingegeben hat, unsere Liebe zeigen können. Unser Antrieb und unsere Kraft kommt vom in uns wohnenden Heiligen Geist, der uns auch in die rechte Art der Anbetung leitet, nicht von einem starren Regelwerk, das in sich selbst keine Kraft hat. Wir beschäftigen uns praktisch nicht mit Schatten und Abbildern, wie Feiertagen, Gebäuden, Priestergewändern etc., sondern mit dem Sohn Gottes selbst, der die Fülle von all dem ist. In einem Wort: Unser Zugang zu Gott ist ein ganz anderer als jener des Volkes Israel.

Vers 25

Sie aber kam und warf sich vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Mt 15,25

Die kananäische Frau hatte ihre Beziehung zum Herrn Jesus falsch eingeschätzt. Sie hatte gedacht, sie könne wie ein Israelit zu Ihm kommen, aber das war nicht möglich, denn sie gehörte nicht zu Israel. Ihr Glaube leitete sie aber dahin, ihre Hilfe so oder anders nur bei Einem zu suchen, nämlich bei Gott, geoffenbart im Fleisch in der Person Jesu Christi. Konnte der Sohn Davids ihr nicht helfen, musste doch Er derjenige sein, an den sie sich wandte. Also rief sie Ihn schlicht als «Herrn» an, mit der einfachen Bitte um Hilfe.

Durch Glauben verstehen wir zwar geistliche Tatsachen, wie es in Hebr 11,3 heisst, aber das bedeutet nicht, dass Menschen mit echtem Glauben an den lebendigen Gott immer alles verstehen und immer alles richtig beurteilen. Das kann niemand von uns; unsere Erkenntnis wird stets ein Stückwerk bleiben (1.Kor 13,9). Aber der Glaube wird uns dahin leiten, uns in jeder Situation so zu verhalten, dass der HERR uns Seine Gnade schenken kann. Anders ausgedrückt geht der Glaube niemals leer aus. Der Glaube – nur der Glaube! – ist gewissermassen die Hand, die die Gnade, die Gott darreichen will, in Empfang nimmt. Da kann einer alles Mögliche verstehen, beurteilen und erklären, aber doch ohne Segen bleiben, weil er zweifelt, während ein anderer vermeintlich gar nichts begreift, aber kindlich glaubt und daher im Ergebnis doch immer richtig liegt.

So war es mit dieser Frau. Sie hatte sich dem Herrn Jesus gewissermassen auf eine religiöse Weise genähert, so wie sie es wohl gehört hatte. Aber sie war auf eine verschlossene Tür gestossen. Sie hatte die Situation falsch beurteilt; ihr Glaube hatte sie nicht vor dieser Fehleinschätzung bewahrt. Und nun? Sie mochte vielleicht völlig irritiert sein, aber ihr Glaube leitete sie an, die Hilfe beim Herrn Jesus zu suchen und nirgendwo sonst. Wie wunderbar ist das!

Vers 26

Er antwortete und sprach: Es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen. Mt 15,26

Die kananäische Frau hatte Glauben gezeigt, aber noch blieb die Frage zu beantworten, wie tief und wie fest dieser Glaube war. Manchmal prüft der HERR unseren Glauben – nicht, weil Er herausfinden müsste, wie es um unseren Glauben bestellt ist, sondern um uns oder auch anderen Menschen zu zeigen, welcher Art unser Glaube ist. Als Abraham der Verheissung Gottes bezüglich einer grossen Nachkommenschaft Glauben schenkte, war die Sache für Gott erledigt (1.Mose 15,6). Aber wie hätten wir je verstehen sollen, weshalb dieser Glaube für Gott so aussergewöhnlich kostbar gewesen wäre, wenn er nicht später auf die Probe gestellt worden wäre? Für den HERRN war die Sache damals schon klar, für uns dagegen erst nach der Beinahe-Opferung von Isaak, weil sich für uns erst dort die aussergewöhnliche Qualität des Glaubens Abrahams gezeigt hat.

Wer einmal einen Experten beobachtet, der in irgendeinem Fachgebiet mündliche Prüfungen abnimmt, wird feststellen, dass dieser Experte seine Prüfungen jeweils mit relativ einfachen Fragen beginnt. Kann der Prüfling die Fragen gut beantworten, wird der Experte schwierigere Fragen stellen. Kann der Prüfling auch diese Fragen beantworten, wird der Experte noch schwierigere Fragen stellen. Die besten Kandidaten müssen die schwierigsten Prüfungen ablegen. Wieso? Weil der Experte nur so beurteilen kann, ob diese Kandidaten zu den besten Leistungen oder «nur» zu guten bis sehr guten Leistungen fähig sind. Bei schlechteren Kandidaten, die schon relativ einfache Fragen nicht beantworten können, ist es müssig, schwierigere Fragen zu stellen, weil offenkundig ist, dass die Kandidaten damit überfordert wären. So ähnlich ist es auch in unserem Glaubensleben. Wir alle werden immer wieder von Gott geprüft. Bestehen wir die einfacheren Prüfungen, werden uns schwierigere Prüfungen begegnen. Nur so ist es dem HERRN möglich, uns und den Menschen um uns herum zu zeigen, wozu Seine Gnade und unser Glaube in der Lage sind.

