Matthäus 19
Vers 1
Und es geschah, als Jesus diese Reden beendet hatte, begab er sich von Galiläa weg und kam in das Gebiet von Judäa, jenseits des Jordan. Mt 19,1
Zur Zeit Jesu war das Land Israel in drei Gebiete geteilt: Im Süden des Landes lag Judäa, das religiöse Zentrum und gewissermassen der kleine Überrest des Landes Israel, den die Juden sich hatten bewahren können; nördlich davon lag Samaria, das Gebiet der von den Juden zutiefst verachteten Samariter (einem Mischvolk, das den israelitischen Gottesdienst und heidnischen Götzendienst zu einer eigenen Religion vermengt hatte); noch weiter nördlich lag Galiläa, in dem zwar auch Israeliten lebten, die aber von der religiösen Elite in Judäa abschätzig behandelt wurden. Man würde erwarten, dass der Herr Jesus Seinen öffentlichen Dienst in Judäa ausgeübt hat. Das war aber nicht der Fall. Die meiste Zeit diente Er in Galiläa, also so weit vom damaligen religiösen Zentrum entfernt, wie es nur möglich war, ohne das Land Israel zu verlassen. Das ist ein sehr bezeichnender Ausdruck dafür, was der HERR vom damaligen jüdischen Gottesdienst hielt!
Doch nun rückte die Zeit der Vollendung des Dienstes näher. Den Tief- und zugleich Höhepunkt des Dienstes unseres Herrn und Heilandes sollte Sein stellvertretendes Opfer am Kreuz auf Golgatha, gleich ausserhalb der Stadtmauern von Jerusalem, bilden. Er war gewissermassen der einzige Mensch, der dazu geboren war, zu sterben. Wir alle müssen sterben, aber der Tod ist etwas Fremdartiges, das im eigentlichen Plan Gottes so nicht vorgesehen gewesen wäre. Bei Ihm war es anders: Er wurde genau darum als Mensch geboren, weil Er nur als Mensch stellvertretend für andere Menschen sterben konnte! Diese Zeit war nun nahe gekommen. Im Evangelium nach Lukas heisst es, dass Er Sein Angesicht feststellte, nach Jerusalem zu gehen (Lk 9,51). Er war entschieden, den schweren Weg zu gehen, den Sein himmlischer Vater für Ihn vorgesehen hatte. Damit beginnt also nun der letzte grosse Abschnitt im Evangelium nach Matthäus, der vom Einzug des Messias in Jersualem und von Seiner Verwerfung durch die Juden handelt.
Vers 2
Und es folgten ihm grosse Volksmengen, und er heilte sie dort. Mt 19,2
Obwohl die Israeliten im Allgemeinen nicht akzeptieren wollten, dass Jesus ihr Christus ist, obwohl sie Ihn als Person ablehnten, scharten sich doch immer grosse Volksmengen um Ihn, wo Er auch hinkam. Die meisten von ihnen waren Schaulustige, die von Seinen Wundern und Zeichen angezogen wurden; viele kamen in der Hoffnung zu Ihm, dass Er ihnen bei einem bestimmten Problem helfen würde. Vor allem kamen viele Kranke und Besessene zu Ihm, um sich heilen bzw. befreien zu lassen. In Joh 2,23 heisst es einmal, dass viele an Seinen Namen glaubten, als sie seine Zeichen sahen, die Er tat. Doch gleich anschliessend steht geschreiben, dass Er selbst sich ihnen nicht anvertraute, weil Er alle kannte und nicht nötig hatte, dass jemand von dem Menschen Zeugnis gab; denn Er selbst wusste, was in dem Menschen war (Joh 2,24.25). Das bedeutet, dass dieser Glaube der Juden damals ein oberflächlicher Glaube ohne Substanz gewesen ist. Die grossen Menschenmassen, von denen der Herr Jesus häufig umringt gewesen ist, täuschen deshalb über eine tiefe Einsamkeit hinweg, die Er verspürt haben muss, weil Er stets nur ganz wenige Menschen um Sich hatte, denen Er sich wirklich anvertrauen konnte. Die Frage an uns lautet, ob wir Ihm oberflächlich nachfolgen, weil uns das Vorteile verspricht oder weil man das halt so macht, oder ob wir wirklich in Seiner Nähe sein und Ihn immer besser kennen lernen wollen.
Vers 3
Und Pharisäer kamen zu ihm, versuchten ihn und sprachen: Ist es einem Mann erlaubt, aus jeder beliebigen Ursache seine Frau zu entlassen? Mt 19,3
Die grossen Volksmengen, die dem Herrn Jesus nachfolgten, waren ein Ärgernis für die religiösen Führer des Volkes, denn diese hätten es lieber gehabt, wenn sich die Volksmengen um sie geschart hätten. Daher liessen sie keine Gelegenheit aus, um den Herrn Jesus zu versuchen. Sie stellten Ihm die schwierigsten Fragen und hofften, Er würde eine Antwort geben, mit der sie Ihn vor allen Leuten öffentlich blossstellen könnten. Was für eine miese Haltung!
Hier nun wurde eine Frage vor den HERRN gebracht, die damals offenbar tatsächlich die religiösen Führer beschäftigt haben muss, nämlich: Ist es einem Mann erlaubt, seine Frau aus jeder beliebigen Ursache zu entlassen oder nur bei Ehebruch? Die strenge Schule der Rabbiner vertrat die Ansicht, eine Scheidung sei nur bei Ehebruch zulässig; die liberale Schule liess eine Scheidung aus jedem beliebigen Grund zu. Welche Ansicht war richtig? Äusserlich betrachtet taten die Pharisäer das Richtige, indem sie sich an den Herrn Jesus wandten; aber innerlich waren sie leider nicht an Seiner Antwort, sondern nur daran interessiert, Ihn blosszustellen. Für uns ist dieser Abschnitt aber sehr wertvoll, denn er enthält eine Erklärung darüber, wie Gott die Ehe sieht, wie Er über die Ehe denkt und was Sein Wille für uns als Eheleute ist.
Vers 4
Er aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gelesen, dass der, welcher sie schuf, sie von Anfang an als Mann und Frau schuf Mt 19,4
Der Herr Jesus beantwortete die Frage der Pharisäer nicht, indem Er (wie wir es wohl getan hätten) direkt auf die fragliche Stelle einging; vielmehr führte Er sie zunächst ganz an den Anfang der Heiligen Schrift. Mit diesem Vorgehen weist Er uns auf zwei wichtige Prinzipien hin, die wir bei der Bibelauslegung unbedingt berücksichtigen sollten, nämlich zum einen auf das Prinzip der «ganzheitlichen» Auslegung und zum andern auf das Prinzip der fortschreitenden Offenbarung (oder: das Gesetz der ersten Erwähnung).
Mit «ganzheitlicher» Auslegung ist (in Ermangelung eines besseren Wortes) die Berücksichtigung der Gesamtaussage der Heiligen Schrift gemeint. Die Bibel ist eine grosse Offenbarung, in sich selbst völlig harmonisch und zusammengehörend. Sie enthält ein «Bild gesunder Worte» (2.Tim 1,13). Die einzelnen Bibelstellen sind wie Puzzleteile, die zusammen ein komplettes Bild ergeben. Man kann ein Puzzle kaum lösen, wenn man nicht weiss, wie das Bild am Ende aussehen soll. Deshalb positionieren wir alle ganz selbstverständlich die Verpackung eines Puzzles so vor uns, dass wir immer wieder einen Blick auf das Gesamtbild werfen können. Nur so gelingt es uns, die Teile an die richtige Stelle zu platzieren. Bei der Auslegung der Bibel müssen wir genau gleich vorgehen. Wir müssen uns zuerst einen Überblick verschaffen. Wir müssen die Gesamtaussage, das grosse Bild kennen. Dann können wir einzelne Aussagen richtig einordnen. Eine Bibelstelle darf niemals für sich allein ausgelegt werden. Sie muss immer in den richtigen Zusammenhang gestellt werden, den wir nur kennen können, wenn uns das Gesamtbild bekannt ist.
