Bibelkommentare

Erklärungen zur Bibel

 

Matthäus 18

Vers 1

In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wer ist denn der Grösste im Reich der Himmel? Mt 18,1

Von den Jüngern des Herrn Jesus können wir einen sehr wichtigen Punkt lernen: Jene Fragen, die sie wirklich beschäftigten, brachten sie zu Ihm. Sie suchten ihre Antworten nicht bei irgendwelchen angesehenen Lehrern oder Ratgebern, in der Philosophie oder wo auch immer, sondern bei ihrem Meister. Das war richtig, denn Er hat alle richtigen Antworten. Zugleich teilten sie damit ihre Herzensanliegen mit Ihm, was für eine Beziehung so unglaublich wichtig ist. In diesem Punkt können wir uns also ein Beispiel an den Jüngern nehmen.

Man mag die Stirn darüber runzeln, dass die wichtige Frage, die die Jünger damals beschäftigte, jene war, wer der Grösste im Königreich Gottes sei. Das klingt nach typischem menschlichen Machtstreben. Natürlich wäre es schöner und edler gewesen, wenn die Herzensanliegen des Herrn Jesus auch die Herzensanliegen der Jünger gewesen wären oder wenn Seine Person ihre Herzen beschäftigt hätte. Aber wir werden sehen, dass der Herr Jesus den Jüngern nicht den Hauch eines Vorwurfs für ihre Frage machte, was bezeichnend ist, denn bei anderen Gelegenheiten hat Er durchaus klar und deutlich getadelt und ermahnt. Die Frage der Jünger war also durchaus berechtigt und angebracht! Leider können viele Christen diesen Gedanken nicht akzeptieren. Sie sind geprägt von einem Denken der Gleichmacherei, d.h. sie denken, der grösste Teil der Menschheit lande in der Hölle, der andere im Himmel, und sowohl in der Hölle als auch im Himmel seien jeweils alle einander gleich. Es gibt aber durchaus Abstufungen. Die Bibel spricht viel über Lohn und über Schaden – und zwar im Zusammenhang mit unserer Treue und unserem Fleiss. Im Königreich Gottes wird es Grössere und Kleinere geben und es ist gut, wenn wir uns damit beschäftigen, wie wir unsere Position positiv beeinflussen können.

Vers 2

Und als Jesus ein Kind herbeigerufen hatte, stellte er es in ihre Mitte Mt 18,2

Die Jünger fragten sich, wer der Grösste im Königreich Gottes sei. Als Antwort darauf nahm der Herr Jesus ein Kind und stellte dieses in die Mitte der Jünger. Das hatten sie gewiss nicht erwartet! Was hatte dieses Kind da zu suchen? Und was hatte dieses Kind mit ihrer Frage zu tun? Die folgenden Verse werden die Antwort auf diese Frage liefern.

Manchmal handelt der HERR für uns unverständlich. Sein Handeln nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar gutzuheissen, selbst wenn wir es nicht verstehen können, fällt uns oft schwer. Da tut es gut, gewissermassen einen Schritt zurück zu machen, ruhig zu werden und sich vor Augen zu führen, dass der HERR so viel höher und erhabener und weiser ist als wir. Wir alle haben eine sehr stark eingeschränkte Sicht auf das Leben. Jeder von uns ist gefangen in Raum und Zeit, in den eigenen Umständen, aber auch in den eigenen Prägungen. Wir haben nie den vollen Überblick! Aber der HERR hat ihn. Er überblickt nicht nur jede Situation vollständig, sondern auch den Lauf der Zeit mit allen Eventualitäten. Er allein kann beurteilen, was alles geschieht, wenn Er irgendwo an einer Schraube dreht. Jemand hat einmal treffend gesagt, dass wir als Kinder Gottes sicher sein dürfen, dass Er jedes unserer Gebete genauso beantwortet, wie wir es tun würden, wenn wir Seine Weisheit, Seine Macht und Seine Liebe hätten. Glauben wir das?

Vers 3

und sprach: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr keinesfalls in das Reich der Himmel hineinkommen. Mt 18,3

Das war nun wirklich erstaunlich! Die Jünger hatten gefragt, wer der Grösste im Königreich Gottes sei, der Herr Jesus hatte ein Kind vor sie gestellt und nun sagte Er, dass man schon gar nicht erst in dieses Königreich komme, wenn man nicht wie ein Kind werde. Wie soll man das nur verstehen?

Die Jünger gingen als Juden mit aller Selbstverständlichkeit davon aus, dass sie alle freien Zugang zum Königreich Gottes hätten, denn dieses Königreich war das kommende Reich für Israel und die Jünger waren ja Israeliten. Ihr Denken war natürlich geprägt vom Gesetz, das der HERR Seinem Volk Israel durch Mose gegeben hatte. Das Gesetz verhiess Segen für Leistung. Also fragten sich die Jünger, was und wie viel sie leisten müssten, um sich eine gute Position im Königreich Gottes sichern zu können. Dieses Denken war nicht verwerflich, wie wir bereits gesehen haben. Es stand sogar wesentlich im Einklang mit dem Geist des Gesetzes Moses.

Der Herr Jesus musste Seinen Jüngern nun zunächst klar machen, dass nicht jeder Israelit automatisch Zugang zum Königreich Gottes hat. Der Zugang erfordert eine Umkehr und nach Joh 3 sogar eine neue Geburt, was bereits in den alttestamentlichen Propheten erwähnt wird (vgl. etwa Hes 11,19).

Hier an dieser Stelle wird nicht genau erklärt, was es mit dieser Umkehr auf sich hat. Aber das beispielhaft in die Mitte gestellte Kind veranschaulicht es: Ein Kind kann keine grosse Leistung erbringen, aber es vertraut maximal, insbesondere seinen Eltern. Der Zugang zum Königreich Gottes hat nichts mit eigener Leistung zu tun, sondern mit Vertrauen oder anders gesagt: mit Glauben. Umkehren muss man, wenn man einen falschen Weg eingeschlagen hat. Die Umkehr, von der der Herr Jesus hier gesprochen hat, beinhaltet ein Umdenken über die eigene Person, den bisher eingeschlagenen Lebensweg und den Stand vor Gott. Sie beinhaltet die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit, Reue über begangene Sünden und ein aufrichtiges Bekenntnis vor Gott, verbunden mit der Bitte um Vergebung und dem Wunsch, es von nun an anders zu tun. Der Mensch, der wirklich erkannt hat, wie verkehrt er mit seinem Weg vor Gott ist, hat auch verstanden, dass er selbst nichts tun kann, um das alles in Ordnung zu bringen. Er muss sein Vertrauen allein auf Gott setzen. Er muss dassselbe Vertrauen zu Gott entwickeln, das so typisch für ein Kind zu seinen Eltern ist.

Vers 4

Darum, wenn jemand sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kind, der ist der Grösste im Reich der Himmel; Mt 18,4

Der Zugang zum Königreich Gottes ist nicht von unserer Leistung abhängig. Er kann nur aus Gnade von Gott geschenkt und im Glauben angenommen werden. Aber doch gibt es innerhalb des Königreiches unterschiedliche Positionen. Es gibt tatsächlich einen «Grössten» im Reich der Himmel. Unsere Position innerhalb des Königreiches ist wiederum abhängig von unserer Haltung. Diesbezüglich haben wir selbst es also in der Hand, was wir erreichen können und was nicht. Das ist unsere Verantwortung.

Zu beachten ist allerdings, dass der Herr Jesus hier nicht über Leistung spricht. Es geht nicht um grosse Taten oder um harte Arbeit, sondern um eine Haltung, die wir einnehmen. Je mehr wir uns nämlich erniedrigen wie ein Kind, umso grösser werden wir im Königreich Gottes sein. Man kann auch sagen, dass der HERR mehr daran interessiert ist, was wir sind, als daran, was wir tun. Natürlich wird sich unsere Haltung in Taten ausdrücken, aber der Fokus liegt nicht auf den Taten, sondern auf unserem Charakter, den wir von Gott formen lassen. Im Prinzip ist es ganz einfach: Je mehr wir bereit sind, uns vom HERRN leiten und formen zu lassen, umso mehr können wir in Bezug auf das Königreich der Himmel erreichen.

Vers 5

und wenn jemand ein solches Kind aufnehmen wird in meinem Namen, nimmt er mich auf. Mt 18,5

O, wie sehr liebt der Herr Jesus doch die Kinder! Er hat nicht nur ein Kind in die Mitte der Jünger gestellt, um ihnen zu zeigen, wie lieb und teuer Ihm die Haltung von Kindern ist, sondern auch, um ihnen zu sagen, dass sie ganz besonders Acht geben sollen auf Kinder. Wer ein Kind in Seinem Namen aufnimmt, nimmt Ihn selbst auf! So wertvoll sind Ihm die Kinder.

Wenn also jemand sich aus Liebe zum HERRN dazu entscheidet, ein Kind aufzunehmen und sich darum zu kümmern, dann rechnet der HERR diese Tat so an, als hätte diese Person Ihm selbst ein Zuhause gegeben und sich um Ihn gekümmert. Das ist eine grossartige Verheissung – und zugleich auch ein wunderschöner Gegensatz zur Haltung in unserer heutigen Leistungsgesellschaft. Bei uns zählt nur, wer Leistung bringt. Kinder, Greise, Kranke und dergleichen werden verachtet und übergangen. Wertvoll sind in unseren Augen nur jene Menschen, die etwas leisten. Beim Herrn Jesus ist es nicht so. Sein Herz schlägt ganz besonders für die Schwachen und für jene, die so oft verachtet oder übergangen werden, wie eben z.B. Kinder. Je besser wir Ihn kennen, umso mehr wird unser Herz im Einklang mit Seinem Herzen schlagen. Es wird sich auch weiten für Menschen, die schwach sind, verachtet oder übergangen werden. Wie heisst es doch im Brief von Jakobus? Ein reiner und vernünftiger Gottesdienst ist dieser: Waisen und Witwen in ihrer Drangsal zu besuchen, sich selbst von der Welt unbefleckt zu erhalten. Uns würden tausend andere Dinge einfallen, die wir als Gottesdienst bezeichnen würden, aber Gott ist der Gott der Waisen und Witwen (der Schwachen) und deshalb gefällt es Ihm, wenn wir ebenfalls ein Herz für Waisen und Witwen haben.

Vers 6

Wenn aber jemand eines dieser Kleinen, die an mich glauben, zu Fall bringt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde. Mt 18,6

An die Verheissung für solche, die Kinder aufnehmen, schliesst sich eine ernste Warnung an solche an, die Kindern schaden. Auch hierin zeigt sich die grosse, unvergleichliche Liebe des Herrn Jesus zu kleinen Kindern. Eltern können diesen Gedanken gut verstehen, denn wenn jemand ihren Kindern Schaden zufügen wollte, würden die Eltern zu brüllenden und reissenden Löwen mutieren, sofern sie ihre Kinder wirklich lieben. Der Herr Jesus drückte sich noch drastischer aus: Für solche, die Kinder schaden wollten, wäre es besser, mit einem schweren Stein um den Hals in der Tiefe des Meeres versenkt zu werden!