Diese kananäische Frau hatte mit ihrer Reaktion (Vers 25) bereits viele Mitmenschen überflügelt, was ihren Glauben betraf. Sie hatte sich nicht abwimmeln lassen, sondern gezeigt, dass sie ihre Hoffnung nur auf den Herrn Jesus setzen wollte und dass sie sich von einer geschlossenen Tür nicht abhalten lassen wollte. Sie war bereit für einen weiteren Test. Der Herr Jesus antwortete ihr, dass es nicht schön sei, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden – eigentlich: den Hündlein (ein überaus verächtlicher Ausdruck!) – hinzuwerfen. Was für eine Ohrfeige! Der Herr Jesus sagte damit gewisserweise, dass Seine Gnade nur für die Kinder Israel bestimmt sei und dass alle anderen Nationen – einschliesslich dieser armen Frau – keinerlei Anrecht darauf hätten, da sie im Vergleich zu den Israeliten, die als Kinder und damit als Familienmitglieder bezeichnet wurden, nur Hündlein seien.

In der Geschichte Israels hat es schon einmal einen Nicht-Israeliten gegeben, der herablassend behandelt worden ist, nämlich Naaman, den Syrer. Er war nach Israel gekommen, um sich von Aussatz heilen zu lassen, aber der Prophet kam nicht einmal aus seinem Haus, um ihn zu begrüssen, sondern liess ihm nur eine knappe Botschaft übermitteln. Ihm, dem Heeresführer der Syrer! Naaman war so gekränkt und beleidigt, dass er das ganze Projekt (kurz vor dem Ziel) um ein Haar abgebrochen hätte! Wie hat diese Frau, die vom Herrn Jesus (gefühlt) noch deutlich stärker beleidigt worden ist, reagiert?

Vers 27

Sie aber sprach: Ja, Herr; doch es essen ja auch die Hunde von den Krumen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen. Mt 15,27

Was für eine Antwort! Diese arme kananäische Frau erkannte freimütig und ohne jeden Vorbehalt an, dass sie an und für sich keinerlei Anrecht auf ein Handeln Gottes zu ihren Gunsten hatte. Sie bezeichnete sich selbst als ein Hündlein und sie räumte ein, dass es tatsächlich nicht schön ist, das Brot der Kinder den Hündlein zu geben. Sinngemäss sagte sie damit, dass es in ihr selbst keinen Anlass für den HERRN geben konnte, Sich ihr zuzuwenden. Wie steht es mit uns? Haben wir diese Wahrheit in Bezug auf uns selbst auch schon anerkannt? Haben wir verstanden, dass unser ganzes Haupt krank, unser ganzes Herz siech ist, dass es von der Fusssohle bis zum Haupt keine heile Stelle an uns gibt (Jes 1,5.6)? Haben wir begriffen, dass wir unseren Stand vor Gott nicht verbessern können, sondern ganz und gar auf Seine Hilfe angewiesen sind, ohne dass wir auch nur etwas vorweisen könnten, das Ihn in irgendeiner Weise verpflichten könnte, uns diese Hilfe zu erweisen? Wer meint, er könne sich bei Gott etwas verdienen, wird sich nicht nach Seiner Gnade ausstrecken und diese deshalb verpassen. Nur Gnade, nur unverdiente Gunst kann uns retten!

Diese Frau erkannte nicht nur ihr eigenes Unvermögen an, sondern zeigte sich auch vom unendlichen Reichtum Gottes überzeugt. Sie sprach von den Krumen, die vom Tisch fallen und von den Hündlein vom Boden geleckt werden. Sinngemäss sagte sie damit, dass jede noch so kleine Krume von der grossen Gnade Gottes ausreichend sei, um der ganzen Not eines Menschen zu begegnen. Sie sagte nicht, dass sie die ganze Kraft des Herrn Jesus benötige, sondern sie bat um eine winzig kleine Krume dieser Kraft; das sei ihr bereits mehr als genug. Was für ein Glaube!

