Matthäus 8
Vers 1
Als er aber von dem Berg herabgestiegen war, folgten ihm grosse Volksmengen. Mt 8,1
Das Evangelium nach Matthäus stellt uns den Herrn Jesus Christus in erster Linie als den verheissenen Messias-König für Israel vor. Die Schilderung zielt darauf ab, Ihn zuerst als die Erfüllung aller Verheissungen einzuführen, weshalb wir gerade in den ersten Kapiteln besonders viele Prophezeiungen, Engel und Träume erwähnt finden, dann weiter zu zeigen, dass Er Sich sowohl in Worten als auch in Taten dem Volk als der Sohn Davids vorgestellt hat, schliesslich aber auch vorzustellen, wie das Volk Ihn abgelehnt und verworfen hat. In keinem der drei anderen Evangelien findet man beispielsweise den Bruch mit dem Volk Israel so drastisch und betont dargestellt wie in Mt 12. Aber noch befinden wir uns im zweiten Teil: Der Herr Jesus präsentiert sich als der verheissene König. Auf dem Berg hatte Er in erster Linie zu den Jüngern gesprochen, aber grosse Volksmengen waren anwesend, die gehört haben, wie Er die Verfassung bzw. das Grundgesetz Seines Reiches vorgestellt hat. Seine Worte hatten Autorität. Deshalb folgten Ihm zunächst, wie man es erwarten würde, grosse Volksmengen nach. Es waren nicht nur einige wenige Leute, sondern grosse Volksmengen, die nun sehen sollten, dass Er nicht allein mächtig in Worten, sondern auch erhaben in Werken war. Denn jetzt folgen einige ganz aussergewöhnliche, einmalige Wunderzeichen.
Vers 2
Und siehe, ein Aussätziger kam heran und warf sich vor ihm nieder und sprach: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. Mt 8,2
Nun geschah etwas ganz Aussergewöhnliches: Ein Aussätziger kam zum Herrn Jesus. Ja aber, was war denn daran so aussergewöhnlich? Der Aussatz war eine extrem ansteckende, fürchterliche und unheilbare Krankheit. Wer vom Aussatz befallen wurde, trug den Stempel des Todes sichtbar an seinem Leib. Das Gesetz für Israel enthielt sehr detaillierte Vorschriften darüber, wie verfahren werden musste, sobald Aussatz diagnostiziert worden war (3.Mose 13). Wichtig war dabei, dass ein Aussätziger die Gesellschaft sofort verlassen musste, damit er niemanden anstecken konnte. Wenn sich ihm jemand näherte, musste er seinen Mund und seine Nase bedecken und von weitem rufen: «Unrein, unrein!» (3.Mose 13,45). Einsam mussten die Aussätzigen unter vielen Qualen langsam dahinsiechen. In Israel gab es viele Aussätzige, aber keiner wurde geheilt (Lk 4,27). Das Gesetz für Israel enthielt zwar viele Vorschriften darüber, wie zu verfahren war, wenn jemand geheilt worden war (3.Mose 14), aber diese Vorschriften waren toter Buchstabe – es kam nie zu einem Anwendungsfall, blieb blosse Theorie.
Dass nun ein Aussätziger zum Herrn Jesus und zur grossen Volksmenge kam, die Ihm folgte, war folglich in mehrerlei Hinsicht aussergewöhnlich: Der Aussätzige hätte sich den Volksmengen gar nicht nähern dürfen; der Aussätzige hatte keinen einzigen Präzedenzfall für eine Heilung, aber Tausende von Präzedenzfällen für eine ausgebliebene Heilung und folglich keinerlei Grundlage für seine Hoffnung; trotzdem mass er dem Herrn Jesus ohne Umschweif die Macht zu, ihn heilen zu können. Woher hatte der Aussätzige diese Hoffnung, diese Zuversicht?
Die führenden Schriftgelehrten unter den Juden hatten über all die Jahrhunderte natürlich auch bemerkt, dass Aussatz ganz offensichtlich unheilbar sein musste. Sie waren deshalb im Verlauf der Zeit zur Auffassung gelangt, dass nur der Messias selbst einen Aussätzigen heilen könne. Nach rabbinischer Tradition galt die Heilung von Aussatz deshalb schon zu jener Zeit als ein klares messianisches Zeichen, d.h. als ein Beleg dafür, dass der Heilende der Messias sein musste. Vor diesem Hintergrund mutet das Verhalten des Aussätzigen noch seltsamer an: War er etwa zur Überzeugung gelangt, dass der Herr Jesus der verheissene Messias (= der Christus) war? Es muss so sein, denn anders lässt sich nicht erklären, dass er gegen jede Regel zum Herrn vordrang und Ihm sagte: Du kannst mich reinigen! Das ist übrigens typisch vor allem für das Evangelium nach Matthäus, dass immer wieder Menschen von ausserhalb des jüdischen Systems beschrieben werden, die besser als jene innerhalb des jüdischen Systems erkannt haben, wer der Herr Jesus wirklich gewesen ist.