Nicht alle «Kleinen» geniessen diesen ganz besonderen Schutz, sondern vor allem die «Kleinen», die an den Herrn Jesus glauben. Das zeigt, dass schon Kinder in jungen Jahren eine Glaubensbeziehung zum Herrn Jesus pflegen können. Als Eltern sollten wir nicht warten, bis die Kinder zu Jugendlichen oder gar Erwachsenen geworden sind, um dann mit ihnen über den Glauben und über den Herrn Jesus zu sprechen. Pflegen wir selbst eine echte Glaubensbeziehung zum Herrn Jesus, wird das auch gar nicht möglich sein, weil das unser Verhalten und unsere Worte von selbst beeinflussen wird, was schon die kleinen Kinder ganz natürlich mitbekommen werden. Wir sollten aber auch aktiv den guten Samen streuen, den Kindern Gottes wunderbares Wort nahebringen und ihnen erklären, wie sie selbst eine aktive Glaubensbeziehung pflegen können.

Vers 7

Wehe der Welt der Anstösse zur Sünde wegen! Denn es ist notwendig, dass Anstösse zur Sünde kommen. Doch wehe dem Menschen, durch den der Anstoss zur Sünde kommt! Mt 18,7

Nachdem der Herr Jesus solche Menschen gewarnt hatte, die «Kleine», die an Ihn glauben, zu Fall bringen, rief Er ein allgemeines «Wehe!» gegen die Welt als Ganzes und gegen jeden Einzelnen aus, und zwar der Anstösse (oder: Fallstricke) zur Sünde wegen.

Mit der Welt ist dabei nicht die gute Schöpfung Gottes, sondern eher das Gesellschaftssystem gemeint. Man könnte auch vom Zeitgeist sprechen, der das Denken der Menschen im Allgemeinen prägt. Die Bibel enthält viele Aussagen bezüglich der «Welt» in diesem Sinne, wovon hier nur wenige kurz angeführt werden: «Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und der Hochmut des Lebens, ist nicht vom Vater, sondern ist von der Welt» (1.Joh 2,16); «der Fürst dieser Welt kommt; und in mir hat er gar nichts» (Joh 14,30; über den Teufel); «den Ungläubigen, denen der Gott dieser Welt den Sinn verblendet hat» (2.Kor 4,4; wieder über den Teufel); «mir aber sei es fern, mich zu rühmen als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt» (Gal 6,14); «der sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat, damit er uns herausreisst aus der gegenwärtigen bösen Welt» (Gal 1,4); «ihr Ehebrecherinnen, wisst ihr nicht, dass die Freundschaft der Welt Feindschaft gegen Gott ist? Wer nun ein Freund der Welt sein will, erweist sich als Feind Gottes» (Jak 4,4); aber auch: «denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat» (Joh 3,16).

Wir sehen also, dass die «Welt» im Argen liegt. Sie ist böse. Ihr Fürst und Gott ist der Teufel. Sie hat den Herrn Jesus gekreuzigt und dadurch ihre Feindschaft gegen Gott gezeigt. Das Kreuz macht klar, dass jeder, der sich zum Herrn Jesus hält, mit der Welt nichts mehr zu schaffen hat. Aber Gott liebt die Welt bzw. die Menschen in ihr, weshalb Er so viele wie nur möglich aus dieser Welt herausreissen und retten will. Wenn wir diese Dinge verstanden haben, ist uns klar, dass die Welt Anstoss zur Sünde gibt. Sünde ist normal in der Welt; man ist sogar stolz darauf («pride» = «Stolz»)! Deshalb verleitet das, was in der Welt ist, auch Gläubige immer und immer wieder zur Sünde. Der HERR wird die Welt dafür richten.

Zugleich sind es aber immer auch einzelne Menschen, die andere zur Sünde verleiten. Wehe auch diesen Menschen! Jeder Mensch ist vor Gott voll verantwortlich für das, was er sagt und tut. Gott wird uns alle, jeden Einzelnen von uns, zur Rechenschaft ziehen. Wir werden uns vor Ihm verantworten müssen, sogar für jedes Wort, das wir gesprochen haben (Mt 12,36).

Aber doch ist es auch so, dass Anstösse zur Sünde kommen müssen. Wie sollen wir das verstehen? Ein Anstoss zur Sünde ist in sich selbst immer etwas Schlechtes und kommt deshalb niemals von Gott. «Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht. Denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, er selbst aber versucht niemand» (Jak 1,13). Allerdings lässt Gott zu, dass Anstösse zur Sünde kommen. Wieso? Weil diese Schwierigkeiten Prüfsteine unseres Glaubens sind. Unser Verhalten in solchen Situationen zeigt, wie unser Glaube beschaffen ist. Aber nur weil Gott das zulässt und gewissermassen zum Besten für uns zu nutzen weiss, heisst das nicht, dass die menschliche Verantwortung aufgehoben wäre. Obwohl es «notwendig» ist, dass Anstösse zur Sünde kommen, heisst es: «Wehe!».

Vers 8

Wenn aber deine Hand oder dein Fuss dir Anstoss zur Sünde gibt, so hau ihn ab und wirf ihn von dir! Es ist besser für dich, lahm oder als Krüppel in das Leben hineinzugehen, als mit zwei Händen oder mit zwei Füssen in das ewige Feuer geworfen zu werden. Mt 18,8

Leider hat die Welt einen Verbündeten, nämlich die in uns wohnende Sünde. Die Sünde (in der Einzahl) ist eine innere Haltung, die jeden von uns prägt, und zugleich auch ein Antrieb, der uns immer wieder dazu bringt, verkehrte Dinge zu denken, zu fühlen, zu sagen und zu tun. Als der Teufel den Herrn Jesus zur Sünde verführen wollte, da gab es im Herrn Jesus absolut nichts, das auf diese Verführung reagiert hätte bzw. angesprungen wäre. In uns gibt es dagegen etwas, das sich nur zu gern verführen lässt, eben die in uns wohnende Sünde. Halten der Teufel und die Welt uns eine Verführung wie einen Magneten hin, wird der Magnet in uns drin darauf reagieren.

Viele Menschen haben gedacht, sie könnten der Sünde entfliehen, wenn sie der Welt entfliehen. Sie sind in die Einöde gezogen oder haben Klöster gegründet, in die sie sich zurückgezogen haben. Das konnte aber zum Vorneherein nicht klappen, denn die in diesen Menschen wohnende Sünde ist immer mitgezogen. Wir können zwar der Welt und der Begierde entfliehen, aber wir müssen wissen, dass die Sünde uns immer begleiten wird, wohin wir auch gehen. Deshalb können wir der Sünde nicht entfliehen.

Für Menschen, die nicht von Neuem geboren sind, die nicht an den Herrn Jesus glauben, wie die Bibel lehrt, ist der Kampf gegen die Sünde aussichtslos. Sie können sich wohl an die Ratschläge des Herrn Jesus halten, die wir hier vorfinden, aber sie werden sie nicht konsequent befolgen können und am Ende doch im ewigen Feuer landen, was schrecklich sein wird. Für sie ist es wichtig zu erkennen, dass sie eine Sündenlast mit sich tragen, die sich ständig weiter vergrössert und die nicht bereinigt ist vor Gott. Diese Erkenntnis wird sie zur Busse führen. Sie werden vor Gott zusammenbrechen, Ihm all ihr Versagen und ihre Schuld bekennen und Ihn um Vergebung bitten. Nehmen sie dann Sein Angebot der Vergebung und Erlösung durch das Kreuz des Herrn Jesus Christus im Glauben an, sind sie gerettet vor dem ewigen Feuer. Mehr braucht es nicht! Aber weniger reicht nicht und einen anderen Weg gibt es nicht.

Für Menschen, die das ewige Leben bereits empfangen haben, bieten die hier vor uns liegenden Ratschläge des Herrn Jesus ebenfalls nicht die definitive Lösung, aber doch eine sehr gute Hilfe auf dem Weg zu einer echten Heiligkeit im Alltag. Die komplette Lösung muss der Verführung durch den Teufel, der Versuchung durch die Welt und dem Wirken der in uns wohnenden Sünde Rechnung tragen. Dem Teufel müssen wir widerstehen, der Welt müssen wir fliehen und die in uns wohnende Sünde müssen wir verleugnen. Hier haben wir nur einen Baustein vor uns, nämlich das der Welt Entfliehen. Wenn wir merken, dass wir in bestimmten Situationen regelmässig verkehrte Dinge tun (davon spricht die Hand) oder dass wir an bestimmten Orten regelmässig in Sünde fallen (davon spricht der Fuss), dann sollten wir alles daran setzen, diese Situationen und Orte zu meiden, und zwar so konsequent wie nur irgend möglich. Landest Du z.B. jedes Mal, wenn Du Deinen PC zuhause startest, irgendwann auf zwielichtigen Seiten, solltest Du Deinen PC entsorgen. Falls das nicht möglich ist, solltest Du ihn nur noch so nutzen, dass jederzeit jemand aus Deiner Familie ungestörte Sicht auf den Bildschirm hat, sodass Du gar keine Chance hast, auf zwielichtigen Seiten zu landen. Oder endet bspw. jeder Barbesuch in einem Vollrausch, solltest Du einfach keine Bar mehr aufsuchen. So können wir der Welt entfliehen und es uns selbst deutlich einfacher machen, nicht immer wieder in Sünde zu fallen.

Vers 9

Und wenn dein Auge dir Anlass zur Sünde gibt, so reiss es aus und wirf es von dir! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben hineinzugehen, als mit zwei Augen in die Hölle des Feuers geworfen zu werden. Mt 18,9

Was uns wohl am meisten Probleme bereitet sind unsere Augen. Die Geschichte von Simson ist diesbezüglich sehr vielsagend. Er musste im wahrsten Sinne des Wortes sogar beide Augen verlieren, um endlich zu seiner Bestimmung zu finden. Jedenfalls haben wir hier nun alles beisammen, was uns in Gefahr bringt und Mühe macht: Mit den Händen tun wir etwas, mit den Füssen gehen wir irgendwo hin und mit den Augen sehen wir. Der Herr Jesus fordert uns also auf, Acht zu geben auf das, was wir tun, auf die Wege, die wir gehen, und auf die Dinge, die wir uns ansehen.