Wenn man das in aller Ehrfurcht so schreiben darf, dann hat diese Frau damit zielsicher den empfindlichen Punkt des Herrn Jesus getroffen. Was hätte Er ihr auf diese Entgegnung antworten wollen? Dass sie sich in Ihm getäuscht habe? Dass nicht genug Gnade oder nicht genug Kraft vorhanden sei? Dass eine Krume Seiner Kraft nicht ausreiche, um ihren Wunsch zu erfüllen? Diese Frau hat aus sich selbst nichts und aus Ihm alles gemacht. Und damit lag sie goldrichtig! Ihr Glaube führte sie letztlich zielsicher zum gewünschten Ergebnis, denn der Glaube urteilt (unabhängig davon, wie viel oder wie wenig wir verstehen) immer richtig in Bezug auf Gott, weil Er von Gott alles erwartet, weil er Ihm alles zutraut.

Vers 28

Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist gross. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter war geheilt von jener Stunde an. Mt 15,28

Der Herr Jesus hatte natürlich von Beginn weg gewusst, wie gross der Glaube dieser kananäischen Frau gewesen ist. Er hätte ihr ihre Bitte schon erfüllen können, bevor sie auch nur gefragt hätte, denn der Glaube, der Seine Gnade in Empfang nehmen muss, war ja da. Aber Er wollte diesen Glauben, der in dieser Reinheit und Tiefe so selten anzutreffen und deshalb für Gott besonders kostbar ist, in seinem vollen Glanz ans Licht stellen. Nachdem dieser Lichtglanz aufgeblitzt war, konnte der Herr Jesus die wunderbaren Worte aussprechen: «Dein Glaube ist gross». Wer hätte das nach dieser Episode in Abrede stellen wollen?

Mit uns als Seinen Kindern hat Gott Ähnliches vor. Er hat für jeden Einzelnen von uns grosse und herrliche Pläne. Er will mit jedem von uns mehr erreichen, als wir uns in unseren kühnsten Träumen vorstellen könnten. Doch Er muss der Welt gewissermassen beweisen können, dass wir fähig, geeignet und würdig dafür sind, diese Segnungen zu empfangen. Dafür muss Er unseren Glauben auf die Probe stellen, uns durch Schwierigkeiten gehen lassen. Er muss zeigen, dass wir durch Seine Gnade und durch die Kraft Seines Geistes an Schwierigkeiten nicht zerbrechen, sondern wachsen, dass Verletzungen uns nicht härter, sondern weicher machen, dass die Erfahrung uns nicht arrogant, sondern demütig macht und noch so vieles mehr, über das die Menschen (uns selbst eingeschlossen!) wundern werden. Möge der HERR schenken, dass wir uns in unseren Prüfungen so verhalten wie diese kananäische Frau!

Vers 29

Und Jesus ging von dort weg und kam an den See von Galiläa; und als er auf den Berg gestiegen war, setzte er sich dort. Mt 15,29

Nun kehrte der Herr Jesus wieder zurück nach Israel. Die Israeliten hatten Ihn zwar verworfen und Er hatte sich von ihnen abgewandt, aber Seine Gnade konnte sie nicht sich selbst überlassen. Er nutzte die Ihm noch verbleibende Zeit, um als der definitiv Verworfene durch Israel zu ziehen und wohlzutun und alle zu heilen, die von dem Teufel überwältigt waren (vgl. Apg 10,38), bevor Er dann Sein Leben – ja: Sich selbst! – am Kreuz auf Golgatha gab, um so Viele wie nur irgend möglich von jenen zu retten, die Ihn abgelehnt und Ihm Böses für Gutes erstattet hatten. Wer kann diese Gnade, diese Liebe begreifen? Sie ist wahrhaftig göttlich und sie stellt völlig bloss, wie unvollkommen und geradezu schäbig jene Liebe ist, die wir für andere aufbringen können.

Vers 30

Und grosse Volksmengen kamen zu ihm, die Lahme, Blinde, Krüppel, Stumme und viele andere bei sich hatten, und sie warfen sie ihm zu Füssen; und er heilte sie, Mt 15,30

Der Mensch ist schon ein eigenartiges Wesen! Israel hatte seinen Messias mit aller nur erdenklichen Entschiedenheit verworfen, aber so lange die Israeliten von Ihm profitieren konnten, wollten sie die Chance nutzen. Wie viele Menschen werden heute noch von ihren Nächsten wie Zitronen ausgepresst und dann weggeworfen! Der Herr Jesus hat das in einer ganz besonderen Weise erleben müssen, aber Sein gnädiges Herz wollte es so. Wieder kamen grosse Volksmengen und wieder suchten sie Heilung bei Ihm und wieder fanden sie, wonach sie suchten. Wir werden allerdings gleich in den folgenden Versen sehen, dass der Herr Jesus in Seiner unermesslichen Gnade sogar noch mehr für diese Menschen tun wollte.