Nun hatte der Aussätzige also die feste Zuversicht, dass der Herr Jesus ihn heilen könne, aber eine Unsicherheit war noch da: Wollte der Herr ihn heilen? Ist das nicht eine Frage, die viele von uns schon oft geplagt hat? Vielleicht haben wir erkannt, dass der Herr Jesus jeden Menschen retten, jeden Menschen heilen, jedem Menschen helfen kann, aber wir denken, dass wir so schlecht seien, dass Er uns nicht retten, heilen oder zur Hilfe eilen wolle. Du denkst, Du seist der schlechteste Mensch, der je gelebt habe, der Grösste aller Sünder, der Schlimmste von allen. Wieso sollte der Herr Dir etwas Gutes tun wollen? Ja, Du glaubst, dass Er jedem anderen helfen werde, aber Dir, Dir werde Er niemals helfen! Nun, Du liegst komplett falsch! Erstens gibt es keinen einzigen Menschen auf der ganzen weiten Welt, der es auch nur verdient hätte, für den heutigen Tag oder für irgendeinen anderen Tag etwas zu essen, etwas zu trinken oder auch nur die Luft zum Atmen zu erhalten. Kein einziger Mensch ist je würdig gewesen, auch nur eine Sache von Gott zu erhalten! Schau zum besten Menschen, den Du Dir nur vorstellen kannst, betrachte ihn genau, bewundere ihn, wenn Du willst, aber dann rufe Dir Jes 64,5 in Erinnerung! Da heisst es, dass sogar unsere Gerechtigkeiten – das Beste, das wir zu bieten haben – wie ein beflecktes Kleid sind in den Augen des HERRN! Niemand von uns hat Gott etwas zu bieten; Er kann auf keinen einzigen Mensch blicken und sagen, weil der Mensch so und so sei oder dies und jenes getan habe, wolle Er ihm helfen. So etwas gibt es nicht, hat es noch nie gegeben. Zweitens wird in der Bibel klar und eindeutig gesagt, wer der Grösste aller Sünder gewesen ist, und das bist nicht Du! Es ist der Apostel Paulus. «Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu retten, von welchen ich der erste bin» (1.Tim 1,15). Wenn der HERR ihn gerettet hat, wird Er auch Dich retten.
Vers 3
Und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich will. Sei gereinigt! Und sogleich wurde sein Aussatz gereinigt. Mt 8,3
Für mich sind dies mit die vier schönsten Worte in der Bibel: «Ich will; sei gereinigt!» Wie wunderbar ist unser Herr Jesus! Da kommt ein Aussätziger gegen jede Regel zu Ihm, traut Ihm zu, dass Er ihn vom Aussatz heilen kann, ist sich aber nicht sicher, ob Er das auch will. Und der Herr erklärt unumwunden: «Ich will!» O, wie wunderbar ist Er! Immer wieder lesen wir in der Bibel davon, wie Er will, oder sogar, wie Er muss! Er will Menschen retten und heil machen, Er muss zu diesem oder jenem Menschen gehen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist! Er musste bei Zachäus einkehren, Er musste durch Samaria ziehen und Er wollte den Aussätzigen reinigen! Niemand von uns hätte je zum HERRN gefunden, wenn Er nicht ausgegangen wäre, um uns zu finden! Ja, so wollte Er es, so musste es geschehen!
Aber da ist noch mehr! Der Prophet Haggai musste den Priestern Israels einmal zwei Fragen stellen: «Wenn jemand heiliges Fleisch im Zipfel seines Gewandes trägt und mit seinem Zipfel Brot oder Gekochtes oder Wein oder Öl oder irgendeine Speise berührt, wird das dadurch heilig?» (Hagg 2,12); und: «Wenn jemand, der sich an einer Leiche verunreinigt hat, dies alles berührt, wird es dadurch unrein?» (Hagg 2,13). Die Priester beantworteten beide Fragen richtig: Unreines wird durch die Berührung mit Heiligem nicht heilig, aber Heiliges wird durch die Berührung mit Unreinem unrein. Dieses doppelte Prinzip bildete gewissermassen das Rückgrat des Gesetzes für Israel: Alles war darauf ausgerichtet, das Heilige heilig zu bewahren und ja nicht mit Unreinem in Verbindung zu bringen. So sehen wir beispielsweise beim Gesetz für den Nasir (den Abgesonderten) in 4.Mose 6, dass die Berührung mit einer Leiche den Nasir verunreinigte und dazu führte, dass er sein Gelübde nochmals komplett von vorne leisten musste. Man stelle sich das einmal vor: Ein Israelit gelobte beispielsweise, für 100 Tage als Nasir für Gott zu leben, beachtete 99 Tage lang alles peinlich genau, aber am letzten Tag starb jemand neben ihm plötzlich, fiel um und berührte den Nasir, nur den kleinen Zeh – die ganzen 99 Tage waren umsonst! Der Nasir musste sich reinigen und nochmals von ganz vorne beginnen! So ernst ist es Gott mit der Reinheit und der Heiligkeit der Seinen!