Die Aufforderung, die Hand oder den Fuss abzuhauen bzw. das Auge auszureissen, ist selbstverständlich nicht wortwörtlich zu verstehen. Der HERR fordert uns nicht zur Selbstverstümmelung auf. Aber die Ausdrucksweise soll uns anhalten, äusserst konsequent zu sein. Es ist besser für uns, hier in diesem Leben einen (grossen) Verlust zu erleiden, als das ewige Leben zu verpassen. Leider ist genau dies ein entscheidender Punkt, der viele Menschen davon abhält, den Schritt des Glaubens zu wagen. Sie achten auf das, was sie möglicherweise verlieren könnten, und sie sind nicht bereit, sich davon zu lösen. Sie begnügen sich mit dem Guten und verpassen das Bessere. Nein, mehr noch: Sie treffen die denkbar schlechteste Wahl für eine ganze Ewigkeit! Wer sich nicht im Glauben auf Gott wirft, den erwartet die «Hölle des Feuers»! Das ist ein Ort so voll schrecklicher Qualen, dass wir uns nicht im Geringsten ausmalen können, wie schlimm das sein wird. Der Herr Jesus hat übrigens mehr vor diesem schrecklichen Ort gewarnt, also mehr über die Hölle gesprochen als über den Himmel.

Vers 10

Seht zu, dass ihr nicht eines dieser Kleinen verachtet! Denn ich sage euch, dass ihre Engel in den Himmeln allezeit das Angesicht meines Vaters schauen, der in den Himmeln ist. Mt 18,10

Nochmals betont der HERR, dass wir auf die «Kleinen» ganz besonders Acht geben sollen. In diesem Zusammenhang erwähnt Er etwas, das für uns schwer zu verstehen ist: «Ihre Engel in den Himmeln» würden allezeit das Angesicht des Vaters in den Himmeln schauen. Sicherlich sind es Verse wie dieser, die zur Vorstellung geführt haben, jeder Mensch habe einen persönlichen Schutzengel. Aber kann man diesen Vers so verstehen?

Absolut fundamental für die richtige Auslegung der Heiligen Schrift ist der Grundsatz, dass die klaren Stellen Licht auf die unklaren Stellen werfen – nicht umgekehrt. Das klingt banal, wird aber leider oft nicht beachtet. Die wichtigen Elemente der biblischen Lehre sind in der Bibel an zahlreichen Stellen zu finden. Diese Stellen sind so formuliert, dass sie einfach verständlich sind. Ein kleines Kind kann den Kern des Evangeliums erklären. Eine Lehre, die ihren Ausgangspunkt in einer einzigen Stelle findet, ist schwach begründet und zum Vorneherein fragwürdig. Können nicht mindestens zwei oder drei «Zeugen» (Schriftstellen) angeführt werden, die diese Lehre verständlich und deutlich bezeugen, ist sie zu verwerfen. Noch schlimmer ist es, wenn die eine Schriftstelle, auf die sich eine Lehre stützt, unklar und schwer verständlich ist. Denn pickt sich jemand eine solche Stelle frei heraus, kann er im Prinzip alle möglichen Gedanken in den schwer verständlichen Wortlaut hinein packen. Die Auslegung wird beliebig.

Wir finden nirgends in der Heiligen Schrift den Gedanken, dass ein Mensch einen persönlichen Schutzengel hätte. Diese Stelle hier könnte deshalb eine solche Ansicht nicht hinreichend belegen. Wir bräuchten noch weitere «Zeugen», die es aber nicht gibt. Zudem spricht selbst diese Stelle nicht von «Schutzengeln» und schon gar nicht von persönlichen «Schutzengeln». Der Herr Jesus hat nur in einer allgemeinen Weise gesagt, dass die «Kleinen» Engel in den Himmeln hätten, die allezeit das Angesicht des himmlischen Vaters schauten. Das ist so ähnlich wie mit dem neutestamentlichen Ausdruck «Heilige»: Immer wieder werden echte Christen in der Mehrzahl als «Heilige» bezeichnet (weil sie ja auch heilig, d.h. abgesondert für den HERRN sind), aber nirgends in der Bibel finden wir eine Stelle, in der ein einzelner Christ als ein «Heiliger» bezeichnet würde. Die römisch-katholische Lehre, die von einzelnen Menschen als «Heiligen» spricht, hat also keine biblische Grundlage. Hier haben wir mehrere Engel für mehrere «Kleine» vor uns, aber nicht einen Engel pro Person!

Das Wort «Engel» kommt übrigens vom griechischen Wort «angelos», was so viel wie «Bote» oder «Gesandter» bedeutet. Das entspricht dem hebräischen Wort «Mal’ach», das ebenfalls «Bote» oder «Gesandter» bedeutet und mit «Engel» übersetzt wird. Das beisst sich mit dem Gedanken, je ein Engel sei für einen Menschen abbestellt. Wir müssen da eher an eine Truppe von Engeln denken, die einen bestimmten Einsatzzweck erhalten hat, nämlich zugunsten der «Kleinen» als besondere Personengruppe. So werden diese «Gesandten» von Einsatz zu Einsatz gesandt. Dieser Gedanke ist in der Heiligen Schrift an mehreren Stellen wiederzufinden, denn immer wieder begegnen uns Engel, die zu bestimmten Personen gesandt worden sind, bspw. der Engel, der mit Hagar sprach, die beiden Engel, die Lot aus Sodom gerettet haben, aber auch etwa der Engel Michael, der gemäss den Ausführungen im Buch Daniel für das Volk Israel abbestellt worden ist. Damit ergibt sich ein stimmiges Bild, das sich auf zahlreiche Stellen stützen kann, und nicht eine seltsame Lehre, die in der übrigen Bibel keine Entsprechung findet.

Vers 11

Denn der Sohn des Menschen ist gekommen, das Verlorene zu erretten. Mt 18,11

Auch wenn Engel besonders abbestellt sind, über die «Kleinen» zu wachen, brauchen diese, wie alle anderen Menschen auch, eine Errettung, die nur durch den Herrn Jesus Christus kommen kann. Engel mögen abbestellt sein als Wachen, aber gekommen, um das Verlorene zu erretten, ist der Sohn Gottes. Er allein ist es, durch den Rettung geschehen kann; Er ist der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater als nur durch Ihn (Joh 14,6).

Ein schöner Trost für Eltern von kleinen Kindern ist im kleinen, aber feinen Unterschied zwischen Mt 18,11 und Lk 19,10 zu finden, wo der Herr Jesus fast dasselbe sagt, aber nicht in Bezug auf ein Kind, sondern auf einen Erwachsenen: «Denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist». Jeder Mensch ist von Natur aus «verloren» und jeder Mensch braucht eine Errettung, die nur von aussen, von einem Dritten kommen kann. Aber Erwachsene sind «weiter» vom sicheren Hafen entfernt als Kinder, denn sie müssen zuerst gesucht und dann errettet werden, was bei Kindern nicht der Fall ist.

Wie haben wir das zu verstehen? Wir haben alle die Sünde in uns, wir sind alle Sünder. Man muss selbst den kleinsten Kindern nicht beibringen, sich Befehlen zu widersetzen, neidisch zu sein, zu lügen etc. Die Sünde ist in uns allen vom Tag unserer Geburt an wirksam; wir sind gemäss Ps 51,5 sogar in Sünde empfangen. Deshalb sind wir alle «verloren». Wenn jemand fragt, was ein Mensch tun muss, um die Hölle zu verdienen, müssen wir antworten: Nichts! Das ist die traurige Wahrheit, die uns in Röm 3 so schrecklich deutlich vor Augen gemalt wird. Je älter wir werden, umso ausgeprägter gehen wir unsere eigenen Wege. Wir sind verloren und deshalb entfernen wir uns immer weiter vom Haus des Vaters in den Himmeln. Wie Schafe ohne einen Hirten irren wir ziel- und orientierungslos durch die Gegend, weshalb der Gute Hirte uns nachgehen und uns suchen muss, damit Er uns erretten kann. Bei Kindern ist das hingegen noch nicht so ausgeprägt der Fall. Sie sind bis zu einem gewissen Alter noch gar nicht urteilsfähig, d.h. sie können die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht beurteilen und sind deshalb gar nicht schuldfähig. Das gilt nicht nur in unseren weltlichen Gesetzen, sondern auch bei Gott. Deshalb können sie vom Herrn Jesus einfach so, ohne Weiteres errettet werden. Er muss sie nicht zuerst suchen. Wie tröstlich ist das gerade für Eltern, die kleine Kinder haben!

Vers 12

Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und eins von ihnen sich verirrte, lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen und geht hin und sucht das irrende? Mt 18,12

Wie wunderbar treffend und anschaulich sind doch die Vergleiche und Gleichnisse unseres Herrn Jesus! Um zu zeigen, dass Er sich wirklich auf einer Rettungsmission (auf der Rettungsmission schlechthin!) befunden hat, führte Er ein kleines, direkt aus dem Alltag gegriffenes und selbst für uns heute noch sehr anschauliches Gleichnis an: Ein Mensch, der hundert Schafe hat, wird jedem verirrten Schaf nachgehen und die anderen 99 Schafe dafür kurz zurücklassen. Das leuchtet jedem ein. Genau in dieser Haltung ist der Herr Jesus auf diese Erde gekommen. Er hat nicht die Gemeinschaft mit den 99 Schafen gesucht, die in Sicherheit sind, sondern Er ist gekommen, um zu erretten, was verloren ist. Er wollte Sich nicht im Kreis von Ihm Wohlgesinnten feiern lassen, sondern jenen nachgehen, die Seine Hilfe benötigten. «Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele» (Mk 10,45).

Diesbezüglich ist leider ein grosses Missverständnis weit verbreitet, das massgeblich auf eine entsprechende, falsche Lehre der römisch-katholischen Kirche zurückgeht. Man meint nämlich, man müsse sich die Zuwendung des Herrn Jesus zuerst verdienen. Man müsse sich um ein rechtschaffenes Leben bemühen und wenn man sich bewiesen habe, wende der HERR sich einem zu. Die Bibel lehrt das Gegenteil. Sie spricht (z.B. im Röm 3) ganz klar davon, dass kein Mensch Gott sucht, dass kein Mensch gerecht ist in den Augen Gottes, dass kein Mensch Gottes Zuwendung verdient hat, dass wir alle zu kurz kommen vor Gott. Wie sollten wir uns Seine Zuwendung verdienen können? Kain hat das versucht, aber seine Opfergabe wurde verworfen. Gott nimmt nichts an aus der Hand von Sündern – und wir sind allesamt Sünder.