Das Prinzip der fortschreitenden Offenbarung (oder: das Gesetz der ersten Erwähnung) entspringt der Beobachtung begabter Bibelausleger. Diese haben festgestellt, dass die erste Erwähnung eines Themas in der Bibel bereits die wesentlichen Aspekte dieses Themas aufzeigt; spätere Erwähnungen fügen jeweils nur noch Details hinzu, ändern aber nichts an der Gesamtaussage der ersten Erwähnung. Wir könnten auch sagen, dass die erste Erwähnung den Rahmen sowie die wichtigsten Linien eines Bildes vorgibt. Spätere Erwähnungen verfeinern und komplettieren dann das Bild, aber sie ändern nichts am Rahmen und nichts am Gesamtbild. Der Herr Jesus ist deshalb in Seiner Antwort an die Pharisäer nicht direkt auf jene Stelle eingegangen, an die sie dachten, sondern auf die erste Erwähnung der Ehe überhaupt in der Heiligen Schrift, die bereits im Schöpfungsbericht zu finden ist. Dort finden wir die grundsätzlichen Gedanken Gottes über die Ehe. Nichts, was sich aus späteren Ausführungen über die Ehe ergibt, ändert etwas an diesen grundsätzlichen Gedanken.
Vers 5
und sprach: «Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhängen, und es werden die zwei ein Fleisch sein» – Mt 19,5
Was ist denn nun der ganz grundsätzliche Gedanke Gottes, der die Ehe charakterisiert? Da haben wir einen Mann und eine Frau, die sich beide von ihrer Herkunftsfamilie lösen und eine neue Einheit bilden, die «ein Fleisch» genannt wird, was auf eine Verschmelzung zu einer untrennbaren Einheit hinweist. Das darf übrigens nicht so verstanden werden, dass es hier nur um die körperliche Vereinigung gehen würde, denn die Rede ist nicht von «Leib», sondern von «Fleisch», was mehr als bloss den Körper meint. Wir kennen den Ausdruck gewiss aus der gut bekannten Stelle, an der es heisst: «Das Wort wurde Fleisch» (Joh 1,14). Gemeint ist damit, dass der Herr Jesus Christus ein wirklicher Mensch geworden ist. «Fleisch» bezeichnet also das Menschsein. Die Ehe ist die Vereinigung eines Mannes und einer Frau in einer Art und Weise, die das ganze Menschsein dieser beiden Personen umfasst. Das hebräische Wort in 1.Mose 2,24, das hier mit «anhängen» wiedergegeben wird, hat die Bedeutung von «ankleben». Jemand hat einmal einen treffenden Vergleich dafür gemacht: Man nimmt zwei Blatt Papier, gibt auf beide Leim und klebt die Blätter dann zusammen. Wenn es später überhaupt möglich ist, die beiden Blätter wieder voneinander zu trennen, dann nicht ohne dass beide Blätter beschädigt werden.
Vers 6
sodass sie nicht mehr zwei sind, sondern ein Fleisch? Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Mt 19,6
Der Herr Jesus betonte nun den springenden Punkt, nämlich die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einem Fleisch, d.h. zu einer neuen Einheit. Dieser Punkt ist der Kern der Gedanken Gottes über die Ehe. Das Beachtenswerte dabei ist, dass Gott diese Einheit schafft. Wann immer ein Mann und eine Frau sich das Ja-Wort geben, gibt auch Gott Sein Ja dazu. Er wird schöpferisch tätig und kreiert etwas Neues, das es davor nicht gegeben hat. Das ist ganz ähnlich wie bei der Zeugung eines Kindes: Der Mann und die Frau geben etwas von ihrem Leben weiter, aber Gott muss den entscheidenden «Funken» geben, damit wirklich neues Leben entsteht, denn das Leben kann nur von Ihm kommen. Das gilt natürlich nicht nur bei Kindern von Gläubigen, sondern bei allen Kindern. Und die Sache mit der Ehe gilt auch nicht nur für die Ehe von Gläubigen, sondern für alle Ehen. Jede Ehe, die geschlossen wird, hat Gottes Zustimmung; jedes Ehepaar ist von Gott zusammengefügt. Was Gott erschaffen hat, soll der Mensch aber nicht zerstören. Das gilt ganz generell, aber eben auch für die Ehe im Besonderen. Sie ist ein «Geschöpf» Gottes, das geachtet und geschützt werden soll. Aus dem Kerngedanken Gottes über die Ehe folgt also direkt der Schluss, dass eine Scheidung ganz grundsätzlich gegen Gottes Wille ist. Das hat der Herr Jesus hier ganz klar betont.
Vers 7
Sie sagen zu ihm: Warum hat denn Mose geboten, einen Scheidebrief zu geben und zu entlassen? Mt 19,7
Der Einwand der Pharisäer scheint auf den ersten Blick berechtigt, denn wenn Mose geboten hat, einen Scheidebrief zu geben und zu entlassen, muss es Gründe bzw. Situationen geben, die eine Scheidung rechtfertigen oder sogar notwendig machen. Doch wo findet man ein solches Gebot? Nirgends! Der Scheidebrief wird nur in 5.Mose 24 erwähnt, aber weder als Gebot noch als Vorschlag, sondern lediglich als eine Tatsache. Es heisst nämlich: «Wenn ein Mann … ihr einen Scheidebrief geschrieben … und sie entlassen hat, …» Hier haben wir also einfach eine Beschreibung eines Vorgangs vor uns, ohne dass dieser Vorgang bewertet würde. Es geht nur darum, dass etwas Bestimmtes passiert ist und dass in der Folge dieser Situation gewisse Dinge zu beachten sind. Wir können das bspw. vergleichen mit der Anweisung, einen Schirm mitzunehmen, wenn es regnet. Die Tatsache, dass es regnen könnte, wird in dieser Anweisung weder bewertet noch ist sie ein Vorschlag (quasi an Petrus, der angeblich das Wetter machen soll) und schon gar kein Gebot. Dasselbe gilt in Bezug auf den in 5.Mose 24 erwähnten Scheidebrief. Doch die Pharisäer und die Schriftgelehrten haben diese Stelle missinterpretiert, wohl zuerst angenommen, darin sei eine Erlaubnis zur Scheidung zu finden, und schliesslich gefolgert, sie hätten hier ein Gebot zur Scheidung vor sich. So falsch kann ein Text ausgelegt werden, wenn man mit fixen eigenen Ideen liest!
Vers 8
Er spricht zu ihnen: Mose hat wegen eurer Herzenshärtigkeit euch gestattet, eure Frauen zu entlassen; von Anfang an aber ist es nicht so gewesen. Mt 19,8
O, wie entlarvend und bitter ist diese Entgegnung für das menschliche Herz! Ja, der HERR hatte durch Mose die Möglichkeit einer Ehescheidung eingeräumt, aber nur weil Er unserer Herzenshärtigkeit Rechnung tragen musste. Von Anfang an ist es nicht so geplant gewesen, aber der Mensch hatte sich verdorben und sein Herz verhärtet – gegen Gott und gegen seinen Mitmenschen. Wenn eine Ehe scheitert und geschieden wird, liegt der Grund in einer Verhärtung des Herzens. So lautet das göttliche Urteil. In der Welt zuckt man heute mit den Schultern, sagt, man habe sich halt auseinander gelebt, und nimmt zur Kenntnis, dass es halt nicht immer funktioniert mit der Ehe. Der Herr Jesus sagt dagegen: Mindestens einer der beiden Ehegatten (manchmal sind es natürlich auch beide) hat sein Herz verhärtet. Diese Verhärtung des Herzens verhindert die so wichtige gegenseitige Vergebung wie auch die notwendige Haltung der Demut. Ohne die ständige Vergebungsbereitschaft können zwei Menschen mit der Sünde in sich aber nicht eine so innige Beziehung aufrecht erhalten; die Ehe muss scheitern.