Als nun der Aussätzige zum Herrn Jesus kam, da war völlig klar: Der Herr Jesus war der Heilige, der Reine, der Abgesonderte, der Nasir; der Aussätzige war der Unreine. Aber was tat der Herr Jesus? Er streckte seine Hand aus und rührte den Aussätzigen an! Der Heilige berührte den Unreinen! Aber der Unreine verunreinigte nicht den Heiligen, sondern der Heilige heiligte den Unreinen! Hatte man so etwas schon einmal gehört in Israel? Unmöglich! Und doch geschah genau dies vor den Augen der Juden! Der Herr Jesus war nicht einfach nur rein, heilig und unschuldig wie Adam vor dem Sündenfall. Er war nicht nur unbefleckt. Nein, Er war in Seinem innersten Kern die Heiligkeit in Person, nicht ein Unschuldiger, sondern ein Überwinder. Er war so voller Heiligkeit, dass Er überall jeden Schmutz, jede Unreinheit beseitigen konnte. Wenn Adam in seiner ursprünglichen Unschuld den Aussätzigen berührt hätte, hätte er sich verunreinigt. Aber wenn der Herr Jesus einen Aussätzigen berührte, geschah bei Ihm nichts, der Aussätzige wurde dagegen gereinigt. So heilig ist der Herr Jesus! Die Juden hätten vor Erstaunen ohnmächtig umfallen oder wenigstens ausser sich geraten müssen!
Vers 4
Und Jesus spricht zu ihm: Siehe, sage es niemandem, sondern geh hin, zeige dich dem Priester, und bring die Gabe dar, die Mose angeordnet hat, ihnen zum Zeugnis! Mt 8,4
Wenn der Herr Jesus heilt, dann heilt Er sofort, vollständig und bleibend. Der Aussätzige konnte sich sofort nach der Berührung mit dem Herrn wieder in der Gesellschaft bewegen, denn er war nicht mehr aussätzig und er blieb gesund. Nun war es so in Israel, dass über alle möglichen Dinge genaustens Buch geführt wurde, unter anderem auch darüber, wer an Aussatz erkrankt war. Das Prozedere in 3.Mose 13 sah nämlich vor, dass die Diagnose von einem Priester gestellt werden musste. Wenn nun ein Priester gerufen wurde und die Diagnose Aussatz stellte, verzeichnete er den Namen des Aussätzigen in einem zentralen Register. So konnte sichergestellt werden, dass der Aussätzige sich nicht wieder in die Gesellschaft schlich und die Ansteckung von weiteren Personen riskierte.
Der Herr Jesus sandte den ehemals Aussätzigen nun zu den Priestern. Er sollte sich zeigen und um die Durchführung des Rituals in 3.Mose 14 bitten. Das muss man sich einmal vorstellen! Das Prozedere in 3.Mose 14 war noch nie angewendet worden! Seit Jahrhunderten war es bekannt, aber es hatte keinen einzigen Fall einer Heilung eines aussätzigen Israeliten gegeben. Nun kam da einer, von dem man eindeutig anhand des zentralen Registers nachprüfen konnte, dass beim ihm Aussatz diagnostiziert worden war, aber er stand jetzt da und war ganz offensichtlich kerngesund! Zum allerersten Mal mussten die Priester 3.Mose 14 anwenden. Das muss sie umgehauen haben, zumal ihnen ja bekannt war, dass nur der Messias so etwas bewirken konnte!
Was lag wohl am Nächsten? Der Priester wird den Aussätzigen gefragt haben, wer ihn geheilt habe. Der Aussätzige wird ungefähr so geantwortet haben: Jesus Ben Joseph aus Nazareth. Der Priester wird sofort das zentrale Register, das im Tempel aufbewahrt war (und deshalb leider im Jahr 70 n.Chr. komplett zerstört wurde), konsultiert und festgestellt haben, dass dieser Jesus Ben Joseph ein Nachkomme aus der Linie von David war. Zwei deutliche Hinweise auf den Messias! Wo war er nochmals zur Welt gekommen? In Bethlehem! Drei Hinweise! Wie viel Zeit war seit dem Wiederaufbau der Mauer von jerusalem vergangen? Mehr als 450 Jahre und damit fast die ganze vom Prophet Daniel in Dan 9,24ff. genannte Dauer von 69 Jahrwochen (= 69 mal sieben Jahre)! Vier Hinweise!