Damit sind wir einmal mehr beim Evangelium, sozusagen bei der Kernbotschaft der Bibel angelangt: Wir sehen einerseits die Menschen in ihrer Verkehrtheit und andererseits Gott in Seiner Gnade. Die Menschen denken falsch von Gott und sie lehnen Ihn ab. Natürlich gibt es viele Menschen, die sagen, dass sie an Gott glauben, aber sie wollen nur nach ihren eigenen Bedingungen glauben; sie wollen nur an einen Gott glauben, der so ist, wie sie Ihn gerne hätten. Den wahren, lebendigen Gott lehnen sie dagegen ab. Sie leben, als ob Er kein Recht darauf hätte, sich in ihr Leben einzumischen. Aber die guten Dinge aus Seiner Hand nehmen sie trotzdem gerne an. Alle leben sie letztlich wie Verbrecher, denn sie scheren sich nicht um das Recht und sie übertreten es ständig. Aber der HERR wendet sich den Menschen trotzdem zu. Er geht ihnen nach, Er wirbt um sie und Er will sie gewinnen. Jeder hat die Chance, von Gott gerettet und begnadigt zu werden, selbst wenn er noch so böse gewesen ist! Der schlimmste Verbrecher hat die echte Chance, zu den Heiligen Gottes gezählt zu werden! Das kann nur die Gnade Gottes.

Vers 31

sodass die Volksmenge sich wunderte, als sie sahen, dass Stumme redeten, Krüppel gesund wurden, Lahme gingen und Blinde sahen; und sie verherrlichten den Gott Israels. Mt 15,31

Die Volksmenge war gekommen, um Wunder zu sehen und Heilung zu erfahren. Sie bekam genau das, was sie wollte! Und zwar erwies der HERR Seine Gnade in einer solchen Weise, dass die Leute, obwohl sie genau deswegen gekommen waren, sich nur noch wundern konnten. Was muss das gewesen sein, was damals geschehen ist! Wir können die Macht und die Gnade Gottes nur bewundern. In der Person Seines Sohnes hat Er ein Volk, das Ihn mit aller nur erdenklichen Entschiedenheit abgelehnt hatte und das Ihn in Kürze wutschnaubend, höhnisch und qualvoll töten würde, nur so mit Segen überschüttet.

Die Reaktion der Volksmenge scheint sehr schön: Sie verherrlichten den Gott Israels. Diese Verherrlichung entstammte gewiss einer echten Gefühlsregung als Reaktion auf die Wunder, aber sie war weitestgehend wertlos. Das klingt hart, aber es ist die Wahrheit. Hätte diese Regung wenigstens ein bisschen Tiefgang gehabt oder hätte sie etwas länger als wenige Stunden oder Tage angehalten, hätten die Israeliten wohl kaum den Herrn Jesus an ein Kreuz nageln lassen. Und hier liegt das Problem. Man kann im Rausch der Gefühle, beeindruckt von einem Gnadenerweis Gottes wirklich echte Zuneigung zu Ihm empfinden, Ihn für einen Moment echt lieben, Ihm für einen Moment echte Anbetung darbringen, aber das alles ist nicht zwingend ein Ausdruck echten Glaubens.

Die entscheidende Frage ist: Wie sieht es aus mit der Zuneigung, mit dem Lob, mit der Anbetung, wenn die Gefühle abgeklungen sind, wenn der Moment verblasst ist, wenn man sich wieder mitten in den Sorgen des Alltags befindet? Der Glaube erhebt sich über die Umstände und liebt und lobt Gott selbst dann, wenn es von der natürlichen Wahrnehmung her gar nichts gibt, das diese Liebe oder dieses Lob erklären könnte. Vom Propheten Jona wissen wir zum Beispiel, dass er einen echten, lebendigen Glauben an Gott gehabt hat, obwohl er sich praktisch ununterbrochen völlig daneben benommen hat. Wieso? Weil er im Bauch des grossen Fisches, also wahrscheinlich in einer engen, stinkenden, dunklen Höhle, sauren Magensäften ausgesetzt, die seine Haut verätzten, eines der schönsten Gebete gesprochen haben, die wir in der Bibel finden. In jenen Tagen gab es menschlich gesehen wirklich rein gar nichts, wofür Jona den HERRN hätte loben können, aber sein Glaube entrückte ihn gewissermassen aus den Umständen, versetzte ihn in die Gegenwart Gottes und fand dort alles, was er zum Lobpreis benötigte.

Vers 32

Als Jesus aber seine Jünger herangerufen hatte, sprach er: Ich bin innerlich bewegt über die Volksmenge, denn schon drei Tage harren sie bei mir aus und haben nichts zu essen; und ich will sie nicht hungrig entlassen, damit sie nicht etwa auf dem Weg verschmachten. Mt 15,32

Die Volksmenge verherrlichte den Gott Israels ob all der Wunder, die sie gerade miterlebt hatte. Man würde denken, der Herr Jesus hätte einen Moment innegehalten, um sich darüber zu freuen oder das wenigstens anerkennend zu würdigen. Doch Er kannte die Herzen. Er wusste, dass dies nur eine Gefühlsregung des Augenblicks ohne bleibende Wirkung war. Zudem war Er nicht auf der Suche nach Lob und Anerkennung, sondern, wenn wir das so sagen dürfen, nach Gelegenheiten, Seine Gnade zu zeigen. Statt vom Lobpreis nahm Er deshalb von einem weiteren Bedürfnis der Menschen Notiz: Sie waren schon drei Tage bei Ihm und benötigten nun Nahrung. Keinesfalls wollte Er sie hungrig entlassen! Wie gnädig und wie gütig ist unser grosser Heiland-Gott!