Wir lernen hier aber auch noch etwas Grundlegendes über das Gesetz Moses, nämlich dass es einen niedrigen Massstab ansetzt. Das Gesetz war so konzipiert, dass es sogar von Menschen mit verhärteten Herzen hätte gehalten werden können. Es ist Gottes Minimalstandard an den Menschen. Aber nicht einmal dieses Minimum konnten wir erfüllen! Kein Mensch (ausser der Herr Jesus) hat es je geschafft, diesem Minimalstandard gerecht zu werden. Was sagt das über uns aus!
Vers 9
Ich sage euch aber, dass, wer immer seine Frau entlässt, ausser wegen Hurerei, und eine andere heiratet, Ehebruch begeht; und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch. Mt 19,9
Nun folgt ein sehr ernstes Wort, das gerade dem heutigen Zeitgeist komplett widerspricht: Der grosse göttliche Grundsatz lautet, dass eine Ehescheidung niemals nach Gottes Willen ist. Wer sich scheiden lässt und dann erneut heiratet, geht in den Augen Gottes keine neue (reine) Ehe ein, sondern begibt sich in den Ehebruch! Dieser Gedanke entspricht ganz dem grundlegenden Gedanken Gottes über die Ehe, nämlich dass durch den Eheschluss zwei Personen zu einem Fleisch werden, zu einer neuen, untrennbaren Einheit. Die beiden Ehegatten können später nichts tun, das diese Verbindung ungültig machen würde. Sie wird immer bestehen, und wenn Menschen das Gericht anrufen, um sich scheiden zu lassen, besteht die Ehe dennoch weiter.
Nur eine Sache ändert etwas daran, und das ist Hurerei bzw. Ehebruch. Wenn ein Ehegatte eine sexuelle Verbindung mit einem Dritten eingeht, dann bricht er die Ehe. Selbst in einem solchen Fall ist eine Heilung möglich und nach Gottes Willen, denn der ehebrecherische Ehegatte kann Busse tun und um Vergebung bitten; der betrogene Ehegatte kann von Herzen vergeben. Aber es ist in einer solchen Situation auch legitim, d.h. in den Augen Gottes in Ordnung, wenn der betrogene Ehegatte diese schwere Sünde nicht vergeben kann und die Ehe dann geschieden wird. Hier führt nicht die Scheidung zum Ehebruch. Sie ist nur die offizielle Bestätigung bzw. Konsequenz davon, dass die Ehe bereits gebrochen worden ist. Wie ernst ist das!
Vers 10
Seine Jünger sagen zu ihm: Wenn die Sache des Mannes mit der Frau so steht, so ist es nicht ratsam zu heiraten. Mt 19,10
Die Schriftgelehrten hatten vermeintlich einen Weg gefunden, den Schwierigkeiten, die eine Ehe mit sich bringt, auszuweichen. Sie hatten nämlich behauptet, man könne eine Ehe mehr oder weniger aus jedem beliebigen Grund scheiden. Der Herr Jesus hatte dem eindeutig widersprochen und klargestellt, dass eine Ehescheidung nur bei Ehebruch möglich ist. Seine Jünger waren offensichtlich keine Jünglinge mehr, sondern Männer mit Lebenserfahrung. Sie wussten selbst, wie anspruchsvoll und herausfordernd es ist, eine stabile Ehe zu führen. Mit dem vollen Ernst des Ja-Wortes konfrontiert kamen sie zum Schluss, dass es am besten sei, gar nicht erst zu heiraten.
Man kann über die Direktheit der Jünger schmunzeln. Aber ihre Entgegnung hat etwas. So schön eine Ehe auch sein kann, sie funktioniert nur, wenn beide Ehegatten fortwährend bereit sind, an sich selbst und an ihrer Beziehung zu arbeiten. Sie müssen die Bereitschaft lebendig erhalten, sich immer wieder zu vergeben, und sie müssen Tag für Tag ein neues Ja zueinander finden. Das ist nicht ohne. Gerade in der heutigen Zeit, in der sich viele Menschen eine viel zu romantisch-verklärte Vorstellung von einer Ehe machen, darf man durchaus auch entgegnen, dass es vielleicht sogar leichter ist, sein Glück im Leben zu finden, wenn man gar nie erst heiratet. Man erspart sich tonnenweise Probleme! Aber das ist natürlich eine sehr einseitige und allzu nüchterne Sicht auf die Dinge. Ja, eine Ehe ist eine Herausforderung, aber eine lohnenswerte! Wenn beide bereit sind, immer wieder ihr Bestes zu geben, kann etwas Wundervolles entstehen, das man nirgendwo sonst finden kann.
Vers 11
Er aber sprach zu ihnen: Nicht alle fassen dieses Wort, sondern die, denen es gegeben ist; Mt 19,11
Die Jünger haben den Herrn Jesus mit ihrer Zwischenbemerkung veranlasst, über ein zweites Thema zu sprechen, nämlich über Ehelosigkeit. Gemäss 1.Kor 7,7 hat jeder Christ (mindestens) eine Gnadengabe, nämlich entweder die Gnadengabe der Ehe oder aber die Gnadengabe der Ehelosigkeit. Der spontane Einwand der Jünger, eine Ehe zu führen sei ja fast unmöglich, hat zwar etwas für sich, aber ein Leben in Ehelosigkeit ist nicht einfacher zu führen. Auch dafür braucht man eine Gnadengabe. Deshalb können nicht alle dieses (das folgende) Wort fassen, sondern nur die, denen es gegeben ist.
Diese Überleitung hier in Vers 11 ist unabhängig vom Thema (Ehe und Ehelosigkeit) von Bedeutung. Das Wort Gottes ist kein Appell an unseren Verstand; es hängt nicht von unserer Intelligenz ab, ob wir es fassen können oder nicht. Das Wort Gottes richtet sich immer an unser Herz und an unser Gewissen. Deshalb ist es entscheidend, ob wir den grundsätzlichen Wunsch und Willen haben, das, was wir lesen oder hören, in unserem eigenen Leben in die Tat umzusetzen. Wer nicht die Bereitschaft hat, sich in seinem Leben am Wort Gottes auszurichten, der wird fast nichts aus der Bibel fassen können. Denn weshalb sollte der HERR zu ihm sprechen und ihm Verständnis schenken, wenn er dann doch nicht gehorchen will?
Vers 12
denn es gibt Verschnittene, die von Mutterleib so geboren sind; und es gibt Verschnittene, die von den Menschen verschnitten worden sind; und es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Reiches der Himmel willen. Wer es fassen kann, der fasse es. Mt 19,12
Die Ehe ist eine Gnadengabe Gottes an die Menschen. Die Ehelosigkeit ist nicht etwa das Verpassen dieser Gnadengabe, also eine Art Verlust, sondern ebenfalls eine Gnadengabe. Von Natur aus ist der Mensch nämlich nicht geeignet für die Ehelosigkeit. Der Mensch ist als ein soziales und auch als ein sexuelles Wesen erschaffen; er braucht enge Beziehungen zu anderen Menschen und auch den göttlichen Rahmen, in dem er seine Sexualität ausleben kann. Das ist der Grundsatz.
Doch es gibt auch Ausnahmen. Der Herr Jesus nennt drei Arten dieser Ausnahmen: Einige Menschen sind von Geburt an «verschnitten», also unfähig, eine Ehe zu führen. Hierin zeigt sich die göttliche Souveränität (Oberhoheit). Es gibt gewisse Dinge, die Er einfach bei Sich selbst entscheidet, etwa wann wir geboren werden, wo wir geboren werden, wer unsere Eltern sind etc. Auch unsere «Ausstattung» ist weitgehend von Ihm bestimmt, wenn wir bspw. an den Blindgeborenen aus Joh 9 oder eben an das «Verschnittensein» von Geburt an denken. Hierbei handelt es sich um einen «neutralen» Fall, denn die einen sind von Geburt an so, die anderen anders.
Leider gibt es auch «negative» Fälle von «Verschnittensein», nämlich von Menschen verursacht. Vor wenigen Jahrzehnten war es in unseren Gesellschaften durchaus noch üblich, Alkoholiker, Drogensüchtige oder Geisteskranke zu sterilisieren, weil man davon ausging, dass diese Probleme vererbbar seien. Berühmt-berüchtigt ist das Beispiel der Sängerknaben, deren schöne Knabenstimme man durch eine Kastration «sicherte». So könnte man noch viele Beispiele anführen, wo Menschen in die göttliche Ordnung und in die leibliche Integrität von Mitmenschen eingegriffen haben.