Verwundert es uns da noch, dass es in Lk 5,17 kurz nach der Schilderung der Heilung des Aussätzigen (Lk 5,12ff.) heisst: «Und es geschah an einem der Tage, dass er lehrte, und es sassen da Pharisäer und Gesetzeslehrer, die aus jedem Dorf von Galiläa und Judäa und aus Jerusalem gekommen waren»? Wie kann es sein, dass die Crème de la crème aus jedem Dorf von Galiläa und Judäa sowie aus Jerusalem nach Galiläa kam, um einem Wanderprediger zuzuhören? Ja, ganz einfach: Sie hatten den hochgradigen Verdacht, dass Dieser der Messias sein könnte, und wollten sich nun selbst ein Bild von Ihm machen! Alles war so offensichtlich und so eindeutig, dass es eigentlich gar keinen Zweifel mehr geben konnte, und das Verhalten dieser führenden Juden zeigt, dass sie sich selbst bereits ziemlich sicher waren. Aber dann? Dann stellte er sie und ihren toten Formalismus bloss – und sie beschlossen, Ihn zu töten!
Vers 5
Als er aber nach Kapernaum hineinkam, trat ein Hauptmann zu ihm, der ihn bat Mt 8,5
Das Ziel von Matthäus ist es, uns den Herrn Jesus Christus als den verheissenen Messias vorzustellen. Die Ereignisse sind deshalb nicht so streng chronologisch angeordnet wie im Markus-Evangelium, folgen allerdings insgesamt doch im Wesentlichen dem zeitlichen Ablauf, zumindest eher, als dies im Lukas-Evangelium der Fall ist. Jedenfalls folgt hier in Kapitel 8 – gleich im Anschluss an die Bergpredigt, die wir so nirgends in den anderen Evangelien finden – ein Zeichen auf das andere. Der Zweck dieser Darstellung ist offensichtlich: Der Leser soll überzeugt werden, dass der Herr Jesus mächtig gewesen ist sowohl in Wort als auch in Tat.
Auf die Heilung des Aussätzigen folgt deshalb nun unmittelbar die Anfrage eines römischen Hauptmannes, eines Heiden (Nichtjuden). Die Juden waren ja wie erwähnt gehalten, das Heilige sorgfältig heilig und rein zu bewahren. Unter anderem war es ihnen deshalb verboten, Mischehen einzugehen. Aber mehr noch: Durch einzigartige und strenge Speisegebote hat der HERR es den Juden im Ergebnis verunmöglicht, gemeinsam mit Heiden zu essen. Die Heiden konnten zwar zu den Juden kommen und bei ihnen essen, aber das Umgekehrte war nicht möglich. Dadurch hat der HERR eine Distanz geschaffen. Räumlich wurde diese Distanz beispielsweise auch zur Zeit des Herrn Jesus durch eine Trennung der verschiedenen Vorhöfe des Tempels angezeigt. Im Prinzip gehörte zum Tempel ein einziger grosser Vorhof. Schon früh wurde dieser eine Vorhof, der nur von reinen jüdischen Männern betreten werden durfte, um weitere Vorhöfe ergänzt, beispielsweise um den Vorhof der Frauen oder auch um einen Vorhof der Heiden. Die Idee war, dass Heiden in einem eigenen Vorhof Gott nahe kommen durften – aber nicht zu nahe! Eine Zwischenwand trennte die Heiden strikt von den Juden. Hätte ein Heide diese Zwischenwand übertreten, wäre er des Todes gewesen. Diese Zwischenwand wird übrigens in Eph 2,14 erwähnt.
Vor diesem Hintergrund ist es doch – zumindest für einen Juden – erstaunlich, dass der Herr Jesus Seine messianischen Zeichen an solchen tat, die eigentlich gar nicht zur «reinen» jüdischen Gesellschaft gehörten: Zuerst heilte Er einen Aussätzigen, dann half er einem Ausländer. O, wie deutlich hätte dieses Verhalten doch zu den Juden sprechen müssen! Doch ich bin gewiss, sie haben das sowohl bemerkt als auch verstanden. Gerade dieses Verhalten ist wohl mit ein starker Grund für ihren Hass auf den Herrn Jesus gewesen, der nicht die frommen Leute innerhalb des religiösen Systems – wie von ihnen erwartet – belohnt, sondern jenen ausserhalb des Systems (unverdiente) Gnade erwiesen hat.
Vers 6
und sprach: Herr, mein Diener liegt zu Hause gelähmt und wird schrecklich gequält. Mt 8,6
Diese Anfrage war nun rein vom Problem her gesehen nichts Aussergewöhnliches. Ein Diener des Hauptmannes lag zuhause gelähmt und schrecklich gequält. Aus dem Text wird nicht ganz klar, ob es sich um eine dämonische Besessenheit oder aber um eine Krankheit gehandelt hat. Die Antwort des Herrn im folgenden Vers spricht eher für eine Krankheit, denn sonst hätte Er nicht «heilen», sondern «befreien» gesagt. Der Herr Jesus hatte allerdings davor schon sowohl Besessene befreit als auch Kranke geheilt. Das Besondere an diesem Fall war, wie Er das getan hat, aber dazu später.