Wie unbekannt ist das Herz Gottes in weiten Teilen der Christenheit! Die meisten Menschen, die sich Christen nennen, sind religiös. Ihre Beziehung zum HERRN ist geprägt vom Gedanken, was Er alles fordert und was sie Ihm alles geben müssen, damit Er zufrieden ist. Sie meinen, sie müssten Ihn bedienen. Sie erbringen Leistungen und denken, Er müsse sie dafür entschädigen bzw. belohnen. Doch nicht jener Mensch, der dem HERRN möglichst viel bringt, findet besonders viel Gehör bei Gott, sondern vielmehr jener, der möglichst viel braucht und den HERRN darum bittet, denn der HERR ist ein fröhlicher Geber, der sich durch das, was von Ihm kommt, verherrlichen will.

Scheint Dir Gott fern zu sein, dann beginne nicht, religiöse Übungen zu absolvieren, sondern komm ganz einfach vor Ihn und schütte Ihm Deine Not, Deine Schwierigkeiten und Deine Probleme aus! Sage Ihm, woran es bei Dir mangelt, womit Du zu kämpfen hast etc., dann wirst Du Ihm rascher näher kommen, als wenn Du versuchst, Ihm etwas zu bringen. Israel in Ägypten musste sich nicht in Ordnung bringen, sondern nur zum HERRN um Hilfe schreien. Das war genug! Wir wissen, wie Er Sich dann diesem Volk zugewendet hat.

Vers 33

Und seine Jünger sagen zu ihm: Woher nehmen wir in der Einöde so viele Brote, um eine so grosse Volksmenge zu sättigen? Mt 15,33

Die Frage der Jünger ist an sich berechtigt gewesen. Das Problem war real. Aber hatte der Herr Jesus nicht kurze Zeit davor schon einmal Tausende von Menschen in der Einöde mit praktisch nichts gespiesen? Hatten sie das bereits wieder vergessen?

Jeder echte Gläubige kann in seinem eigenen Leben auf eine ganze Reihe von Ereignissen zurückblicken, bei denen er Gottes gnädiges Eingreifen selbst erlebt hat. Und doch scheint das oft vergessen, sobald wir vor einem neuen Problem stehen. Wie kann das sein? Nun, zunächst einmal sind wir wirklich vergesslich, wie es scheint. So schnell gehen sogar Erinnerungen an aussergewöhnliche Begebenheiten verloren! Dann haben wir aber oft auch mit einer falschen Blickrichtung zu kämpfen. Wir sehen auf uns selbst und finden nur Unvermögen, wie Mose in der Wüste; wir sehen auf die Feinde und werden mutlos, wie das Volk Israel bei Kadesch-Barnea; oder wir sehen auf das grosse Problem, das vor uns liegt, wie das Volk Israel bei der Rückkehr aus Babel. Die Jünger sahen das Problem, die fehlenden Mittel, das grosse Bedürfnis etc. Aber sie schauten nicht auf den Herrn Jesus. Wenn wir im Vertrauen auf Ihn blicken, dann wird unser Unvermögen belanglos, dann wird die Macht des Feindes irrelevant, dann ist kein Problem zu gross. Fassen wir also auch in schwierigen Problemen Mut! Schauen wir auf den HERRN, bitten wir Ihn um Hilfe und erinnern wir uns daran, was Er bereits alles Grosses in unserem Leben getan hat!

Vers 34

Und Jesus spricht zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Sie aber sagen: Sieben und wenige kleine Fische. Mt 15,34

Wiederum «zauberte» der Herr Jesus keine Speise aus dem Nichts herbei; wiederum bediente Er sich an dem Wenigen, das die Jünger Ihm darreichen konnten. Wie wunderbar ist das! Beim ersten Mal hatten die Jünger fünf Brote und zwei Fische anzubieten. Dieses Mal waren es sieben Brote und wenige Fische. Nichts in der Bibel ist ohne Bedeutung. Jedes Wort Gottes ist siebenmal geprüft worden, bevor es in die Bibel aufgenommen worden ist (Ps 12,7). Auch die Zahlen in der Bibel haben ihre Bedeutung. Allerdings ist Vorsicht geboten, denn die symbolische Bedeutung der Zahlen darf niemals als eine Einladung dafür verstanden werden, der Phantasie freien Lauf zu lassen!