Zuletzt gibt es aber noch eine «positive» Form des «Verschnittenseins», nämlich den von Menschen gefassten Beschluss, ehelos zu bleiben, um sich intensiver in die Dinge des Königreich Gottes zu investieren. In 1.Kor 7 erklärt der Apostel Paulus, dass ein unverheirateter Mensch mehr Zeit und Energie für den Dienst hat, weil der verheiratete Mensch Zeit und Energie für die Pflege seiner Ehe aufwenden muss. Dabei muss betont werden, dass ein unverheirateter Mensch nicht geistlicher als ein verheirateter Mensch ist. Das Führen einer Ehe nach dem Willen Gottes ist ebenso Gottesdienst wie das Ausüben eines Amtes oder Dienstes für die Gemeinde! Wer nicht ehelos bleiben kann, deshalb heiratet, die Ehe aber ganz nach Gottes Willen und zu Seinem Wohlgefallen führen will, ehrt den HERRN ebenso wie jemand, der ehelos bleiben und bspw. als Missionar in fremde Länder ziehen will. Der Eine dient Gott so, der andere anders. Schlecht ist es aber, wenn jemand, der ehelos bleiben sollte, heiratet, nur weil «man das halt so macht», oder wenn jemand, der nicht ehelos bleiben kann, meint, er diene Gott, wenn er ehelos bleibe. Die negativen Auswirkungen einer solchen «Selbstvergewaltigung» sind leider ein Dauerbrenner in der römisch-katholischen Kirche.
Vers 13
Dann wurden Kinder zu ihm gebracht, damit er ihnen die Hände auflegte und betete. Die Jünger aber fuhren sie an. Mt 19,13
Wie schön ist, was in der Folge geschehen ist! Kinder wurden zum Herrn Jesus gebracht – wahrscheinlich von ihren Eltern. Die Eltern wollten, dass der Herr der Herrlichkeit ihren Kindern die Hände auflegte und betete. Hanna, die gottesfürchtige Mutter von Samuel war noch einen Schritt weiter gegangen: Sie hatte ihren kleinen Samuel gleich komplett dem HERRN hingegeben, damit er Ihm im Heiligtum diene. Haben wir als gläubige Eltern auch diesen Wunsch für unsere Kinder? Ist es uns ein Anliegen, unsere Kinder zum Herrn Jesus zu bringen? Haben wir unsere Kinder für uns selbst erhalten oder haben wir den Wunsch, sie Ihm zu geben, Ihm, der sie uns für eine kurze Zeit anvertraut hat? Das Grösste, das Eltern für ihre Kinder tun können, ist, sie zum Heiland zu führen, alles zu tun, damit die Kinder zu echten Kindern Gottes werden.
Die Eltern dieser Kinder hatten diesen Wunsch, aber ausgerechnet die Jünger des Herrn Jesus traten ihnen in den Weg! Die Jünger fuhren die Eltern an und wollten sie davon abhalten, die Kinder zum Herrn Jesus zu bringen. Kann man sich das vorstellen? Die Jünger waren in einem bestimmten Punkt offensichtlich falsch gewickelt. Sie wollten Gott einen Dienst erweisen, aber weil sie nicht in Abhängigkeit von Ihm, sondern nach eigenem Gutdünken handelten, stellten sie sich dem Willen Gottes in den Weg. Das ist eine ernste Warnung für uns, denn auch wenn wir Gott dienen wollen, kann es geschehen, dass wir aus falschen Ansichten und Überlegungen Dinge tun, die kontraproduktiv sind. Das Rezept dagegen ist einfach: Fragen wir in allem nach dem Willen des HERRN und handeln wir in Abhängigkeit von Ihm! So hat es uns unser grosser Herr und Heiland Jesus Christus vorgelebt, obwohl Er der Einzige gewesen ist, der das nicht nötig gehabt hätte.
Vers 14
Jesus aber sprach: Lasst die Kinder, und wehrt ihnen nicht, zu mir zu kommen! Denn solchen gehört das Reich der Himmel. Mt 19,14
Die Jünger des HERRN sahen die Kinder als Störefriede an, doch der Herr Jesus erklärte ihnen, dass gerade für solche das Königreich der Himmel bestimmt ist, nämlich für die Kleinen und Schwachen, für jene, auf die die Welt nichts gibt. Unser Gott ist so wunderbar, denn niemand ist so mächtig wie Er und doch kümmert sich zugleich auch niemand so liebevoll um die Allerschwächsten, wie Er es tut. Gib einem Menschen einen kleinen Machtbereich und er wird seine Macht mehr oder weniger stark missbrauchen. Über je mehr Macht ein Mensch verfügt, umso weniger Rücksicht wird er auf die Schwächsten nehmen. Doch unser HERR ist so anders! Er nutzt Seine alles überragende Macht, um sich rückhaltlos für die Schwächsten einzusetzen. Er bezeichnet sich als der Richter der Witwen und als der Vater der Waisen. Er hat es sich gewissermassen zur Aufgabe gemacht, jenen eine Stimme zu geben, die sonst überhört würden.
In Hebr 11 lesen wir von Glaubenshelden, aber die Liste umfasst nicht nur leuchtende Beispiele mit glücklichem Ausgang, sondern auch von anderen: «Andere aber wurden durch Verhöhnung und Geisselung versucht, dazu durch Fesseln und Gefängnis. Sie wurden gesteinigt, zersägt, starben den Tod durch das Schwert, gingen umher in Schafpelzen, in Ziegenfellen, Mangel leidend, bedrängt, geplagt» (Hebr 11,36.37). Die Welt blickt auf solche Menschen herab und sagt, dass solche Menschen nicht wert seien, in dieser Welt zu leben. Doch unser gelobter HERR sagt: «Sie, deren die Welt nicht wert war» (Hebr 11,38). Die Welt ist nicht wert, dass solche Menschen, auf die sie herabblickt, die aber kostbar und wertvoll in den Augen Gottes sind, in ihr leben! So wunderbar ist die Sichtweise Gottes. Also wehe uns, wenn wir Leuten, die wir für scheinbar unwürdig erachten, den Zugang zum Herrn Jesus verwehren!
Vers 15
Und er legte ihnen die Hände auf und ging von dort weg. Mt 19,15
Der Herr Jesus gewährte den Eltern ihren Wunsch und legte den Kindern die Hände auf, um sie zu segnen. Wie hatte Er selbst gesagt? Wer bittet, dem wird gegeben. Wir dürfen und sollen viel von Ihm erwarten. Jemand hat einmal gesagt, dass Gott jedes unserer Gebete so erhört, wie wir es tun würden, wenn wir Seine Macht, Seine Weisheit und Seine Liebe hätten. Die Eltern hatten das Richtige getan, denn Gott liebt Kinder, weshalb Er sich nicht zweimal bitten lassen musste, die Kinder zu segnen.
Aber dann ging Er von dort weg. Er war von Seinem eigenen Volk bereits längst abgelehnt und verworfen worden. Es gab nun keinen Ort mehr, wo Er bleiben konnte. Die letzten Kapitel des Matthäus-Evangeliums sprechen von häufigen Ortswechseln, die den Herrn Jesus letztlich nach Jerusalem führten, wo Er sich ein letztes Mal als der verheissene Messias präsentierte, letzte Diskussionen mit der verbohrten religiösen Führerschaft führte und Sich schliesslich kreuzigen liess.