Besonders war auch, wie erwähnt, dass ein Heide zu Ihm kam, und dass dieser Heide nicht für sich, sondern für einen Angestellten bat. Dieser römische Hauptmann musste von Berufs wegen hart und stark sein. Aber zumindest dieser eine Diener (ich behaupte: alle seine Untergebenen und Angestellten) lag ihm persönlich am Herzen. Ja, er lag ihm so sehr am Herzen, dass er seine Erkrankung nicht ertragen konnte, sondern sich sofort aufmachte, um Hilfe zu holen. Nur der Glaube kann ihn statt zu einem Wunderheiler zum Herrn Jesus geführt haben. Bei Ihm verwendete er sich für seinen Diener. Wo gibt es heute noch solche Vorgesetzte und Arbeitgeber? Oder wer von uns hat ein Herz für seine Nächsten? Wer von Herzen liebt, der betet für seine Nächsten. Jemand hat einmal geschrieben, dass sich das Mass unserer Liebe zu einer bestimmten Person daran zeigt, wie sehr wir für diese Person beten. Da ist etwas Wahres dran. Der Herr Jesus hat am Beispiel des Aussätzigen gezeigt, dass Er helfen kann und dass Er helfen will. Wo findet man eine Hilfe wie bei Ihm? Sollten wir deshalb nicht all jene, die uns wirklich am Herzen liegen, im Gebet direkt zu Ihm bringen?
Vers 7
Und Jesus spricht zu ihm: Ich will kommen und ihn heilen. Mt 8,7
So, wie Matthäus uns die Begebenheit schildert (er lässt gewisse Details aus, die wir aus anderen Evangelien kennen), haben wir es hier mit einem Heiden zu tun, der sich direkt an den Herrn Jesus gewendet hat. Für einen Juden war es ungewöhnlich, mit einem Heiden mitzugehen, denn die Juden waren immer sehr darauf bedacht, sich ja nicht irgendwie rituell zu verunreinigen, weshalb sie den Kontakt zu Heiden möglichst gemieden haben. Die anderen Evangelisten erwähnen, dass dieser römische Hauptmann bei den Juden ein hohes Ansehen genoss, aber Matthäus erwähnt das absichtlich nicht, denn für den Leser soll die Sache so erscheinen, als wäre der Herr Jesus sofort bereit gewesen, einem Heiden, von dem man nichts weiter wusste, Heil zu bringen.
Wieso wird die Sache bei Matthäus so geschildert? Nun, Matthäus will uns den Herrn Jesus in erster Linie als den Messias-König für die Juden vorstellen. Die alttestamentlichen Prophezeiungen auf diesen «König der Juden» enthalten aber immer wieder Hinweise darauf, dass Er das Heil nicht nur den Juden, sondern auch den weiteren Nationen bringen werde – was die Juden für gewöhnlich geflissentlich überlesen haben, weil es ihnen zuwider war. Im Verlauf der Schilderung der Ereignisse durch Matthäus wird immer klarer, dass die Juden ihren Messias verworfen haben und dass gerade deshalb das Heil nicht zu ihnen, sondern zu den Nationen ausgegangen ist. Immer wieder finden wir, dass die religiösen Führer des Volkes den Herrn abgelehnt haben, während sich solche von ausserhalb dieses Systems Ihm zugewandt und bei Ihm das Heil gefunden haben. Der Aussätzige wurde gereinigt und dem Heiden wurde geholfen. Hätte Matthäus erwähnt, dass dieser römische Hauptmann bei den Juden in einer besonderen Gunst stand, hätte er die Aussagekraft dieser Begebenheit gemindert. Wir müssen die Harmonie der göttlichen Schriften bewundern, die sich nicht nur durch die Worte, die sie enthalten, sondern auch durch jene, die bewusst weggelassen werden, auszeichnen.
Vers 8
Der Hauptmann aber antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht würdig, dass du unter mein Dach trittst; aber sprich nur ein Wort, und mein Diener wird gesund werden. Mt 8,8
Nur der Glaube, nur das Ziehen des Vaters in den Himmeln (vgl. Joh 6,44) konnte den römischen Hauptmann zum Herrn Jesus geführt haben. Aber über die Qualität dieses Glaubens wüssten wir nichts, wenn das Gespräch nicht eine unerwartete Wendung genommen hätte. Offenbar war dem Hauptmann bewusst, dass Juden nicht bei Heiden einkehren, dass es also für den Herrn Jesus ungeziemend gewesen wäre, sein Haus zu betreten. Deshalb wollte Er das nicht zulassen. Aber da war noch mehr: Der Hauptmann hatte so eine hohe Meinung vom Herrn Jesus, dass er erstens sich selbst als unwürdig erachtete, so hohen Besuch zu empfangen, und dass er zweitens dem Herrn Jesus zutraute, den Diener aus der Ferne mit nur einem Wort zu heilen. Ist das nicht erstaunlich? Während die Juden auf jedes offensichtliche messianische Zeichen nur mit Ablehnung reagierten, traute dieser Heide dem Herrn Jesus, von dem er praktisch nichts wissen konnte, alles, sogar das Undenkbare, zu!