Die Zahl Zwei ist die Zahl des Zeugnisses: Zwei Zeugen waren ausreichend in einem Gerichtsverfahren, die Zehn Gebote wurden auf zwei Tafeln gegeben, wir haben zwei Testamente in der Bibel etc. Die Zahl Drei ist eine erste «Vollzahl», drückt aber vor allem Einheit aus: Es gibt drei Personen innerhalb der Gottheit, der Mensch besteht aus drei Teilen (Geist, Seele, Körper), drei Zeugen konnten in einem Gerichtsverfahren ein vollkommenes (nicht nur ausreichendes) Zeugnis abgeben etc. Auch die Zahl Vier ist eine Art «Vollzahl», drückt aber eher eine umfassende Reichweite aus: Es gibt vier Himmelsrichtungen, vier Evangelien, die uns den Herrn Jesus von allen Seiten vorstellen, vier Farben an den Vorhängen der Stiftshütte und des Tempels, vier Wesenszüge bei den Cherubim, vier Lager (Banner), in die Israel sich sammeln sollte etc. Die Zahl Fünf spricht von Verantwortlichkeit: Wir haben fünf Finger an unseren Händen, fünf Zehen an unseren Füssen, Israel wurden zweimal fünf Gebote gegeben etc. Die Zahl Sieben ist eine der beiden «echten Vollzahlen»; die andere ist die Zahl Zwölf. Sieben Tage ergeben eine Woche, sieben Jahre ein Sabbatjahr und siebenmal sieben Jahre ein Jobeljahr (Jubeljahr). Der Herr Jesus sandte einmal 70, also zehnmal sieben Jünger aus. Die prophetische Geschichte des Volkes Israels im Buch Daniel ist in Abschnitte von je sieben Jahren und insgesamt in siebzigmal sieben Jahre gegliedert; auch die Geschichte davor lässt sich in Abschnitte von je sieben oder siebzig Jahren aufteilen. Die Zahl Zwölf ist sogar in unserem Sprachgebrauch noch eine «Vollzahl»; wir sprechen teilweise noch von einem Dutzend, das sind zwölf Stück einer Sache. Israel setzt sich aus zwölf Stämmen zusammen; entsprechend setzte der Herr Jesus für Israel zwölf Apostel ein. Dieser kurze Überblick über einige wichtige Zahlen soll die Grundlage für eine kleine Studie der Symbolik bei den beiden grossen Speisungen bilden.

Bei der ersten Speisung bildeten fünf Brote und zwei Fische die Basis für die Speise. Wir sehen hier also einen Hinweis auf Verantwortlichkeit und auf Zeugnis. Wir haben gesehen, dass die Beschreibung jenes Ereignisses in Mt 14 den Ausgangspunkt für einen vorbildlichen Überblick über die weitere Geschichte Israels bildet. So war die Anwesenheit des Messias in Israel ein Appell an die Verantwortlichkeit des Volkes Israel, seinen Messias anzunehmen; zugleich war es ein Zeugnis Gottes an Sein auserwähltes Volk. Wir haben gesehen, dass dieses Zeugnis verworfen wurde und dass Israel in seiner Verantwortlichkeit versagte.

Nun haben wir eine weitere Speisung vor uns, die eine Zuwendung in Gnade ist, welche das Volk Israel keinesfalls verdient hatte. Hier haben wir nun sieben Brote vor uns, was wir als einen Hinweis auf die Fülle der Gnade Gottes verstehen können: In allen sieben grossen Zeitabschnitten der Heilsgeschichte hat Er sich den Menschen in Gnade zugewendet. So auch hier. Die Zahl der Fische wird nicht genannt, es sind quasi zahllos viele, wie auch die Gnadenerweise Gottes. Obwohl also diese beiden Speisungen sehr ähnlich geschildert werden, zeigen uns die Details, dass die Aussagen verschieden sind. Wie tiefgründig ist das Wort Gottes!

Vers 35

Und er gebot den Volksmengen, sich auf die Erde zu lagern. Mt 15,35

Manchmal sind es nicht in erster Linie die grossen Taten des HERRN, die Ihn so anziehend für uns machen, sondern kleine Details in Seinem Tun. Als Er den Jüngling in Nain auferweckte, war das ein gewaltiger Machtakt, aber vielleicht wird unser Herz beim Lesen des Berichtes darüber in Lk 7 mehr davon bewegt, wie der Herr Jesus dessen Mutter sah, innerlich bewegt wurde, zu ihr sprach und die Bahre anrührte. Da ist so eine Lieblichkeit in Seinem Handeln, in jeder kleinen Bewegung zu sehen – wie kann man Ihn nicht lieben?