Vers 16
Und siehe, einer trat herbei und sprach zu ihm: Lehrer, was soll ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben habe? Mt 19,16
In unserem bis vor einigen Jahrzehnten noch christlich geprägten Abendland war die Frage, die ein Mann dem Herrn Jesus stellte, weit verbreitet: Was soll ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben habe? Die Menschen waren überzeugt, dass sie einen gewissen Regelkatalog oder Moralkodex beachten müssten, um als «gute Menschen» zu gelten und Zugang zum «Himmel» zu bekommen. Man war der Ansicht, dass man eine gewisse Leistung erbringen müsse, um sich den «Himmel» zu verdienen. Genau das war die Ansicht dieses Mannes, der mit seiner Frage an den Herrn Jesus herantrat. Er war überzeugt, dass er sich nur besonders viel Mühe geben und anstrengen müsse, um das ewige Leben zu erhalten. Bei diesem Mann können wir das noch verstehen, denn er war ein Jude und im Gesetz für Israel heisst es an einer Stelle: «Meine Rechte sollt ihr halten, durch die der Mensch, wenn er sie tut, leben wird» (3.Mose 18,5). Seine Frage war also durchaus berechtigt, aber doch erhielt er eine relativ stark zurechtweisende Antwort, wie die folgenden Verse zeigen.
In einer christlichen Gesellschaft sollte diese Frage jedoch nichts zu suchen haben. Das Fundament des christlichen Glaubens ist, dass der Herr Jesus Christus am Kreuz auf Golgatha stellvertretend jene Schuld bezahlt hat, die keiner von uns je bezahlen könnte, und dass wir nur unser Vertrauen auf Ihn setzen müssen, um errettet zu werden. Es geht also gerade nicht darum, was wir tun müssen, um ewiges Leben zu haben, sondern vielmehr darum, was Er getan hat, um uns das ewige Leben zu schenken! Der Umstand, dass dennoch die meisten christlich geprägten Menschen anders und damit völlig falsch gedacht haben, ist darauf zurückzuführen, dass sich die grossen Kirchen schon früh (lange vor dem Mittelalter) jüdischen und heidnisch-philosophischen Einflüssen geöffnet und zugewandt haben. Die Kirchenlehre ist schon seit Jahrhunderten ein Mischmasch aus jüdischen, heidnisch-philosophischen und christlichen Elementen. Das ist eine Tragödie, weil damit genau jene, die den Menschen eigentlich den Weg zum Heil hätten weisen sollen, Fragende komplett in die Irre geführt haben und es auch heute noch weiter tun. Jeder Mensch, der meint, er könne sich sein ewiges Heil erarbeiten und verdienen, liegt völlig falsch und wird böse scheitern in seinen Bemühungen.
Vers 17
Er aber sprach zu ihm: Was fragst du mich über das Gute? Einer ist der Gute. Wenn du aber ins Leben hineinkommen willst, so halte die Gebote! Mt 19,17
Schon die erste Entgegnung unseres Herrn sagt im Prinzip alles aus, was dieser Mann wissen musste: Nur Einer ist der Gute – Gott. Es gibt keine guten Menschen. Sicherlich gibt es schlechtere und bessere Menschen, aber nur Einer ist wirklich gut, nämlich allein Gott. Dieser Mann dachte, wie auch heute viele Menschen denken, er könne so gut sein oder werden, dass er den Ansprüchen Gottes genüge. Aber genau da liegt der tragische Überlegungsfehler, denn Gott ist gut. Gott ist so vollkommen, unendlich gut, dass Böses nicht einmal in Seine Nähe kommen kann. Ein Mensch kann (unter menschlichen Gesichtspunkten) so gut werden, wie er will, aber er wird nie auch nur annähernd so gut sein wie Gott. Niemals wird ein Mensch vor Gott treten und sagen können: «Ich bin gut». Wer in das wahrhaftige Licht Gottes tritt, wer Ihn sieht, wie Er ist, wer sieht, wie unendlich gut Er ist, wird erkennen, wie wenig er dieser Natur entspricht. Wenn also ein Mensch hier auf der Erde fragt: «Was muss ich Gutes tun, damit ich ewiges Leben habe?», dann müssen wir antworten: «Vergiss es!» Niemand kann je aus sich selbst heraus das erforderliche Niveau erreichen.
Doch wer glaubt das schon? Ach, wir denken alle so viel zu gut von uns selbst! Wir meinen wirklich, wir seien etwas, wir seien gut, wir könnten den Ansprüchen Gottes genügen, wir könnten uns den Zugang zum Himmel verdienen! Auch dieser Mann hätte sich mit dieser Entgegnung keinesfalls abgefunden. Also musste sich der Herr Jesus quasi auf sein Niveau herab begeben und ihm in einer für ihn verständlichen Weise aufzeigen, dass er ganz grundsätzlich falsch lag. Die folgenden Ausführungen des Herrn Jesus sollen also nicht anzeigen, dass es eben doch irgendwie möglich wäre, sich das ewige Leben selbst zu erarbeiten. Diese Ausführungen entsprechen vielmehr einem der Kernziele des Gesetzes, das Gott Seinem Volk Israel am Sinai durch Mose gegeben hat, nämlich: «Durchs Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde» (Röm 3,20). Das Gesetz ist ein Spiegel, der uns unsere eigene Unzulänglichkeit zeigt. Und so hat der Herr Jesus diesem Mann ganz persönlich aufgezeigt, dass er sich das ewige Leben niemals selbst erarbeiten konnte.
Vers 18
Er spricht zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Diese: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsches Zeugnis geben; Mt 19,18
Die Gegenfrage des Mannes ist amüsant: Welche Gebote? Als Jude hätte er ganz genau wissen müssen, von welchen Geboten der Herr Jesus sprach. Es waren natürlich jene Gebote, die der HERR durch Mose am Sinai Seinem Volk Israel gegeben hatte. Der Herr fasst sie ihm kurz zusammen, doch zu unserem Erstaunen finden wir hier nicht alle Zehn Gebote, sondern nur jene, die auf das Verhältnis zum Mitmenschen ausgerichtet sind. Wir finden im vor uns liegenden V.18 und im Folgevers die Gebote 5–9. Es fehlen die ersten vier Gebote, die sich auf das Verhältnis des Menschen zu Gott beziehen; das letzte Gebot (nicht die Dinge des Nächsten begehren) ist durch die Anweisung ersetzt, den Nächsten zu lieben wie sich selbst (vgl. 3.Mose 19,18). Der Herr Jesus hat die Forderungen des Gesetzes also nochmals drastisch reduziert, denn für uns Menschen ist es leichter, unseren Pflichten gegenüber den Mitmenschen nachzukommen, als Gott die Ehre zu geben, die Ihm gebührt. «Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, kann nicht Gott lieben, den er nicht gesehen hat» (1.Joh 4,20). Konnte der Fragende diesem sehr tiefen Massstab genügen?
Vers 19
ehre den Vater und die Mutter; und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Mt 19,19
Das Gesetz Moses mit den Zehn Geboten ist Gottes Minimalstandard an die Menschen. In diesem Gesetz wird unter anderem der Herzenshärtigkeit der Menschen bereits Rechnung getragen. Doch die allermeisten Menschen scheitern bereits daran, ihrem Schöpfer-Gott jenen Respekt zu erweisen, den Er als Minimum von ihnen fordert. Der Herr Jesus hat den Massstab für den fragenden Mann weiter gesenkt und alles ausgeklammert, was Gott betrifft. Er hat das Gesetz gewissermassen auf den Minimalstandard für das Zusammenleben von Menschen herabgesenkt und zusammenfassend ein Gebot aus dem dritten Buch Mose angeführt: Man soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst.
Insbesondere die evangelisch-reformierte Landeskirche hat sich in den letzten Jahren damit hervorgetan, das christliche Glaubensgut auf diesen minimalen Moralkodex zu reduzieren. Vom Kreuz will man nichts mehr wissen, die Autorität der Bibel wird geleugnet, Gott wird Seiner Ehre beraubt und den Menschen wird vorgegaukelt, sie müssten nur lieb und nett zueinander sein und dann sei alles gut. Was hat das mit dem christlichen Glauben zu tun? Nichts! Das ist ganz einfach nur das Mindeste, das nötig ist, um ein halbwegs vernünftiges Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen, ein Mindeststandard, der praktisch in allen Kulturen rund um den Globus mit aller Selbstverständlichkeit beachtet wird, wobei die allermeisten Kulturen weiss Gott alles andere als christlich geprägt sind.