Vers 9
Denn auch ich bin ein Mensch unter Befehlsgewalt und habe Soldaten unter mir; und ich sage zu diesem: Geh hin!, und er geht; und zu einem anderen: Komm!, und er kommt; und zu meinem Knecht: Tu dies!, und er tut es. Mt 8,9
Der römische Hauptmann hatte wohl keine Kenntnis vom Alten Testament, aber er besass eine aussergewöhnliche Einsicht. Ihm war klar, dass Worte Macht haben, wenn sie in Autorität gesprochen werden. Als Glied des römischen Heeres war es für ihn selbstverständlich, dass er die Befehle seiner Vorgesetzten befolgte und dass seine Untergebenen seinen Befehlen gehorchten. Weshalb war das so? Weil jeder Vorgesetzte Autorität über seine Untergebenen hat. Nun hatte er erkannt, dass der Herr Jesus hierarchisch weit über der Krankheit stand, die seinen Diener befallen hatte. Also schloss er, dass die Krankheit Seinem Wort gehorchen müsse. Die Schlussfolgerung war kühl, rational und logisch; die Überlegung hatte nichts mit Unverstand oder Phantasterei zu tun, aber ihr lag ein enorm grosses Bild vom Herrn Jesus zugrunde, das der Hauptmann offensichtlich haben musste. Das war der entscheidende Punkt: Er dachte gross vom HERRN, während die religiösen jüdischen Führer nur gross von sich selbst dachten. Hier lag das Geheimnis des Glaubens: Der Hauptmann traute dem Herrn Jesus alles zu. So sollten auch wir ein grosses Bild von Gott, vom Herrn Jesus haben.
Vers 10
Als aber Jesus es hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch, bei keinem in Israel habe ich so grossen Glauben gefunden. Mt 8,10
Der Herr Jesus wunderte sich über diese Bezeugung des Glaubens. Das bedeutet nicht, dass Er überrascht gewesen wäre, denn als Gott wusste und weiss Er alles. Nein, das war ein Ausdruck der Freude, die dieses Glaubensbekenntnis des römischen Hauptmannes bei Ihm auslöste. Selbst nicht in Israel, wo Er am meisten hätte erwarten dürfen, hatte er einen so grossen Glauben gefunden! Dieser Heide hatte grösser von Ihm gedacht und Ihn dadurch mehr geehrt als alle anderen, mit denen Er es bislang zu tun gehabt hatte. Der Glaube des Hauptmannes war gross, weil ihm ein grosses Bild vom HERRN zugrunde lag. Es ging nicht darum, wie fest der Hauptmann an den Herrn glaubte, als ob seine Glaubens-Anstrengung ausschlaggebend gewesen wäre, sondern es ging darum, welches Bild der Hauptmann vom HERRN hatte. Wir müssen uns nicht bemühen, besonders fest an Gott zu glauben, sondern wir müssen danach trachten, besonders gross von Gott zu denken. Nicht die Grösse des Glaubens an Gott, sondern die Grösse des Gottes, an den wir glauben, ist entscheidend.
Vers 11
Ich sage euch aber, dass viele von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tisch liegen werden in dem Reich der Himmel, Mt 8,11
Der aussergewöhnliche Glaube des römischen Hauptmannes bot dem Herrn Jesus nun die Gelegenheit, einen allgemeinen Grundsatz über das Königreich Gottes (das Reich der Himmel) zu betonen: Nicht die natürliche Abstammung ist für den Eingang in dieses Königreich ausschlaggebend, sondern der Glaube. Die Juden waren überzeugt, dass sie als das auserwählte Volk Gottes ein Exklusivrecht darauf hatten, einmal mit den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob zu Tisch zu liegen und die Segnungen des Königreiches zu geniessen. Sie ignorierten die vielen Stellen im Alten Testament, die von der Teilhabe der übrigen Nationen an den Segnungen dieses Königreiches sprachen. Der Herr Jesus betonte nun, dass viele Menschen von Osten und Westen in das Königreich eingehen werden, was den Juden ein Anstoss war. Aber damit nicht genug! Gleich sollte ein noch grösserer Anstoss folgen.