Auch die Speisung von mehreren tausend Menschen in der Einöde ist natürlich aussergewöhnlich gewesen. Aber auch hier sind es die Details, die Ihn uns so kostbar machen. In Mt 14 wird Sein Blick zum Himmel erwähnt und sowohl dort als auch hier finden wir den Befehl an die Volksmengen, sich auf die Erde zu lagern. Hierin erkennen wir die völlige Ruhe des Herrn Jesus in Gott, die Sein Leben so sehr geprägt hat. Nie gab es Anlass zu Eile oder Hektik. Immer hatte Er Zeit für alle Menschen, die zu Ihm kamen, und für alle Dinge, die es zu erledigen galt. Alles war wohlüberlegt, mit dem Vater in den Himmeln abgesprochen. Die Leute sollten es sich hier also zuerst bequem machen, sich ordnen und sich bereit halten. Aber nicht etwa, damit der Herr Jesus dann eine grosse Show abziehen konnte! Das gewaltige Wunder, das Er vollbrachte, geschah still und ohne Aufsehens. Die Volksmengen sollten sich nicht lagern, um Ihn besser zu sehen, sondern einfach nur, damit alles seine Ordnung hatte und alle an ihrem Platz waren, wie es Gott gefällt.

Wir ruhen leider nicht ständig in diesem tiefen Frieden Gottes (den Er uns allerdings schenken will!). Manchmal fehlt uns Zeit, manchmal werden wir hektisch. Wir sollten uns von Zeit zu Zeit selbst prüfen und uns fragen, ob das alles so richtig ist. Wenn wir dem Vater in den Himmeln wirklich voll und ganz vertrauen, haben dann Ängste, Sorgen und das Gefühl, wir müssten jetzt sofort dies oder das tun, weil wir sonst etwas verpassen, einen berechtigten Platz in unseren Herzen?

Vers 36

Er nahm die sieben Brote und die Fische, dankte und brach und gab sie den Jüngern, die Jünger aber gaben sie den Volksmengen. Mt 15,36

Hier sehen wir wiederum einen wichtigen Grundsatz bezüglich des Handelns Gottes, den wir bereits bei der Besprechung von Mt 14 intensiv betrachtet haben: Der Herr Jesus nahm das, was die Jünger Ihm gaben, vermehrte es auf wundersame Weise und teilte es dann wieder durch Seine Jünger aus. So funktioniert echter christlicher Dienst! Die Initiative muss vom HERRN her kommen, was bedeutet, dass wir zunächst einmal hörende Herzen – nicht mehr und nicht weniger! – haben müssen. Dann darf, ja muss uns bewusst sein, dass der Herr Jesus das Wenige, das wir beitragen können, einsetzen will. Unsere eigene Kraft könnte niemals genügen, aber Er will damit arbeiten. Unser Teil ist es, uns Ihm völlig zur Verfügung zu stellen, alles, was wir haben, in Seine Hand zu legen und Ihn damit arbeiten zu lassen. Die Kraft und die Weisheit muss von Ihm kommen, nicht aus uns. Schliesslich sollen wir das, was Er wirkt, zu den Menschen bringen. Nichts könnte einfacher sein, aber die Praxis in der Christenheit zeigt leider, dass es offenbar kaum je gelingt, diese einfachen Grundsätze konsequent zu beachten. Unter Christen geschieht viel zu viel Menschliches und viel zu wenig Göttliches! Leider!

Vers 37

Und sie assen alle und wurden gesättigt; und sie hoben auf, was an Brocken übrig blieb, sieben Körbe voll. Mt 15,37

Und wiederum konnten alle Menschen nach Herzenslust essen, wiederum wurden sie alle satt und wiederum blieb eine gewaltige Menge von Essen übrig. O, Herr! Wie wunderbar ist Deine Gnade, die jeden Morgen neu ist!

Wir sehen hier erneut die Grosszügigkeit des HERRN, denn niemand musste sich einschränken. Es hatte weit mehr als genug, sodass wirklich jeder nach Herzenslust zugreifen konnte. Wenn der HERR gibt, dann nicht «schmörzelig», wie wir sagen würden, also gewissermassen von Geiz geleitet, sondern vielmehr aus Seiner vollen Fülle. Gott liebt den fröhlichen Geber (2.Kor 9,7), denn Er selbst ist der Fröhlichste aller Geber. Andererseits liegt Ihm jede Form von sinnloser Verschwendung fern. Nach dem Essen sah das Gelände nicht so aus, wie die Menschen heute ein Festgelände zurücklassen, nämlich übersät mit weggeworfenen und achtlos zurückgelassenen Dingen. Nein, was übrig blieb, wurde sorgsam eingesammelt und gewiss später weiter verwendet. Obwohl Gott aus einer unvergleichlichen Fülle geben kann, achtet Er doch nichts für wertlos. Wie gehen wir mit den Ressourcen um, die Er uns zur Verfügung stellt?