Aber wie können wir Ihn denn dann finden? Nun, wie war das mit Israel? Israel war als Volk versklavt in Ägypten. In Hes 20,5–8 heisst es, dass Israel nicht etwa dem HERRN, sondern vielmehr den Götzen von Ägypten diente! Das Volk war alles andere als in Ordnung vor dem HERRN. Sie hatten Seine Zuwendung nicht verdient. In Hes 20,8 sagt Er sogar: «Da gedachte ich, meinen Grimm über sie auszugiessen, meinen Zorn an ihnen zu vollenden mitten im Land Ägypten». Aber Er handelte gnädig um Seines Namens willen (Hes 20,9). Das Volk musste nur um Hilfe schreien und Er machte Sich auf, es zu retten! «Gesehen habe ich das Elend meines Volkes in Ägypten, und sein Geschrei wegen seiner Antreiber habe ich gehört; ja, ich kenne seine Schmerzen. Und ich bin herabgekommen, um es aus der Gewalt der Ägypter zu retten und es aus diesem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig überfliesst» (2.Mose 3,7.8). Man muss und man kann sich die Zuwendung Gottes nicht verdienen, aber man kann um Hilfe rufen und wird erhört werden. Gott handelt nicht gütig an uns, weil wir es verdient hätten, sondern weil Er gnädig ist.

Vers 13

Und wenn es geschieht, dass er es findet, wahrlich, ich sage euch, er freut sich mehr über dieses als über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind. Mt 18,13

Freut sich ein Hirte über seine Herde? Was für eine Frage! Natürlich freut sich ein Hirte über seine Herde! Freut sich Gott über die 99 Schafe in Seiner Herde, die in Sicherheit sind? Was für eine Frage! Natürlich freut Er sich über diese Schafe! Aber doch freut Er sich mehr über das hundertste Schaf, das sich verirrt hatte, aber nun wieder gefunden worden ist. Das zeigt uns deutlich, wie überaus gross die Freude Gottes ist, wenn ein Mensch errettet wird. Es ist nicht so, dass der HERR seufzen würde, wenn ein Mensch zu Ihm um Rettung ruft; es lässt Ihn auch nicht einfach kalt, sondern Er ist zunächst innerlich bewegt (Lk 10,33) und dann voll überströmender Freude, wenn Er ein verlorenes Schaf findet. In Lk 15 finden wir die gut bekannte Geschichte vom verlorenen Sohn, aber gleich davor noch zwei weitere kurze Gleichnisse mit einem ähnlichen Inhalt, nämlich jenes von der verlorenen und gefundenen Münze sowie jenes vom verlorenen und gefundenen Schaf. Sehr bezeichnend ist, dass in allen drei Gleichnissen die riesige Freude Gottes deutlich betont wird. Lk 15 ist ein Kapitel der Freude, nicht der Freude von Menschen, sondern der Freude Gottes. Es zeigt uns, wie unser wunderbarer HERR ist!

Vers 14

So ist es nicht der Wille von eurem Vater, der in den Himmeln ist, dass eines dieser Kleinen verloren geht. Mt 18,14

Ja, Gott freut Sich mit einer überfliessenden Freude über jedes verlorene Schaf, das wieder gefunden wird – mit einer Freude, die wir weder in der Tiefe ergründen noch völlig erfassen können. Wir dürfen vielleicht sagen, dass die Errettung von Menschen Sein besonderes Herzensanliegen ist, denn Er nennt Sich selbst einen Heiland- oder Retter-Gott (1.Tim 2,3). Und wenn Seine Freude über jedes wieder gefundene und gerettete Schaf so gross ist, dann liegt auf der Hand, dass es nicht Sein Wille ist, dass auch nur eines verloren geht! Die teilweise verbreitete Ansicht, der HERR habe Menschen zur Verdammnis bestimmt, ist eindeutig unbiblisch. Der Feuersee, die Hölle ist bereitet dem Teufel und seinen Engeln, also eigentlich nicht bestimmt für Menschen (Mt 25,41). Wenn Gott einmal Menschen in die ewige Verdammnis, in die ewige Qual der Hölle senden wird – und Er wird es tun! –, dann quasi contre coeur, also widerwillig. Wie gnädig und gütig ist der HERR! Und ganz besonders am Herzen liegen Ihm die «Kleinen»!

Vers 15

Wenn aber dein Bruder gegen dich sündigt, so geh hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein! Wenn er auf dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen. Mt 18,15

Noch einmal (vgl. Mt 16,18) wollte der Herr Jesus über einen ganz besonderen Gegenstand sprechen, nämlich über die Ekklesia, die «Herausgerufene», diese besondere Gemeinschaft, die sich aus allen echten Christen zusammensetzt, die zusammen den Leib Christi bilden. Den Ausgangspunkt für die zweite und letzte Erwähnung der Ekklesia in den Evangelien bildete nicht eine besondere Offenbarung (vgl. Mt 16,16), sondern etwas nur allzu Alltägliches, nämlich die Frage, wie wir reagieren sollen, wenn ein Bruder oder eine Schwester gegen uns sündigt.

Die Bezeichnung «Bruder» weist hier auf eine Zugehörigkeit zum Zeugnis Gottes hin. Die Apostel redeten ihre Landsleute für gewöhnlich mit «Brüder» an, denn für eine gewisse Zeit hätte das Volk Israel selbst nach der Kreuzigung des Herrn Jesus noch weiterhin das Zeugnis Gottes auf dieser Erde sein können. Doch an die Stelle Israels trat letztlich die Ekklesia als das neue Zeugnis Gottes auf der Erde für diese Gnadenzeit, die bis heute andauert und weiter bis zur Entrückung fortdauern wird. Innerhalb dieses neuen Zeugnisses stehen wir alle zueinander wie Geschwister, wie Brüder und Schwestern. Hier ab Mt 18,15 geht es also nicht darum, dass irgendein Mensch gegen uns sündigt, sondern vielmehr darum, dass jemand aus dieser Gemeinschaft, ein Gläubiger gegen uns sündigt.

Wenn ein Bruder (oder eine Schwester) gegen mich sündigt, dann ist das zunächst einmal eine Sache zwischen ihm und mir – etwas ganz Persönliches. Und genau so soll ich die Sache auch behandeln: Ich soll zu ihm hingehen und ihn zwischen mir und ihm allein zur Rede stellen. Das muss immer der erste Schritt sein. «Wer als Verleumder umhergeht, gibt Anvertrautes preis; wer aber zuverlässigen Sinnes ist, hält die Sache verborgen», heisst es bereits in Spr 11,13. Gelingt es uns, die Sache in einem solcherart vertrauten Rahmen zu klären, haben wir unseren Bruder gewonnen! Und was gibt es Schöneres, als einen Menschen zu gewinnen? Müssen wir nicht unweigerlich an die Ausführungen in den Versen vor Mt 18,15 und an die Freude Gottes über jedes gefundene Schaf denken? Das muss unsere Motivation sein, wenn wir uns anschicken, eine solche Sache zu klären.

Vers 16

Wenn er aber nicht hört, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit aus zweier oder dreier Zeugen Mund jede Sache bestätigt wird! Mt 18,16

Wenn jemand, der an den Herrn Jesus Christus glaubt, gegen mich gesündigt hat, soll ich das Gespräch mit ihm unter vier Augen suchen. Dabei geht es nicht darum, dem anderen den Kopf zu waschen und im eigenen Recht bestätigt zu werden, sondern vielmehr darum, dem anderen die Füsse zu waschen und zu versuchen, ihn zu gewinnen. Die Sache soll so bereinigt werden, dass der HERR geehrt und die ungetrübte Gemeinschaft zwischen uns wieder hergestellt wird.

Doch was soll ich tun, wenn meine Bemühungen nicht fruchten? Selbst in einem solchen Fall darf ich meinen Bruder nicht öffentlich blossstellen. Nein, ich soll weiter versuchen, ihn mittels eines Gesprächs in einem vertrauten Umfeld zu gewinnen. Beim zweiten Versuch soll ich aber nicht mehr das Gespräch unter vier Augen suchen, sondern eine oder zwei weitere Personen mit mir nehmen. Das hat gleich mehrere positive Effekte:

Der Bruder hat zwar erneut die Chance, die Sache in einer vertrauensvollen Atmosphäre zu bereinigen, aber er muss nun den Ernst der Lage erkennen. Es geht nicht mehr länger um eine Sache, die nur ihn und mich betrifft, sondern um etwas, das potentiell die gesamte Gemeinde schädigen könnte. Die zusätzlichen Zeugen machen deutlich, dass die Sache ernst ist und dass sie Kreise ziehen könnte. Zugleich bringen die zusätzlichen Zeugen aber auch eine objektive Sicht in die Diskussion ein, denn immerhin hat ja der Bruder gegen mich gesündigt, was bedeutet, dass mein Urteilsvermögen emotional getrübt sein könnte. Die Zeugen können vermitteln. Der dritte Effekt ist, dass mit einem Gespräch unter Zeugen bereits der Grundstein für ein sinnvolles weiteres Vorangehen gelegt wird, falls der Bruder nicht willens sein sollte, einzulenken. Wenn ich dann nämlich allein (und zudem als direkt Betroffener) vor die Versammlung treten würde, stünde mein Wort gegen das Wort des Bruders, was es der Versammlung praktisch verunmöglichen würde, ein richtiges Urteil zu fällen. Hat aber vorgängig ein Gespräch mit Zeugen stattgefunden, wird die Sache aus zweier oder dreier Mund bestätigt; die Versammlung ist in der Lage, ein richtiges Urteil zu fällen. Wie müssen wir die Weisheit des HERRN bewundern!

Vers 17

Wenn er aber nicht auf sie hören wird, so sage es der Gemeinde; wenn er aber auch auf die Gemeinde nicht hören wird, so sei er dir wie der Heide und der Zöllner! Mt 18,17

Erst wenn ein erstes Gespräch unter vier Augen und ein zweites Gespräch mit Zeugen ergebnislos geblieben sind, darf die Sache «öffentlich» gemacht respektive vor eine Art «Gerichtsinstanz» gebracht werden. Aber wer soll denn urteilen in solchen Dingen? Die Ekklesia, die Herausgerufene, die Versammlung (Gemeinde)! Hier haben wir die zweite von zwei Erwähnungen dieser wundersamen Körperschaft in den Evangelien vor uns; die andere finden wir in Mt 16,18. Das Geheimnis dieser Körperschaft ist erst in den Lehrbriefen des Neuen Testamentes, ganz besonders durch den Apostel Paulus, offenbart worden. Es handelt sich kurz gesagt um die Gesamtheit aller wahren Christen, also all derer, die zwischen Pfingsten und der Entrückung zum lebendigen Glauben an den Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes kommen. Diese «Körperschaft» ist während dieser Zeitspanne das Zeugnis Gottes auf Erden, wie es einst das Volk Israel gewesen ist. Deshalb ist es auch logisch, dass die Gemeinde in Fällen wie dem hier vorgestellten urteilen muss.