Vers 12
aber die Söhne des Reiches werden hinausgeworfen werden in die äussere Finsternis; da wird das Weinen und das Zähneknirschen sein. Mt 8,12
Die «Söhne des Reiches» sind jene, die aufgrund ihrer natürlichen Abstammung ein Anrecht auf einen Platz im Königreich des Messias hatten, das sind die Juden. Der Herr Jesus leugnete diesen Grundsatz nicht und Er hebelte ihn auch nicht aus. Diesbezüglich liegen die allermeisten Christen leider falsch, weil sie nicht verstehen wollen, dass der Ratschluss Gottes weitaus vielschichtiger ist, als sie wahrhaben wollen. Die meisten Christen lesen vom Königreich Gottes und denken an den Himmel und an die Hölle als Gegensatz dazu. Aber das Reich der Himmel, das Königreich Gottes ist eine Sache, die mit dieser Erde zu tun hat. Gott hat es gefallen, den Vorsatz zu fassen, diese verfluchte Erde wieder aufblühen und eine tausend Jahre währende Zeit des überfliessenden Segens geniessen zu lassen. Ihm hat es gefallen, Sich ein Volk auf dieser Erde besonders als Kanal für diesen Segen auszuerwählen, das sind die Juden. Der Herr Jesus wird auf diese Erde zurückkehren und die Herrschaft über Israel antreten. Er wird tausend Jahre lang als König über Israel regieren, aber durch Ihn und durch Israel werden auch alle anderen Nationen gesegnet werden. Viele alttestamentliche Stellen und auch Offb 21,9ff. sprechen von dieser Zeit des Segens für diese Erde – noch bevor der HERR einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird.
Als Volk hat Israel seine Segnungen nie verloren und wird es seine Segnungen auch nie verlieren, «denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar» (Röm 11,29). Aber das bedeutet nicht, dass alle anderen Völker verworfen wären, und schon gar nicht, dass jeder Israelit automatisch persönlich Anteil an diesem Segen hätte. Es geht nur um die besondere Stellung des Volkes insgesamt und es bezieht sich nur auf diese Erde. Obwohl nichts einfacher und klarer sein könnte, haben weder die Juden noch die Christen diese Tatsachen wirklich verstanden. Der Herr Jesus machte deshalb nun deutlich, dass Menschen aus den übrigen Nationen des Segens anteilhaftig sein würden, aber auch, dass einzelne Juden, die eigentlich «Söhne des Reiches» sind, hinausgeworfen würden. Dabei sprach Er nicht von der Hölle oder vom Totenreich, sondern – unbestimmt – von der «äusseren Finsternis», wo man weinen und mit den Zähnen knirschen, also eine tiefe Form der Reue und Verzweiflung sowie des seelischen Schmerzes empfinden wird. Das Zähneknirschen (Bruxismus) ist schon heute ein bekanntes nächtliches Phänomen, das in aller Regel im Zusammenhang mit seelischem Stress auftritt. Mit der unbestimmten Ausdrucksweise machte der Herr Jesus also klar, dass es darum geht, die Segnungen des Königreiches auf dieser Erde zu verpassen. Wir sollten respektieren, dass Er weder vom Hades noch von der Gehenna gesprochen hat, und deshalb nicht versuchen, das irgendwie näher einzugrenzen.
Vers 13
Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin, dir geschehe, wie du geglaubt hast! Und der Diener wurde gesund in jener Stunde. Mt 8,13
Dem Hauptmann geschah, wie er geglaubt hatte. Wie hatte er denn geglaubt? Mit grosser Kraft, mit viel Anstrengung? Nein, nichts dergleichen. Der Hauptmann hatte einen schlichten, einfachen Glauben, den Glauben eines Kindes, gezeigt, denn die aussergewöhnliche Qualität seines Glaubens bestand darin, dass er dem Herrn Jesus – «einfach so» – bedingungslos vertraut hatte. Er hatte nicht anderswo nach Hilfe gesucht, sondern er war zum HERRN gegangen. Vor Ihm stehend hatte er bezeugt, dass es für IHN keine Rolle spiele, ob Er den Diener berühre oder nur aus der Ferne ein Wort spreche. Mit anderen Worten hatte der Hauptmann dem Herrn Jesus (wie ein Kind seinem Vater) einfach alles zugetraut. Und dieser Glaube wurde belohnt, denn anders kann es nicht sein, da Gott ein Belohner ist (Hebr 11,6) und gewissermassen – mit aller Ehrfurcht ausgedrückt – nur darauf wartet, dass wir im Vertrauen zu Ihm kommen. Der Untertitel eines sehr empfehlenswerten Andachtsbuches – «Aus Glauben leben» von Jan Philip Svetlik – bringt das treffend zum Ausdruck: «Gott beim Wort nehmen und Ihn durch Vertrauen ehren».