Die übrig gebliebene Menge füllte sieben Handkörbe. Bei der ersten Speisung waren es zwölf Handkörbe gewesen. Wir haben gesehen, dass sowohl die Zahl Sieben als auch die Zahl Zwölf «Vollzahlen» sind. Sieben Tage ergeben eine Woche; zwölf Stück ergeben ein Dutzend. Die Bedeutung der beiden Zahlen ist aber leicht verschieden. Sieben spricht eher von einer himmlischen oder göttlichen Vollkommenheit, während Zwölf mehr in Verbindung mit Regierung oder Verwaltung respektive mit irdischen Dingen steht. Zwei typische Beispiele können das illustrieren: Israel, das irdische Volk Gottes, setzt sich aus zwölf Stämmen zusammen; die Kirchengeschichte wird in Offenbarung 2 und 3 anhand von sieben Versammlungen vorgestellt. Die zwölf Handkörbe bei der ersten Speisung weisen also eher einen spezifischen Bezug zum Volk Israel auf, was wir bei der Besprechung jener Stelle ja bereits eindrücklich gesehen haben; die sieben Handkörbe, die hier genannt werden, sprechen eher von der «universellen», «vollen» Gnade Gottes, die Er grundsätzlich allen Menschen erweist.

Vers 38

Die aber assen, waren viertausend Männer, ohne Frauen und Kinder. Mt 15,38

Eine weitere, letzte Zahlenangabe weist nochmals auf den Unterschied zwischen den beiden übernatürlichen Speisungen in Mt 14 und 15 hin. Beim ersten Mal hat der Herr Jesus 5.000 Männer plus Frauen und Kinder gespiesen. Fünf ist die Zahl der Verantwortlichkeit. Damals war die Speisung ein Zeugnis des HERRN an Sein Volk Israel, verbunden mit einem Appell an die Verantwortung des Volkes Israel als von Gott auserwähltes Volk. Die Speisung war nicht nur ein Gnadenerweis, sondern auch ein Aufruf, der eigenen Verantwortlichkeit nachzukommen. Bei der zweiten Speisung wurden 4.000 Männer plus Frauen und Kinder gesättigt. Die Zahl Vier weist auf eine Fülle bezüglich der Reichweite hin, was wir am besten mit Blick auf die vier Himmelsrichtungen verstehen. Wir haben hier also nicht einen weiteren Appell an die Verantwortlichkeit der Menschen vor uns, sondern reine Gnade, die zu allen Menschen in allen möglichen Himmelsrichtungen strömt. So ähnlich also die beiden Speisungswunder auf den ersten Blick scheinen, vermitteln sie doch verschiedene Botschaften.

Abschliessend sei erneut darauf hingewiesen, dass diese Ausführungen keinesfalls als eine Einladung dazu verstanden werden sollten, nach «versteckten» Botschaften in der Bibel zu suchen. Auch ohne die Zahlensymbolik hätte man die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Speisungen aufgrund des Textzusammenhangs (Kontextes) feststellen und beleuchten können. Der Hinweis auf die Zahlenangaben war nur dazu gedacht, die Fülle und die perfekte Harmonie des Wortes Gottes in allen möglichen Details etwas ins Rampenlicht zu stellen. Es ging darum zu zeigen, dass die Kernbotschaft der beiden Berichte durch die unwichtig scheinenden Zahlenangaben perfekt unterstrichen werden und dass deshalb sogar solche vermeintlichen Belanglosigkeiten wie Zahlenangaben ihren klar zugewiesenen Platz im vollkommenen Wort Gottes haben.

Vers 39

Und als er die Volksmengen entlassen hatte, stieg er in das Boot und kam in das Gebiet von Magadan. Mt 15,39

Die Volksmengen waren drei Tage lang vom Herrn Jesus unterwiesen, geheilt und von Dämonen befreit worden. Am Ende hatten die Leute sogar noch ein überaus reichhaltiges Mahl erhalten. Was mussten sie dafür geben? Nichts! Kaum waren sie rundum versorgt, entliess der Herr Jesus die Menschen. Das ist Gnade, nämlich eine unverdiente Gunst Gottes. Er gibt, ohne zu fordern. Viele Menschen verstehen das leider nicht. Sie wollen sich bei Gott etwas kaufen, sei es durch gute Werke, durch ein anständiges Leben oder durch die Zugehörigkeit zu einer Kirche. Sie meinen, sie müssten Ihm etwas geben, um im Gegenzug von Ihm etwas zu bekommen. Aber wir sind zu arm, um Gott etwas zu geben, das wirklich von Wert ist! Und Er ist zu reich, um etwas verkaufen zu müssen. Alles, was nötig ist, ist, dass wir mit unserer Not zu Ihm kommen und Ihn bitten. Dann wird Er uns geben. Das ewige Leben als grösste Gabe kann ebenfalls nur geschenkt, nicht gekauft werden.

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