Und doch scheitern die Menschen durchs Band daran, auch nur diesen Mindeststandard einzuhalten. Wer liebt seinen Nächsten schon wie sich selbst? Mir ist noch nie ein Mensch begegnet, der konsequent nach dieser Maxime lebt. Jeder ist sich selbst der Nächste und wenn jeder für sich selbst schaut, dann ist auch für alle gesorgt, könnte man meinen. Letzten Endes sind wir allesamt Egoisten und wenn es hart auf hart kommt, wird jeder sich selbst den Vorzug geben. Nur das neue Leben, das Gott uns in Gnade darreichen will, kann wirklich ein anderes Verhalten an den Tag legen. Aber davon war dieser fragende Mann ebenso weit entfernt, wie es heute die meisten Menschen in unserer angeblich christlichen Gesellschaft sind.
Vers 20
Der junge Mann spricht zu ihm: Alles dies habe ich befolgt. Was fehlt mir noch? Mt 19,20
Ja, der fragende Mann muss jung gewesen sein! Welcher ältere Mann hätte, wenn er mit dem Gesetz Gottes konfrontiert worden wäre, geantwortet, dass er alles befolgt habe? Als der Herr Jesus die Ankläger einer Ehebrecherin einmal aufforderte, Steine zu werfen, sofern man ohne Sünde sei, waren es die Ältesten, die zuerst weggingen (Joh 8,9). Je älter man wird, umso realistischer wird das Selbstbild in der Regel. War man in jungen Jahren noch völlig von sich selbst überzeugt, voller Tatendrang, Energie und Kraft, weiss man mit zunehmendem Alter, wie oft und vielfältig man bereits versagt hat, wie unzulänglich die eigene Energie und Kraft sind und wie abhängig man von Gott und von Dritten ist. Man wird demütig. Nicht so der gewöhnliche Jungspund! Er ist überzeugt, dass er alles beachtet hat, was ihm bekannt war, und sollte noch mehr von ihm verlangt werden, wird er das auch noch bewältigen. So fragt er wie der junge Mann: Was soll ich noch tun? Was fehlt mir noch?
Ich denke nicht, dass der junge Mann gelogen hat. Er war wirklich überzeugt, er habe alles befolgt. Gewiss hatte er bereits wiederholt versagt, nur war ihm das nicht bewusst. Er wollte es nicht wahrhaben oder hatte es sogar verdrängt. Wahrscheinlich war er wirklich ein anständiger junger Mann mit einem vorbildlichen Lebenswandel, aber auch solche Leute straucheln oft. Das liegt in unserer menschlichen, sündigen Natur begründet. Eine Diskussion darüber wäre sinnlos gewesen. Er fragte nach noch mehr und der Herr Jesus gab ihm noch mehr, wie wir im folgenden Vers sehen werden.
Vers 21
Jesus sprach zu ihm: Wenn du vollkommen sein willst, so geh hin, verkaufe deine Habe und gib den Erlös den Armen! Und du wirst einen Schatz in den Himmeln haben. Und komm, folge mir nach! Mt 19,21
Der junge Mann wollte wissen, wie er ewiges Leben haben konnte. Er dachte, er könne es sich verdienen, wenn er nur wisse, was er tun müsse, und wenn er sich nur genug anstrenge, das alles in die Tat umzusetzen. Er war überzeugt, dass er die Gebote Gottes gehalten hatte. Der Herr Jesus liess sich auf seine Sichtweise ein und begegnete ihm auf Augenhöhe in seiner Denkweise. Ja, Er diskutierte mit ihm nicht einmal darüber, ob er wirklich alle Gebote gehalten hatte, sondern liess diese Behauptung einfach im Raum stehen. Ausgehend von der Denkweise des jungen Mannes legte Er ihm noch etwas Letztes vor, das der Mann tun sollte, um vollkommen zu sein und das ewige Leben zu erhalten: Er sollte alle seine Habe verkaufen, den Erlös den Armen geben und dem Herrn Jesus nachfolgen.
Wir werden in den folgenden Versen sehen, dass Reichtum und Besitz ein besonderes Hindernis im Leben jenes jungen Mannes darstellten. Der Herr Jesus sprach also ganz gezielt den wunden Punkt im Leben jenes Mannes an. Das müssen wir unbedingt verstehen! Wir haben hier nicht einen allgemeinen Leitfaden zum ewigen Leben vor uns. Deshalb dürfen nicht etwa auf den Gedanken kommen, wir müssten die Gebote Gottes für Israel halten und unseren Reichtum den Armen geben, um errettet zu werden. So funktioniert das nicht. Wir können uns nicht selbst retten. Der Herr Jesus sagte diese Dinge, um dem jungen Mann aufzuzeigen, dass er nicht einmal in seiner eigenen Sichtweise wirklich konsequent war. Der junge Mann wollte alles tun, um sich das ewige Leben zu erhalten, aber kaum wurde der wunde Punkt getroffen, machte er einen Rückzieher. Damit zeigte der Herr Jesus ihm auf, dass er auf seine eigene Weise nie zum Ziel kommen konnte.
Für uns ist dieses Gespräch natürlich trotzdem sehr lehrreich. Es zeigt uns auf, wie wir Menschen mit dem wahren Evangelium erreichen können. Wir sollten sie nämlich nicht einfach mit dem Panzer überrollen und mit Argumenten zu Grund und Boden stampfen, sondern uns erst einmal auf sie einlassen. Menschen sind komplexe Wesen und keine Maschinen, bei denen man nur die richtigen Knöpfe drücken muss, damit sie dann wieder richtig funktionieren! Der Punkt ist, dass jede menschliche Ideologie versagen muss. Der Herr Jesus ist die Wahrheit und was nicht mit Ihm übereinstimmt, entspricht nicht der Realität. Jede andere Ideologie muss irgendwo, irgendwann scheitern, das ist eine Art Naturgesetz. Manchmal kann es (wie in diesem Gespräch hier) das Richtige sein, den Menschen aufzuzeigen, dass sie mit ihren eigenen Ansichten scheitern werden. Dann können wir ihnen nämlich auch den Gegenpunkt aufzeigen, wie es der Herr Jesus hier getan hat:
Der Herr Jesus hat Seine Antwort an den jungen Mann mit den Worten begonnen, dass nur Einer wirklich gut sei – Gott. Den Abschluss hat die Aufforderung gebildet: Folge mir nach! Die ganze Antwort des Herrn Jesus ist also eingerahmt gewesen von der Aussage, dass nur Gott wirklich gut ist, dass nur Er unser Problem lösen kann und dass der Weg zu dieser Lösung in der Person des Herrn Jesus Christus zu finden ist, an den wir uns deshalb klammern müssen. Das war der springende Punkt in der Antwort des Herrn Jesus. Der Rest diente dazu, dem jungen Mann aufzuzeigen, dass er in seiner eigenen Denkweise nie zum Ziel kommen würde.
Vers 22
Als aber der junge Mann das Wort hörte, ging er betrübt weg, denn er hatte viele Güter. Mt 19,22
Der Herr Jesus hatte den jungen Mann gewissermassen vor die Wahl zwischen Sich und dem Geld gestellt. Der junge Mann entschied sich schweren Herzens, aber doch rasch und eindeutig für das Geld. Seine vielen Güter waren ihm wichtiger als die Person des Herrn Jesus Christus. Sein Herz schlug für das Geld und nicht für Gott. Ihm blieb nichts anderes übrig, als betrübt weg zu gehen. Er musste erkennen, dass er nicht bereit war, alles Nötige zu geben, um das ewige Leben zu erhalten. Sogar nach seiner eigenen Sicht- und Denkweise war es für ihn unmöglich, ewiges Leben zu haben. Wie tragisch!