Die Gemeinde soll ebenfalls ein (drittes) Gespräch mit dem Bruder führen, der gegen mich gesündigt hat. Sie soll ihn ernstlich ermahnen. Will er aber auch auf die Gemeinde nicht hören, so soll er uns sein wie der Heide und der Zöllner. Wir wissen aus dem Gesetz Gottes für Israel, dass die Israeliten keinen Umgang mit Heiden (also Nicht-Juden) gehabt haben; sie sind ihnen aus dem Weg gegangen. Aus den Evangelien und auch aus den jüdischen Überlieferungen wissen wir, dass die Israeliten auch Zöllner gemieden haben wie die Pest. Wenn uns also jemand wie der Heide und der Zöllner sein soll, bedeutet das, dass wir keinen weiteren Umgang mit ihm pflegen sollen. Eine Person, die nicht einmal auf die Gemeinde hören will, muss aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Damit bringt die Gemeinde gewissermassen zum Ausdruck, dass sie vergeblich versucht hat, ihre Funktion zugunsten des sündigenden Bruders auszuüben, und dass sie diesen Bruder nun völlig in die Hand Gottes übergeben muss. Sie ist mit dem Problem nicht fertig geworden; es ist nun die Sache Gottes.

Vers 18

Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr etwas auf der Erde bindet, wird es im Himmel gebunden sein, und wenn ihr etwas auf der Erde löst, wird es im Himmel gelöst sein. Mt 18,18

In diesem bedeutsamen Vers finden wir die Verwaltungs-Autorität, die der Herr Jesus der Versammlung (ekklesia) gegeben hat: Die Versammlung kann «binden» und «lösen». Was bedeutet das? Diese Ausdrücke sind unter Juden damals bestens bekannt gewesen, denn auch in den Synagogen wurde «gebunden» und «gelöst». Bei schwerer und vorsätzlicher Sünde wurde Einzelnen die Gemeinschaft in der Synagoge verwehrt; sie wurden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das ist «Binden». Diese Personen waren nämlich «gebunden» und damit nicht mehr frei, weiter Gemeinschaft mit den Gläubigen zu pflegen. Taten sie Busse, wurden sie wieder «gelöst». Sie durften wieder in die Gemeinschaft zurückkehren.

Der Versammlung gab der Herr Jesus genau dieselbe Autorität: Die Gläubigen können und müssen für Ordnung sorgen. Das bezieht sich hier (anders als in Mt 16) nicht auf die Versammlung als Ganzes in ihrem universalen Charakter, sondern tatsächlich auf die Versammlung vor Ort, die mit einem konkreten Fall von Sünde konfrontiert ist. Die lokale Gemeinschaft ist dafür verantwortlich, dass Sünde nicht toleriert wird. Es sind nicht einzelne Gläubige, die diese Autorität haben, sondern immer nur die Versammlung als Ganzes.

Das Erstaunliche ist, wie sehr der HERR selbst Sich zu solchen Entscheidungen stellt: Was auf der Erde gebunden und gelöst wird, wird auch im Himmel gebunden bzw. gelöst. Wir handeln hier tatsächlich als Sein Leib, quasi stellvertretend für Ihn. Das sollte uns aber auch etwas Furcht einjagen, denn unsere Entscheidungen haben weitreichende Folgen; sie wiegen schwer und dürfen daher niemals leichtfertig gefällt werden.

Vers 19

Wiederum sage ich euch: Wenn zwei von euch auf der Erde übereinkommen, irgendeine Sache zu erbitten, so wird sie ihnen werden von meinem Vater, der in den Himmeln ist. Mt 18,19

Die Versammlung (ekklesia), also die Gemeinschaft aller wahren Gläubigen, hier in ihrer lokalen Ausprägung, hat nicht nur Verwaltungs-Autorität. Ihr gelten weitere, besonders kostbare Verheissungen, von denen wir in diesem und im nächsten Vers zwei vor uns haben dürfen. Die erste Verheissung ist die Verheissung von Gebetserhörungen (Mt 18,19). Natürlich erhört Gott jedes Gebet jedes einzelnen Gläubigen. Zwar erhalten wir nicht immer das, worum wir bitten, aber wir dürfen, wie es jemand einmal so treffend ausgedrückt hat, wissen, dass der HERR jedes unserer Gebete so erhört, wie wir es tun würden, wenn wir Seine Macht, Seine Weisheit und Seine Liebe hätten. Verdient haben wir das natürlich nicht. Aber wir wissen ja, dass der Vater jede Bitte Seines geliebten Sohnes Jesus Christus erhört. Wie könnte Er Ihm etwas abschlagen?! Und wir als Gläubige sind in Christo Jesu. Wir stehen vor dem Vater wie Er selbst. Deshalb wird Er uns auch alles mit Seinem Sohn schenken (Röm 8,32).

Doch die Versammlung ist nochmals etwas ganz Besonderes. Sie ist mehr als die Summe ihrer Glieder; sie hat biblisch gesehen so etwas wie eine eigene Persönlichkeit. So ist sie bspw. die Braut des Lammes. Wir als Einzelne sind nicht die Braut des Lammes, aber die Versammlung als Ganzes ist es. Wir sind als Einzelne Steine am Haus Gottes, aber die Versammlung ist das Haus Gottes. Und so hat die Versammlung als Ganzes auch eigene Verheissungen, wie diese hier in Mt 18,19, dass nämlich der Herr Jesus Bitten der Versammlung in besonderer Weise erhören wird. Ist das nicht ein besonders guter Grund, die Gebetszusammenkünfte zu besuchen?

Vers 20

Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte. Mt 18,20

In diesem überaus bedeutsamen Vers haben wir nun eine zweite, grossartige Verheissung für die Gemeinde (Versammlung) vor uns, nämlich die Gegenwart des Herrn Jesus. Wo man sich in Seinem Namen oder zu Seinem Namen hin versammelt, da ist Er selbst in der Mitte! Aber was heisst: in Seinem Namen? Schon im Alten Testament hat Gott verheissen, Seinen Namen im Tempel zu Jerusalem wohnen zu lassen (vgl. etwa 5.Mose 12,5). Der Name steht für Identität; er sagt, wer wir sind. Wenn jemand mich fragt, wer ich sei, antworte ich mit meinem Namen. Wenn jemand in einer Menschenmenge meinen Namen ruft, fühle ich mich persönlich angesprochen. Der Name Gottes spricht also davon, wer Gott selbst ist. Sich zu Seinem Namen hin zu versammeln bedeutet nicht, dass man eine Formel spricht oder eine Formalität beachtet, sondern vielmehr, dass man den aufrichtigen Wunsch hat, vor Ihn zu treten, Ihn selbst, wie Er ist, zu suchen, sich nach Ihm auszustrecken.

Wo also Gläubige mit dem Ziel zusammen kommen, dem Herrn Jesus zu begegnen, da tritt Er in ihre Mitte. Wie genial! Haben wir nicht alle schon oft die Jünger etwas beneidet, von denen wir z.B. in Joh 20 lesen, was für eine schöne Gemeinschaft sie mit dem auferstandenen HERRN haben durften? Aber haben wir je bedacht, dass wir genau dasselbe Vorrecht haben? Immer und immer wieder? Natürlich können wir den Herrn Jesus nicht sehen und nicht berühren, aber im Geiste ist Er genauso gegenwärtig, wie Er es damals gewesen ist. Wir dürfen uns genauso mit Seinen Wundmalen beschäftigen wie die Jünger damals. Er bringt uns genau denselben Frieden in unsere Mitte wie den Jüngern damals. Wo man sich zu Seinem Namen hin versammelt, da ist Er echt und völlig gegenwärtig. Das ist eine der grössten Verheissungen überhaupt!

Erstaunlich ist, dass der Herr Jesus sogar die Mindestzahl genannt und diese überaus tief angesetzt hat: Es reicht bereits, wenn nur zwei oder drei mit dem Ziel zusammenkommen, Ihm zu begegnen! Was für ein grosser Trost für Zeiten wie diese, wo sich nur noch so wenige finden, die diesen Wunsch haben! Bei den Juden kann eine Synagoge nicht gebildet werden, wenn sich weniger als zehn Männer finden. Bei uns genügen zwei oder drei!

Vers 21

Dann trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal? Mt 18,21

Wenn ein Mensch gegen einen anderen Menschen sündigt, dann sind anschliessend beide gefordert, etwas zu tun, damit die Sache richtig bereinigt werden kann. Jener, der gesündigt hat, muss seine Tat bereuen und um Vergebung bitten. Damit haben wir uns bei der Betrachtung der vorhergehenden Verse beschäftigt. Aber auch der andere muss etwas tun. Er muss nämlich seinem Bruder, der gegen ihn gesündigt hat, vergeben. Petrus stellte die passende Anschlussfrage: Wie oft müssen wir vergeben? Es gibt nämlich Fälle, in denen sich ein Unrecht immer und immer wieder wiederholt. Gerade in engen Beziehungen (Ehepartner, Geschwister, sehr nahe Freunde etc.) kommt es leider oft vor, dass man immer wieder dieselben Fehler macht bzw. sich an immer denselben Punkten reibt. Reicht es da, bis siebenmal (eine Vollzahl!) zu vergeben? Gibt es einen Punkt, an dem wir als Christen sagen können, nun sei es genug, es reiche?

Vers 22

Jesus spricht zu ihm: Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal! Mt 18,22

Was für ein Wort aus dem Munde des Sohnes Gottes! Wir alle hätten so gern gehört, dass es genüge, jemandem siebenmal zu vergeben, aber das würde der Vergebung, die der HERR selbst jedem von uns anbietet, nicht einmal ansatzweise gerecht werden. Der HERR vergibt uns bedingungslos und endlos. Deshalb sollen auch wir die Bereitschaft entwickeln, unseren Nächsten gegenüber eine weitestgehend unbegrenzte Vergebungsbereitschaft zu entwickeln. Selbstverständlich ist die Meinung nicht, dass wir jedes einzelne Mal, da wir jemandem vergeben müssen, zählen und dann nach 490 Vergebungen aufhören zu vergeben. Die grosse Zahl soll vielmehr auf eine unbegrenzte Vergebungsbereitschaft hindeuten.

Allerdings ist nichts im Wort Gottes zufällig oder belanglos. Jedes Wort ist siebenfach gereinigt (Ps 12,7). Weshalb lesen wir hier also von siebzigmal siebenmal? Nun, dieser Ausdruck kommt an zwei weiteren Stellen in der Bibel vor: In 1.Mose 4,23.24 lesen wir von einem Nachkommen Kains namens Lamech, der für sich eine siebenundsiebzigfache Rache einforderte, was in der ältesten Übersetzung des Alten Testamentes (der sogenannten Septuaginta) als «siebzigmal sieben» übersetzt worden ist, also genau derselbe (griechische) Ausdruck wie hier in Mt 18,22. Das ist sehr bezeichnend, weil wir damit einen Gegensatz zwischen der allzu menschlichen Forderung nach umfassender Rache für geschehenes Unrecht einerseits und andererseits der umfassenden Gnade Gottes sehen.

Ein weiteres Mal finden wir «siebzigmal siebenmal» in Dan 9,24ff. Dabei geht es um eine Zeit von siebzigmal sieben Jahren, in der Jerusalem gewissermassen seine Schuld bei Gott abbezahlen muss. Hier sehen wir die göttliche Gerechtigkeit und ihren Preis. Die Stadt Jerusalem wird diesen Preis voll und ganz bezahlen müssen; sie hat bereits 69 dieser 70 Jahrwochen abbezahlt. Aber ein einzelner Mensch kann unmöglich einen solch hohen Preis bezahlen, weshalb ihm vom Sohn Gottes selbst eine volle Vergebung vorgestellt wird.

Vers 23

Deswegen ist es mit dem Reich der Himmel wie mit einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. Mt 18,23

Um die Bedeutung der Vergebung klar zu machen und um zu zeigen, welche Haltung wir grundsätzlich gegenüber unseren Nächsten einnehmen sollen, folgt hier ein sehr aussagekräftiges Gleichnis. Schon der erste Satz rückt Einiges zurecht. Wenn wir über Vergebung nachdenken, denken wir nämlich in aller Regel nur an das Verhältnis zwischen Menschen. Dieses Verhältnis ist aber nur zweitrangig. Wenn wir über Vergebung nachsinnen wollen, müssen wir zuallererst an Gott denken. Wie alle Aspekte unserer zwischenmenschlichen Beziehungen hängt nämlich auch die Vergebung, die wir einander gewähren, entscheidend davon ab, wie es zwischen uns und Gott steht.

Aus diesem Grund ist es auch ein fataler Fehler, dass der christliche Glaube oft zu einer reinen Moralordnung abgewertet wird. Wir sprechen viel über die sog. goldene Regel, dass wir nämlich unsere Nächsten so behandeln sollen, wie wir selbst behandelt werden sollen. Dabei vergessen wir, dass dafür zuerst das Verhältnis zwischen uns und Gott geregelt sein muss, denn das erste und grösste Gebot ist nicht diese goldene Regel, sondern die Aufforderung, den HERRN aus ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben. Täuschen wir uns nicht! Echten Frieden zwischen Menschen kann es nur geben, wenn Menschen Frieden mit Gott haben. Echte Liebe zwischen Menschen kann es nur geben, wenn Menschen von der Liebe Gottes erfüllt sind. Echte Vergebung gibt es nur, wenn Menschen die Vergebung Gottes empfangen haben.

Das Gleichnis muss folglich mit dem König beginnen, der Abrechnung hält. Es geht nicht um zwei Knechte und ihre zwischenmenschlichen Probleme, sondern zuerst einmal um den König und seine Knechte. Das Gleichnis bezieht sich denn auch auf das Königreich der Himmel. Wir haben es hier nicht in erster Linie mit der ekklesia, dem Leib Christi, dieser besonderen Gemeinschaft aller wahren Gläubigen und dem Herrn Jesus, sondern mit dem neuen Zeugnis Gottes auf dieser Erde zu tun, mit dem, woran die Menschen denken, wenn sie den Begriff Christentum hören. Dazu gehören nicht nur alle wahren Gläubigen, sondern alle, die sich Christen nennen, auch wenn sie es gar nicht sind. Innerhalb dieses Bereichs regiert Gott. Wir haben es also mit Seinen Regierungswegen zu tun. Das ist wichtig zu betonen, weil es am Ende des Gleichnisses nicht darum geht, dass ein echter Christ sein ewiges Heil verlieren kann, sondern vielmehr darum, dass unser Handeln Konsequenzen hat – unabhängig davon, ob wir Christen sind oder uns nur Christen nennen.

Vers 24

Als er aber anfing abzurechnen, wurde einer zu ihm gebracht, der zehntausend Talente schuldete. Mt 18,24

Einer der Knechte schuldete seinem König eine ungeheure Summe, nämlich zehntausend Talente. Ein Talent entsprach 6.000 Drachmen respektive 4.500 Denar. Ein Denar war der Tageslohn eines Arbeites (Mt 20,2). Dieser Knecht schuldete seinem König also 45 Millionen Tageslöhne! Das übersteigt jede Vorstellungskraft. Klar ist, dass dieser Knecht seine Schuld beim König unmöglich je hätte begleichen können.

So steht es letztlich zwischen jedem Menschen und Gott. Als unser Schöpfer hat Gott jedes nur erdenkliche Anrecht auf alles von uns. Doch wir verwehren Ihm, was Ihm zusteht, indem wir eigene Wege gehen und Seinen Willen missachten. Das tun wir alle und das ist uns allen auch nur zu gut bewusst. Während wir in der Regel dazu neigen, unsere Schuld klein zu reden, zeigt uns das Wort Gottes schonungslos auf, dass unsere Schuld überaus schwer wiegt. Sie ist so gross, dass niemand von uns sie jemals abzahlen könnte. Du kannst ab sofort ein Leben ganz nach den Geboten Gottes führen (wobei Du jedoch ohnehin immer wieder scheitern und versagen wirst!), aber selbst wenn Du noch jung bist, kannst Du damit die Schuld, die Du bis heute beim HERRN angehäuft hast, niemals begleichen. Du und ich, wir sind beide wie dieser Knecht, der seinem König eine gewaltige Summe schuldete, die er selbst im besten Fall niemals auch nur ansatzweise hätte bezahlen können.

Vers 25

Da er aber nicht zahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und die Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen. Mt 18,25

Wie hätte der Knecht seine unvorstellbare Schuld bezahlen können? Er konnte es nicht. Es war unmöglich. Sollte der König nun seine Forderung als uneinbringlich abschreiben, einfach auf das Geld verzichten? Nein! Die Forderung war rechtmässig und musste beglichen werden, wie auch immer. Der König befahl deshalb, den Knecht, dessen Frau, die Kinder und allen Besitz zu verkaufen. Selbst das hätte die Schuld nicht ansatzweise beglichen, aber immerhin hätte der König so alles eingebracht, was einzubringen war.

Wir können uns nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie gross unsere Schuld bei Gott ist. Ebenso unvorstellbar ist die Konsequenz, die wir zu tragen haben, wenn wir unsere Schuld nicht begleichen, nämlich niemals endende Qualen, die deshalb kein Ende nehmen werden, weil sie niemals ausreichen, um unsere ganze Schuld zu begleichen. Das sprengt jede Vorstellungskraft.

Vers 26

Der Knecht nun fiel nieder, bat ihn kniefällig und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, und ich will dir alles bezahlen. Mt 18,26

Wie sollte der Knecht auf den Befehl des Königs reagieren? Sollte er geltend machen, dass die Forderung gar nicht bestehe oder dass es ungerecht sei, ihn so zu behandeln? Nein! Der Knecht wusste ganz genau, was er dem König schuldete, und er wusste ebenso genau, dass der König alles Recht der Welt hatte, ihn, seine Frau, die Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen. Jeder Mensch, der einmal vor Gott erscheinen muss, wird spätestens dann nur zu gut wissen, wie hoch seine Schuld ist und was die Gerechtigkeit fordert. Vor dem Thron Gottes wird es keine Widerrede und keine Einwände geben. Die Menschen werden so völlig überführt werden, dass sie zu allem Ja und Amen werden sagen müssen.

Für den Knecht gab es nur noch eins: Er bat um Gnade! Er wusste, wie gross seine Schuld war, und er wusste, was die Gerechtigkeit forderte. Deshalb bat er um eine unverdiente Gunst, um Gnade. Früher kannte man im weltlichen Recht noch die Todesstrafe und die Begnadigung. Zwei Begebenheiten aus jener Zeit sollen uns das Wesen von Gnade verständlicher machen:

Napoleon Bonaparte verurteilte einmal einen Soldaten wegen eines Vergehens zum Tode. Die Mutter des Soldaten wandte sich in einem Brief an Napoleon und bat ihn, ihren Sohn zu begnadigen. Napoleon antwortete sinngemäss, dass ihm kein einziger Grund einfiele, der eine Begnadigung rechtfertigen könnte. Daraufhin schrieb die Mutter erneut; sie wandte sich mit einer Frage an Napoleon: Ist nicht gerade dies das Wesen der Gnade? Dem musste Napoleon zustimmen. Gnade bedeutet nicht, dass das Urteil revidiert werden müsste, sondern vielmehr, dass das Urteil bestehen bleibt, aber aus einer unverdienten Gunst heraus nicht vollzogen wird.

In den USA wurden zwei Verbrecher zum Tod am Galgen verurteilt. Einer der beiden wandte sich mit einem Begnadigungsgesuch an den Gouverneur, der in der Folge beide Verbrecher begnadigte. Jener Verbrecher aber, der kein Begnadigungsgesuch gestellt hatte, machte geltend, er habe nicht um Begnadigung ersucht und er wolle die Begnadigung deshalb auch nicht annehmen. Das oberste Gericht musste sich schliesslich mit der Frage beschäftigen, was in einem solchen Fall zu tun sei. Die Richter erkannten zu Recht, dass eine Begnadigung nur wirksam sein kann, wenn sie akzeptiert wird. Da der Verbrecher die Begnadigung nicht akzeptiert hatte, konnte er nicht begnadigt werden. Er wurde am Galgen gehängt.

Vers 27

Der Herr jenes Knechtes aber wurde innerlich bewegt, gab ihn los und erliess ihm das Darlehen. Mt 18,27

Die göttliche Gnade ist etwas Erstaunliches und Wundervolles. Sie ist nicht auf etwas Liebenswertes in jener Person angewiesen, der sie sich zuwendet, sondern sie findet ihren Grund und ihre Fülle allein in dem, was Gott in Sich selbst ist. Es genügt, wenn ein Mensch sich in seiner Not oder Verzweiflung an den HERRN wendet, wenn er Ihn um Hilfe anfleht, zu Ihm ruft. Da kann das Herz Gottes nicht ruhig bleiben, wenn wir das in aller Ehrfurcht so ausdrücken dürfen. Wir lesen hier in Mt 18,27 etwas ganz Besonderes, das absolut typisch für Gott ist: Er wurde innerlich bewegt. Diesen Ausdruck finden wir nur in den drei Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas. Fast alle Stellen, die davon sprechen, beziehen sich auf den Herrn Jesus Christus (Mt 9,36; Mt 14,14; Mt 15,32; Mt 20,34; Mk 1,41; Mk 6,34; Mk 8,2; Lk 7,13 und Lk 10,33), aber zwei Stellen sprechen auch davon, dass der Vater in den Himmeln innerlich bewegt wird, nämlich die hier vor uns liegende Stelle und Lk 15,20 aus dem bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Doch damit nicht genug! Der König im Gleichnis war nicht nur innerlich bewegt. Er hatte nicht nur Mitleid mit dem Knecht. Oft befinden wir selbst uns ja in einer Situation, in der wir zwar Mitleid mit jemandem haben, der Person aber nicht wirklich helfen können. Doch der HERR kann! Und Er will! Was der Knecht schuldete, schuldete er dem König. Der König konnte mit seiner Forderung machen, was immer er wollte. Also konnte er auch darauf verzichten. Und das tat er! Er erliess seinem Knecht die unglaubliche Schuld von 45 Millionen Tageslöhnen! Wie gewaltig gross ist diese Gnade!