Die Begebenheit lehrt uns, dass letztlich immer entscheidend ist, wie wir uns zum Herrn Jesus Christus stellen. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater als nur durch Ihn (Joh 14,6). Er allein hat den ganzen Preis bezahlt, der zur Erlösung unserer unendlich kostbaren Seelen bezahlt werden musste. Wir können und müssen Gott nichts geben, aber wir werden das ewige Leben nie erlangen, wenn wir nicht unser Vertrauen allein auf den Herrn Jesus Christus setzen. Ohne Ihn sind wir verloren! Wenn wir auch alles besitzen, aber Ihn nicht, haben wir nichts; und wenn wir nichts besitzen, aber Ihn haben, haben wir alles. Schade, dass der junge Mann das nicht verstehen wollte!
Vers 23
Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: Wahrlich, ich sage euch: Schwer wird ein Reicher in das Reich der Himmel hineinkommen. Mt 19,23
Der junge Mann, der den Herrn Jesus gefragt hatte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu haben, war über seinen Reichtum bzw. über seine Geldliebe gestolpert. Er hing mehr am Geld als an allem anderen, weshalb er nicht bereit war, sich davon zu lösen und dem Herrn Jesus nachzufolgen. Die Anmerkung des Herrn Jesus erscheint daher folgerichtig: Für einen Reichen ist es schwer, in das Königreich der Himmel hinein zu kommen.
Für einen Juden musste eine solche Aussage aber ein Anstoss sein! Im Gesetz Moses hatte der HERR den Israeliten unter anderem Wohlstand und Reichtum als Lohn für Gehorsam zugesagt. Ein Jude nahm deshalb unweigerlich an, dass ein reicher Mensch fromm und ein verarmter Mensch gottlos sei. Reichtum und Gesundheit waren Indikatoren für Gesetzesgehorsam. Folglich musste ein Jude davon ausgehen, dass es für einen Reichen leichter als für einen Armen sei, in das Königreich Gottes zu kommen. Aber nun erklärte der Herr Jesus, dass es ausgerechnet für Reiche besonders schwer sei, Eingang in das messianische Friedensreich zu finden, das die Juden so sehnlich erwarteten! Wie sollten sie das einordnen? Wir werden sehen, dass die Jünger fassungslos über diese Aussage waren – und nun wissen wir auch, weshalb das der Fall war.
Vers 24
Wiederum aber sage ich euch: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt. Mt 19,24
Als wäre die vorherige Aussage nicht schon verstörend genug gewesen, setzte der Herr Jesus mit einem Gleichnis nach, das jene Aussage auf die Spitze trieb: Ein Kamel geht einfacher durch ein Nadelöhr, als dass ein Richer in das Königreich Gottes kommt! In den vergangenen Jahrhunderten haben kluge Köpfe auf alle nur erdenklichen Arten versucht, dieses Gleichnis abzuschwächen, aber da steht, was der Herr Jesus wirklich gesagt hat, und daran gibt es nichts zu rütteln.
Uns allen ist völlig klar, dass ein Kamel unmöglich durch ein Nadelöhr geht. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber ein Kamel passt nicht durch ein Nadelöhr. Also ist es unmöglich, dass ein Reicher in das Königreich Gottes hineinkommt. Die Jünger haben das verstanden, wie der folgende Vers klar macht, und der Herr Jesus hat es bestätigt, wie der übernächste Vers zeigt. Wie kann man nun reiche Menschen beruhigen? Nicht dadurch, dass man versucht, die Aussage zu verändern, sondern durch den Hinweis auf Mt 19,26! Damit werden wir uns in Kürze beschäftigen können.
Weshalb aber haben es insbesondere Reiche so schwer, in das Königreich Gottes zu kommen? Das Problem ist nicht der Reichtum an sich, denn sogar in den Lehrbriefen des Neuen Testamentes wird es als etwas völlig Normales angesehen, dass einige Brüder und Schwestern in Christo Jesu reich sind. So heisst es bspw. in 1.Tim 6,17.18: «Den Reichen in dem gegenwärtigen Zeitlauf gebiete, nicht hochmütig zu sein, noch auf die Ungewissheit des Reichtums Hoffnung zu setzen – sondern auf Gott, der uns alles reichlich darreicht zum Genuss –, Gutes zu tun, reich zu sein in guten Werken, friegebig zu sein, mitteilsam». Die Reichen müssen also nicht einmal ihren Reichtum aufgeben, sondern nur sinnvoll damit umgehen. Also ist Reichtum an und für sich nicht das Problem. Das Problem ist die Geldliebe, also eine falsche Einstellung zum Reichtum, was auch in dieser Stelle erwähnt wird (Hochmut, Hoffnung auf den Reichtum setzen). Häufig werden Menschen nicht einfach so reich, sondern vielmehr deshalb, weil sie nach Reichtum trachten, also von Geldliebe getrieben sind. Viele Reiche vertrauen auf ihren Reichtum und wollen sich nicht davon lösen. Auch hier spielt die Geldliebe eine wichtige Rolle. Reichtum ist ganz allgemein ausgedrückt eine Gefahr, weil er Geldliebe wecken kann, so wie etwa eine verführerische Frau einen Mann zum Ehebruch verleiten kann.
Vers 25
Als aber die Jünger es hörten, waren sie sehr erstaunt und sagten: Wer kann dann errettet werden? Mt 19,25
Die Jünger konnten kaum glauben, was sie gehört hatten. Aus ihrer jüdischen Sicht standen reiche Menschen dem Königreich Gottes am nächsten, weil der HERR Seinem Volk Israel materiellen Segen für Gehorsam verheissen hatte. Wer reich war, musste vieles im Leben richtig gemacht haben, dachten die Jünger. Wenn aber ein Reicher unmöglich in das Königreich Gottes eingehen kann (denn es ist unmöglich, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr passt), dann konnten verarmte Menschen erst recht keine Chance haben. Wir können diesen Gedanken nicht gut nachvollziehen, weil wir in Bezug auf Reichtum anders geprägt sind. Daran erkennt man übrigens, wie gross der Einfluss der eigenen Prägung bei der Auslegung der Bibel ist. Das darf man ja nie unterschätzen!
Wir betrachten Reiche in der Regel mit Argwohn, weil man uns beigebracht hat, dass man nur reich werden kann, wenn man egoistisch und skrupellos ist (um es sehr pointiert auszudrücken). Fromme Leute sind in unserer Vorstellung eher arm, nicht reich. Deshalb wären wir auch nicht überrascht, wenn wir hören würden, dass reiche Leute nicht in das Königreich Gottes eingehen können. Wir wären nicht sehr erstaunt und wir würden nicht jene Frage stellen, die die Jünger gestellt haben. Beziehen wir aber den jüdischen Hintergrund mit ein, verstehen wir die Reaktion der Jünger sehr gut. Dann erkennen wir auch, wie schockierend die Aussage des Herrn Jesus wirklich gewesen ist.
Vers 26
Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: Bei Menschen ist dies unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich. Mt 19,26
Die Jünger waren erschüttert über die Aussage des Herrn Jesus. Da sah Er sie an und beruhigte sie. Wie herrlich ist doch diese kurze Bemerkung, die man so leicht überliest: Er sah sie an! Hier liegt eine Betonung darauf, dass der HERR Seine Jünger vollumfänglich «abgeholt» hat. Sein Blick unterstrich einerseits den Ernst der Aussage, aber andererseits muss er die Jünger auch getröstet und beruhigt haben. Haben wir nicht auch schon selbst erlebt, wie gut es tut, wenn wir uns mitten in grossen Schwierigkeiten, Ängsten und Nöten plötzlich der Tatsache bewusst werden, dass der HERR uns sieht, ja, dass Er fokussiert auf uns blickt, hier mit uns ist und zusammen mit uns durch diese dunklen Täler geht? O, wie kostbar ist die bewusst erlebte Gegenwart Gottes gerade in Schwierigkeiten! Die Situation ändert sich nicht und doch ist plötzlich alles anders, denn der HERR sieht uns an, tröstet und beruhigt uns.