Der HERR kann und will uns auch unsere Schuld Ihm gegenüber erlassen. Er kann das tun, weil es Seine Forderung ist, mit der Er tun und lassen kann, was Er will. Doch Er hat noch wunderbarer gehandelt als der König im Gleichnis, denn Er hat einen Stellvertreter – Seinen eigenen, geliebten Sohn – die gesamte Schuld bezahlen lassen. Jeder, der im Glauben für sich in Anspruch nimmt, dass ein Anderer, der Herr Jesus Christus, für ihn bezahlt hat, darf nicht nur auf Gnade hoffen. Nein, Gottes Gerechtigkeit fordert nun, dass seine Schuld als bezahlt betrachtet werden muss! Sonst würde der HERR ja Seine Forderung doppelt eintreiben, was ungerecht wäre. «Er hat den Schuldschein gegen uns gelöscht …, indem er ihn ans Kreuz nagelte» (Kol 2,14). Von uns ist nichts mehr gefordert, als dass wir unsere Schuld einsehen, zugeben und uns im Glauben an Gott wenden, Ihn um Gnade bitten und unser Vertrauen darauf setzen, dass Er und nur Er allein unser Problem lösen und unsere Schuld begleichen wird.

Vers 28

Jener Knecht aber ging hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war. Und er ergriff und würgte ihn und sprach: Bezahle, wenn du etwas schuldig bist! Mt 18,28

Der König hat seinem Knecht gerade die unvorstellbare Summe von 45 Millionen Tageslöhnen erlassen, da begegnet dieser Knecht einem Mitknecht, der ihm 100 Tageslöhne schuldete, also weniger als 0,0002 Prozent der Summe, die ihm gerade erlassen worden war. Ein Geschäftsmann würde sich jetzt natürlich auf den Standpunkt stellen, dass die eine Schuld nichts mit der anderen zu tun habe, und das ist tatsächlich so. Aber ist es nicht beelendend, wenn wir lesen, dass der gerade erst von einer unvorstellbaren Schuldenlast befreite Knecht seinen Mitknecht würgt und ohne Gnade anhält, seine Schuld zu begleichen? Das ist keine freundliche Erinnerung an eine bestehende Schuld gewesen, sondern eine kalte, hartherzige letzte Mahnung! Das wirft natürlich die Frage auf, ob denn der Knecht so rasch vergessen habe, was er gerade selbst erleben durfte. Wie kann man um Gnade flehen, Gnade finden und dann bei der nächstbesten Gelegenheit keinerlei Gnade walten lassen? Da stimmt doch etwas nicht!

Vers 29

Sein Mitknecht nun fiel nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, und ich will dir bezahlen. Mt 18,29

Der Mitknecht des gerade begnadigten Knechtes wollte seine Schuld bezahlen, aber er konnte seiner Verpflichtung im Moment nicht nachkommen. Er bat nicht um einen Schuldenerlass, sondern nur um einen Aufschub. Seine Worte waren fast genau identisch mit jenen Worten, die der begnadigte Knecht an den König gerichtet hatte. Es fehlen nur die Anrede «Herr» und das Wörtchen «alles» (vgl. V.26). Ob der Mitknecht wohl Zweifel daran hatte, seine Schuld von etwa einem Drittel eines Jahreslohnes jemals komplett bezahlen zu können? Der begnadigte Knecht, der dem König 45 Millionen Tageslöhne geschuldet hatte, die er nie im Leben hätte bezahlen können, hatte jedenfalls die Vermessenheit gehabt zu behaupten, er werde «alles» bezahlen. Was für eine Verblendung!

Die Bitte des Mitknechtes hätte jedenfalls sofort ins Herz des gerade begnadigten Knechtes dringen müssen. Hatte er sich nicht in seiner Verzweiflung mit genau denselben Worten an den König gewendet und musste die ihm widerfahrene Gnade nicht noch frisch im Herzen sein? Wie hätte er seinem Mitknecht eine barsche, ablehnende Antwort geben können! Es wäre sein gutes Recht gewesen, die Schuld nicht zu erlassen, aber sein Mitknecht bat ihn ja auch nicht um einen Erlass, sondern nur um einen Aufschub. Kein Mensch käme auf die Idee, dass er diese Bitte hätte abschlagen können. Oder etwa doch? Der folgende Vers wird es zeigen.

Vers 30

Er aber wollte nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe. Mt 18,30

Der Knecht, dem die unvorstellbar grosse Schuld von 45 Millionen Tageslöhnen erlassen worden war, der also aus reiner Gnade einen Erlass einer Schuld erhalten hatte, die er nie im Leben hätte begleichen können, war nicht einmal bereit, seinem Mitknecht einen Zahlungsaufschub bezüglich einer vergleichsweise lächerlich kleinen Schuld zu gewähren. Ohne jede Gnade liess er ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt habe! Wir sind fassungslos, wenn wir das so lesen, und wir fragen uns, wie ein Mensch sich so verhalten kann.

Leider gleichen wir alle zumindest hin und wieder diesem Knecht. Wenn wir an den Herrn Jesus Christus glauben, wie die Bibel sagt, dann ist uns eine ebenso unvorstellbar grosse Schuld erlassen worden wie diesem Knecht. Dann hat der HERR selbst uns all unsere Sünden vergeben, was (ob es uns bewusst ist oder nicht) ein unvorstellbar grosser Schuldenerlass ist. Wie klein ist doch im Vergleich dazu die Schuld unserer Mitmenschen uns gegenüber! Sie mögen uns tief verletzen und uns wirklich böse Dinge antun, aber die Schuld, die sie damit anhäufen, ist im Vergleich zu jener Schuld, die Gott uns erlässt, lächerlich gering. 0,0002 Prozent! Doch wir tun uns so schwer damit, unseren Mitmenschen zu vergeben, wenn sie uns darum bitten! Wir können kaum über unseren Schatten springen und leider bleiben wir manchmal dabei, dass wir nicht vergeben wollen. Dann verhalten wir uns aber genau gleich wie dieser böse Knecht im Gleichnis. Haben wir uns das schon einmal bewusst gemacht? Das wäre nämlich heilsam für uns!

Vers 31

Als aber seine Mitknechte sahen, was geschehen war, wurden sie sehr betrübt und gingen und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Mt 18,31

Die übrigen Knechte sahen, was geschehen war. Wir denken oft, dass das, was wir tun, privat sei oder verborgen gehalten werden könne. Manchmal scheint uns das auch zu gelingen. Aber die Wahrheit ist, dass gerade bei wahren Gläubigen alles, was passiert, im göttlichen Licht geschieht. Wir sind bei unserer Bekehrung von der Finsternis zum Licht gekommen und nun ist alles bloss und offenbar vor den Augen Gottes. Zudem sind wir in den Leib Christi eingefügt worden, sodass wir nicht mehr uns selbst, sondern IHM leben. Als Glieder am Leib Christi agieren wir nicht autonom, sondern als ein Teil eines Gefüges, das organisch zusammengehört. Was ein Christ in seinem Privatleben tut, hat Konsequenzen für die ganze (universale) Gemeinde. Das sind sehr ernste Gedanken. Es ist aber wichtig, dass wir uns diese Gedanken machen, denn sie werden uns davon abhalten, leichtfertig zu sündigen oder zu meinen, wir könnten im Verborgenen tun und lassen, was wir wollten.

Die Mitknechte sahen also, was geschehen war, und sie wurden darüber sehr betrübt. Das ist nur allzu verständlich, denn das Verhalten des begnadigten Knechtes gegenüber seinem Mitknecht ist einfach nur traurig und beelendend. Griffen nun die Mitknechte ein? Mischten sie sich in die Sache zwischen ihren beiden Kollegen ein? Nein, nicht direkt! Sie berichteten ihm Herrn alles, was geschehen war. Wie schön!

Wir tendieren dazu, selbst aktiv werden zu wollen. Wenn wir irgendwo ein Problem sehen, liegt es uns am nächsten, uns einzumischen und selber tätig zu werden. Das ist nicht immer gut. Was aber immer gut ist, ist Folgendes: Zum HERRN gehen und Ihm alles sagen. Das sollte zu unserem ersten reflexartigen Impuls werden. Es ist immer richtig, sich zuerst im Gebet an den HERRN zu wenden, Ihm alle Last und Not zu Füssen zu legen und Rat bei Ihm einzuholen. Er wird uns zeigen, ob wir in einem zweiten Schritt aktiv werden oder aber die Sache Ihm überlassen sollen. In dieser bewusst gelebten Abhängigkeit von Ihm können wir gute und richtige Entscheidungen in allen Fragen des Lebens treffen.

Vers 32

Da rief ihn sein Herr herbei und spricht zu ihm: Böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich batest. Mt 18,32

Der König führt nun dem hartherzigen Knecht vor Augen, wie böse sein Verhalten gewesen ist. Auf die blosse Bitte des Knechtes hin hatte der König ihm seine ganze Schuld erlassen. Wie gut und wie grosszügig ist doch dieser König, ist doch Gott! Wir müssen Ihm gar nichts bringen (wir können Ihm auch gar nichts bringen), aber wenn wir Ihn aufrichtig bitten, erlässt Er uns unsere ganze Schuld ohne Wenn und Aber. Je mehr uns bewusst ist, wie gross unsere Schuld ist, je schwerer die Last wiegt, die wir mit uns tragen, umso glücklicher werden wir über diesen Schuldenerlass sein. Ein Pharisäer hat seine Schuld einmal völlig unterschätzt. Er wollte zwar den Herrn Jesus bei sich haben, aber offenbar war er der Meinung, er könne dem Herrn der Herrlichkeit mehr geben, als er von Ihm empfangen könne! Er verweigerte dem Herrn sogar die grundlegendsten Zeichen von Gastfreundschaft! Deshalb erklärte der Herr ihm, dass die Liebe eines Menschen zu Ihm davon abhängt, wie viel dem Menschen vergeben worden ist (Lk 7,47). Das bezieht sich nicht nur darauf, wie gross die Schuld des Menschen objektiv gewesen ist, sondern auch darauf, wie sehr uns unsere Schuld überhaupt bewusst ist. Wer meint, ihm müsse nicht viel vergeben werden, der wird nicht viel lieben. Der hartherzige Knecht im Gleichnis erachtete seine Schuld beim König offenbar als nichts allzu Schwerwiegendes, während ihm die Schuld, die ein Mitknecht bei ihm hatte, überaus gross vorkam. Er schätzte alles falsch ein und lag deshalb in seinem Urteil auch falsch. Darin zeigte sich eine Haltung, die der König unumwunden mit einem Wort bezeichnete: Böse!

Vers 33

Solltest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmt haben, wie auch ich mich deiner erbarmt habe? Mt 18,33

Wieso bezeichnete der König den Knecht als böse? Der Knecht hatte das Recht, die Schuld seines Mitknechtes einzutreiben. Er tat nichts Ungesetzliches. Aber doch war sein Verhalten böse. Wieso? Weil er für sich selbst haben wollte und annahm, was er anderen nicht einmal ansatzweise gönnte. Den Erlass seiner eigenen, gewaltigen Schuld hatte er nur zu gerne aus dem Mund des Königs angenommen, aber für die sehr viel geringere Schuld seines Mitknechtes wollte er nicht einmal einen Zahlungsaufschub gewähren! Er appellierte an ein weiches Herz, wenn es um seine eigenen Interessen ging, aber gegenüber andern war er hartherzig. Darin lag seine Bosheit.

Die ernste Frage hinter diesem Gleichnis richtet sich an jeden Einzelnen von uns: Sind wir bereit zu vergeben? Wenn wir zum echten, lebendigen Glauben an den Herrn Jesus Christus gekommen sind, dann haben wir den grössten Schuldenerlass erhalten, den es nur geben kann – einen Schuldenerlass, für den Er Sein eigenes Blut, Sein eigenes Leben, ja Sich selbst geben musste. Eine ganze Ewigkeit wird nicht ausreichen, um den Wert sowohl unserer Schuld als auch des Preises für unsere Erlösung völlig zu erfassen. Selbst wenn ein Mitmensch sich sehr grob an uns versündigt (der Mitknecht schuldete immerhin etwa einen Drittel eines Jahreslohnes!), wiegt diese Schuld sehr viel weniger als jene Schuld, die der HERR uns erlassen hat. Wie können wir einerseits die Vergebung aus der Hand Gottes für uns annehmen und andererseits nicht bereit sein, unseren Mitmenschen zu vergeben? Was für Leute sind wir, wenn wir uns so verhalten wie dieser böse Knecht?

Natürlich ist das nicht immer einfach, teilweise sogar sehr schwer. Ein gut bekanntes Beispiel ist jenes von Corrie ten Boom, die in einem Konzentrationslager die Ermordung der eigenen Schwester hatte miterleben müssen und sich nur kurze Zeit später (nach dem Kriegsende) mit der Bitte des Mörders ihrer Schwester um Vergebung konfrontiert sah. Das ist eine Sache, die nicht leichtfertig vergeben werden kann. Menschen tun einander schlimme Dinge an und wir wären Heuchler, wenn wir einfach in jeder Situation leichtfertig Vergebung aussprechen würden, denn so funktioniert das nicht. Echte Vergebung kommt von Herzen. Sie befreit den Schuldern vollständig, bedingungslos und unwiderruflich von seiner Schuld. Das muss uns bewusst sein. Diese Dinge müssen wir sorgfältig abwägen und im Gebet vor dem HERRN bewegen. Nur der Blick darauf, wie viel Er uns vergeben hat, wie viel Ihn das gekostet hat und wie wenig Er eigentlich von uns dafür zurück erhält, kann uns befähigen, eine solche echte Vergebung auszusprechen.

Und doch ist diese Haltung der Vergebungsbereitschaft für das Leben eines Christen zwingend erforderlich. Echte, tiefe zwischenmenschliche Beziehungen sind ohne eine solche Vergebungsbereitschaft nicht möglich. Das zeigt der Blick in die Gesellschaft, wo selbst die innigste Beziehung zwischen zwei Menschen, die Ehe, mittlerweile fast schon achtlos aufgegeben wird, weil es nicht mehr funktioniert. Man kann sich ja einfach einen neuen Partner suchen! Und wenn es mit diesem auch nicht mehr klappt, gibt es noch weitere Kandidaten. Wir leben wirklich in einer Wegwerfgesellschaft. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass wir nicht bereit sind, einander zu vergeben und es nochmals neu zu versuchen. Das ist uns zu anstrengend.

Vers 34

Und sein Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Folterknechten, bis er alles bezahlt habe, was er ihm schuldig war. Mt 18,34

Wenn wir über das Handeln des HERRN mit uns nachsinnen, müssen wir zwei Dinge voneinander unterscheiden, nämlich einerseits die Frage nach der ewigen Errettung, dem neuen Leben und allem, was damit zusammenhängt, und andererseits die Frage, wie Gott mit uns in unserem Leben hier auf der Erde handelt. Man bezeichnet das Zweite teilweise als die Regierungswege Gottes. Unser ewiges Heil können wir uns nicht verdienen. Wir können das ewige Leben nur aus Gnade, also unverdient, empfangen. Wenn wir es empfangen haben, können wir es nicht wieder verlieren, weil es seine Grundlage allein in dem hat, was Gott getan hat. Egal, was wir tun oder nicht tun, wir bleiben Kinder Gottes auf ewig. Aber wir können unser Christenleben besser oder schlechter führen. Unsere Taten haben Konsequenzen, wie es in Gal 6,7 heisst: «Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht verspotten! Denn was ein Mensch sät, das wird er auch ernten». Böse Taten werden uns einholen, ob wir nun Christen sind oder nicht. Wenn wir nicht auf den HERRN hören wollen, werden wir durch fühlen lernen müssen. Eins ist nämlich sicher: Der HERR wird mit jedem Seiner Kinder ans Ziel kommen und Sich nichts von Seiner Ehre rauben lassen. Verhält sich ein Kind widerspenstig, wird Er immer Mittel und Wege finden, um dieses Kind doch an jenen Punkt zu bringen, an dem Er es haben will. Es liegt an uns, wie leicht oder wie schwer wir es uns selbst machen wollen.

In der sogenannten Bergpredigt sagte der Herr Jesus unter anderem: «Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit zuteil werden!» Das ist ein geistliches Prinzip. Die Art und Weise, wie der HERR mit uns handelt, hängt davon ab, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen. Sind wir barmherzig, haben auch wir selbst beim HERRN einen grösseren Spielraum von Barmherzigkeit. Sind wir hartherzig, wird auch unser eigener Spielraum klein sein. Der erste König von Israel, Saul, war ein hartherziger Mann, der unter anderem eine ganze Priesterfamilie abschlachten liess, nur weil ein Priester (der nichts von der Feindschaft zwischen David und Saul wissen konnte) David geholfen hatte. Er hätte auch seinen eigenen Sohn Jonathan getötet, nur weil Jonathan einen seiner Befehle (unwissentlich) übertreten hatte. Er leistete sich zwei Verfehlungen, die man rein menschlich betrachtet als nicht allzu schwerwiegend bezeichnen würde, und wurde deshalb ohne Gnade als König verworfen. Sein weiteres Leben war eine Qual und eine Aneinanderreihung von Fehlschlägen; es endete mit Selbstmord. David dagegen erwies seinen Mitmenschen immer wieder Barmherzigkeit. Auch er leistete sich einige Verfehlungen, von denen zwei ganz besonders schlimm waren, nämlich zum einen ein Ehebruch mit einem anschliessenden Mord und zum andern eine Übertretung eines Befehls des HERRN, die 70.000 Israeliten das Leben kostete. Und doch blieb der HERR ihm bis zum Ende seines Lebens gnädig! Ja, Er erwies sogar noch über mehrere Generationen hinweg den Nachkommen Davids Gnade im Gedenken an die Barmherzigkeit Davids! Wir sehen also, dass wir unser Leben als Christen hier auf der Erde ganz entscheidend zum Positiven prägen können, indem wir eine generelle Haltung von Barmherzigkeit und Gnade sowie Vergebungsbereitschaft gegenüber unseren Mitmenschen entwickeln.

Vers 35

So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt. Mt 18,35

Der König im Gleichnis machte seinen Schuldenerlass rückgängig, nachdem er erfahren hatte, was der Knecht getan hatte. Gott sei Dank können wir uns unser ewiges Heil durch unser dummes Verhalten nicht wieder verspielen! Aber unsere Taten haben Konsequenzen und das gilt ganz besonders für das Mass an Vergebungsbereitschaft, das wir gegenüber unseren Nächsten haben. Der HERR will uns nicht nur aus Gnade erretten, sondern auch in Gnade durch dieses Leben hier führen. Er will uns einen grossen Spielraum einräumen, sodass unser eigenes, persönliches Versagen hier in diesem Leben keinen allzu grossen Schaden anrichtet. Entwickeln wir aber eine Haltung, die von Hartherzigkeit gegenüber unseren Nächsten geprägt ist, sind wir nicht bereit zu vergeben, sind wir nicht gnädig und sind wir nicht barmherzig, verlieren wir unweigerlich etwas von der Gnade, die der HERR uns für unser Leben hier auf der Erde schenken will. Der Spielraum wird kleiner werden und wir werden die Folgen von Fehlern, die wir begehen, sehr viel härter spüren müssen. Das erklärt, weshalb es echte Christen gibt, die am Ende ihres Lebens richtiggehend verbittert sind. Eigentlich sollte das ein Ding der Unmöglichkeit sein, aber leider ist es möglich. Diese Christen haben eigensinnige Wege eingeschlagen und nicht gelernt, ihren Puls in Einklang mit dem Herzschlag Gottes zu bringen. Sie haben sich gegen Seine Führung gesträubt und sich dadurch selbst viele (eigentlich unnötige) Probleme verursacht. Die Folgen davon mussten sie selbst spüren und das war schwer. Darüber sind sie mit der Zeit bitter geworden.

Der Schlüssel für ein glückliches Leben als Christ hier auf der Erde ist die Vergebungsbereitschaft. Je mehr wir ganz generell bereit sind, unseren Nächsten immer und immer wieder zu vergeben, unser Herz nicht zu verhärten, sondern ein weiches Herz zu bewahren, desto gnädiger und barmherziger wird der HERR mit uns umgehen. Als zusätzlicher Vorteil kommt hinzu, dass jede Form von zwischenmenschlicher Beziehung sehr von einer grundsätzlichen Vergebungsbereitschaft profitiert, ja eigentlich gar nicht möglich ist, wenn nicht beide Beteiligten grundsätzlich bereit sind, einander immer wieder zu vergeben.

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