Ja, bei Menschen ist es unmöglich. Niemand kann in das Königreich Gottes eingehen. Alle kommen zu kurz. Zwischen uns und Gott gibt es einen weiten, tiefen Graben, den wir selbst durch unsere Sünden gezogen haben. Niemand von uns ist in der Lage, diesen Graben zu überwinden. Einige versuchen es gar nicht, andere machen einen kleinen Sprung und wieder andere holen Anlauf und springen weit, sehr weit zum Teil. Aber niemand erreicht die andere Seite. Selbst der beste und frommste Mensch schafft es nicht, den Graben, den er selbst produziert hat, zu überwinden. Doch Gott kann den Graben überwinden. Er kann alles; Er ist allmächtig. Durch das stellvertretende Opfer Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha hat Er eine Grundlage für die Versöhnung zwischen Ihm und jedem, der da will, gelegt. Er hat quasi auf Seiner Seite des Grabens das Kreuz aufgestellt und es dann so umgelegt, dass es nun quer über dem Graben liegt. Zwei Dinge sind entscheidend: Erstens, die Lösung kommt von Gottes Seite, nicht von unserer; zweitens, es gibt nur diese eine Brücke, nur diese eine Möglichkeit, in das Königreich Gottes einzugehen. Jeder andere Weg wird scheitern.
Vers 27
Da antwortete Petrus und sprach zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was wird uns nun werden? Mt 19,27
Petrus hatte das Gespräch zwischen dem Herrn Jesus und dem jungen Mann aufmerksam mitverfolgt. Dem jungen Mann hätte nur noch eins gefehlt: Er hätte allen Besitz verschenken und dem Herrn Jesus nachfolgen sollen. Petrus konnte nun gewissermassen sagen: Genau das haben wir getan! Was bedeutet das nun für uns? Nach der Logik des jungen Mannes hätte der Herr Jesus nun antworten müssen, dass die Jünger ins Königreich Gottes eingehen könnten. Doch wir werden sehen, dass die Antwort anders ausfiel, denn die Logik des jungen Mannes entsprach nicht dem Urteil Gottes.
Der Fehler des jungen Mannes und wohl auch der meisten Juden war die Annahme, dass wir Menschen es selbst in der Hand hätten, ob wir Zugang ins Königreich Gottes erhalten oder nicht. Der junge Mann dachte, er müsse dieses und jenes tun sowie andere Dinge lassen, also insgesamt ein vorbildliches, frommes Leben gemäss den Geboten Gottes führen, dann werde er dabei sein. So dachten auch die Juden und so denken bis heute viele christlich geprägten Menschen. Doch was wir tun, bringen und leisten können, wird niemals ausreichen! Niemand kann den Preis für seine Seele bezahlen. Eine entsprechende Antwort hätte der junge Mann niemals akzeptiert. Also liess sich der Herr Jesus auf sein Niveau ein und zeigte ihm einfach immer noch mehr auf, das er hätte tun und lassen sollen, um das Ziel zu erreichen – bis hin zu dem Punkt, an dem der junge Mann kapitulieren musste. Genau dann hätte er aber fragen müssen, wer ihm denn helfen könne, wenn er es selbst nicht schaffen könne! Ach, möchte der Herr Jesus noch viele Menschen an diesen Punkt führen und möchten noch viele Menschen Ihn fragen, wer ihnen denn helfen könne! «Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn er ist Herr über alle, und er ist reich für alle, die ihn anrufen» (Röm 10,12).
Vers 28
Jesus aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auch ihr werdet in der Wiedergeburt, wenn der Sohn des Menschen auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen wird, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Mt 19,28
Petrus und die übrigen Jünger hatten alles verlassen und waren dem Herrn Jesus nachgefolgt. Würden sie dafür das ewige Leben erhalten? Nein! Das ewige Leben kann nur geschenkt, nur aus Gottes Gnade dargereicht und nur durch Glauben, nicht durch Taten empfangen werden. Die Reformatoren haben diese beiden elementar wichtigen Glaubensgrundsätze als Teil der fünf «solas» auf ihre Fahnen geschrieben: sola gratia (nur aus Gnade) und sola fide (nur durch Glauben). Die übrigen «solas» lauten: sola scriptura (nur die Heilige Schrift), solus Christus (nur durch Jesus Christus) und soli Deo gloria (Gott allein die Ehre). Der springende Punkt ist, dass der Mensch nichts leisten kann, für das er quasi als Lohn das ewige Leben erhalten würde. Das ewige Leben gibt es nur geschenkt, nicht gekauft.
Sind dann unsere Taten bedeutungslos? Nein! Der HERR ist ein Belohner (Hebr 11,6). Er belohnt Treue und Fleiss. Die Jünger hatten eine besondere Treue gezeigt und einen besonderen Fleiss an den Tag gelegt, weshalb sie auch eine besondere Belohnung erhalten sollten. Sie werden auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Diese Verheissung gilt nur den Zwölfen, nicht uns. Doch auch wir werden, wenn wir dem Herrn Jesus treu und fleissig nachfolgen, eine entsprechende Belohng erhalten. Wir dürfen wissen, dass der HERR jeden Impuls für Ihn reichlich vergelten wird!
Vers 29
Und ein jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, wird hundertfach empfangen und ewiges Leben erben. Mt 19,29
Der HERR ist so gnädig und so gütig! Ach, wenn wir das doch nur mehr verstehen könnten! Was immer wir Ihm vertrauensvoll in die Hände legen, wird von Ihm vervielfacht und zurückerstattet. Wir sind oft wie der Bauer in einem Gleichnis, der von einem Fremden gebeten wurde, ihm etwas von seinen Bohnen zu geben. Weil der Bauer geizig war, gab er nur eine Bohne und zwar die kleinste. Der Fremde verwandelte die Bohne in Gold und gab sie dem Bauern mit den Worten zurück, dass er alles, was der Bauer ihm gegeben hätte, zu Gold gemacht hätte … Je mehr wir Gott geben, umso reichlicher kann Er uns wiederum segnen. Je mehr wir Ihm vertrauen, umso mehr kann Er unser Vertrauen belohnen. Das gilt für Besitz und für Beziehungen. Distanziert sich Deine Familie von Dir wegen Deines Glaubens an den Herrn Jesus? Du wirst eine grössere und bessere Familie finden! Musst Du schmal durch, weil Du dem HERRN viel von Deinem Besitz oder von Deinem Lohn gegeben hast? Du wirst wie ein König leben! Diese wunderbare Verheissung steht und darauf ist Verlass.
Der entscheidende Punkt dabei ist aber: «um meines Namens willen». Es geht um Verluste, die wir wegen unseres Glaubens an den Herrn Jesus hinnehmen müssen, nicht um irgendwelche Arten von Verlust. Entscheidend ist, dass wir auf Sein Wort hin im Glauben, also aus Gehorsam und in Abhängigkeit von Gott handeln. Ein solches Handeln wird immer reichlich gesegnet werden.
Vers 30
Aber viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein. Mt 19,30
Mit einer kurzen Ergänzung warnt der Herr Jesus vor einem allzu menschlich geprägten Leistungsdenken. Ja, es ist wahr, dass Gott Treue und Fleiss der Seinen belohnen wird, aber Er gibt nicht, wie Menschen geben. Wenn wir ganz auf uns allein gestellt sind, können wir Ihm gar nichts geben, das muss uns stets bewusst sein. Was wir in Treue und Fleiss für Ihn tun können, entspringt letztlich dem, was Er selbst in uns wirkt. «Denn Gott ist es, der in euch wirkt, sowohl das Wollen als auch das Wirken zu seinem Wohlgefallen» (Phil 2,13). Und weil es so ist, kann es vielleicht einmal den Eindruck machen, der Lohn, den Gott verteile, entspreche nicht der Treue und dem Fleiss, den wir aufgewendet haben. Dieser Eindruck täuscht aber, denn Gott handelt in allem, was Er tut, gerecht – viel gerechter, als wir es je könnten. Er lässt sich nicht blenden und nicht täuschen, sondern vergilt jedem genau nach dem, was angemessen ist. Die Folge davon ist, dass Erste Letzte und Letzte Erste sein werden. Was müssen wir darunter verstehen? Das erklärt das folgende Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ab Mt 20,1, das eine Erklärung dieser Aussage hier in Mt 19,30 ist (vgl. Mt 20,16).