Vers 14
Und als Jesus in das Haus des Petrus gekommen war, sah er dessen Schwiegermutter fieberkrank daniederliegen. Mt 8,14
In der Einleitung des Johannes-Evangeliums heisst es: «Das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden» (Joh 1,17). Jenes Evangelium dreht sich besonders um den ewigen Sohn Gottes, in dem sich die Fülle der Gottheit geoffenbart hat, während das Matthäus-Evangelium uns den Herrn Jesus schwerpunktmässig als den lange verheissenen Messias-König für Israel vorstellt. Wir können diese Schwerpunkte unterscheiden, aber natürlich nicht trennen, denn in der Person Jesu Christi ist alles in Vollkommenheit vereint zu finden. Wenn Er Sich durch Wunder und Zeichen als der Messias vorgestellt hat, dann ging es Ihm nicht einfach darum, diese Tatsache unter Beweis zu stellen, denn Er war – Er ist! – so viel mehr als der lange erwartete Messias, nämlich der Sohn Gottes, Gott gepriesen in Ewigkeit! Und Gott ist gütig, barmherzig, voller Liebe und mehr noch: Er ist Liebe! Konnte Er hier auf diesem Schauplatz des Elends, der Sünde und des Leidens umhergehen und auch nur eine Sekunde untätig bleiben? Unmöglich!
Und so führt uns auch der Evangelist Matthäus durch die Leitung und Inspiration des Heiligen Geistes im Kapitel 8 seines Evangeliums nahtlos von einem Gnadenerweis des HERRN zum nächsten. Kaum war der Aussätzige gereingt, erschien der Hauptmann und kaum war die Bitte des Hauptmannes erfüllt, trat der Herr Jesus in ein Haus, in dem eine schlimme Krankheit wütete. In unserer Gesellschaft dürfen wir den Segen eines sehr hohen medizinischen Standards geniessen. Noch immer gilt hohes Fieber als gefährlich, aber wir haben Mittel und Wege gefunden, in den meisten Menschen mit den Dingen, die uns Gott der HERR in der Schöpfung zur Verfügung gestellt hat, Fieber im Griff zu halten, zu bekämpfen und zu besiegen. Das war zur Zeit, als der Herr Jesus als Mensch auf dieser Erde wandelte, noch anders. Die alten Rabbiner hatten die Fieberglut in ihren Schriften offenbar als eine Art «kleines Höllenfeuer» beschrieben, dem mit menschlichen Mitteln nicht beizukommen sei. In ihren Augen hatte die Heilung von Fieber denselben Wundercharakter wie die Reinigung eines Aussätzigen!
Im vor uns liegenden Vers wird uns die Krankheit anschaulich und treffend beschrieben: Sie schwächt den Kranken und wirft ihn ins Bett; er wird unfähig, irgendwas auszurichten. Seine ganze Energie wird für das unnatürliche Hochheizen des Körpers zur Bekämpfung des Infekts benötigt. Wenn wir richtiges Fieber haben, stellt nur schon der Gang vom Bett auf die Toilette eine fast unbewältigbare Anstrengung dar. Wir können nichts mehr essen, uns nicht mehr bewegen, kaum noch etwas trinken. So liegen wir «danieder».
Für römisch-katholisch geprägte Christen dürfte dieser Vers allerdings noch ein besonders brisantes Detail enthalten: Die Person, die fieberkrank daniederlag, war die Schwiegermutter von Simon Petrus. Der Apostel Petrus war also offensichtlich verheiratet! Das deckt sich nicht ganz mit der Lehre, die Päpste, die Kardinäle, die Bischöfe und sogar die Priester müssten unverheiratet sein. Zwar trifft es zu, dass der Apostel Paulus (von dem sich die päpstliche Linie nicht ableitet) nie geheiratet hat, aber er hat dies selbst als einen ungewöhnlichen Fall vorgestellt und nicht als das Normale. Die meisten Apostel waren verheiratet und hatten Kinder. Erst durch die Einflüsse der heidnisch-griechischen Philosophie, die die Lehre der römisch-katholischen Kirche leider sehr stark geprägt haben, ist eine Geringschätzung des Leiblich-Materiellen in die Lehrüberzeugungen eingedrungen, die schliesslich unter anderem im Zölibat gegipfelt hat. In der Bibel findet diese Lehre keine Stütze.
Vers 15
Und er rührte ihre Hand an, und das Fieber verliess sie; und sie stand auf und diente ihm. Mt 8,15
Es ist unglaublich anziehend zu sehen, wie der Herr Jesus geheilt hat. Im Falle des Aussätzigen sprach Er ein – o, wie kostbares! – Wort, während Er zugleich den Aussätzigen zärtlich anrührte. Im Falle des Hauptmannes sprach Er ein Wort auf Entfernung und im Falle der Schwiegermutter des Petrus wirkte Er durch eine stille, sanfte Berührung. Die Wege des HERRN sind immer neu und immer frisch. Da gibt es keine eingefahrenen Spuren, keinen Alltagstrott. Bei uns ist es – oder besser gesagt: erscheint es – oft anders, aber das liegt nur an einer falschen Sicht auf das Leben. Man könnte sich doch beispielsweise fragen, ob es etwas Langweiligeres gebe als das, was die Sonne tagtäglich (vermeintlich, aus unserer irdischen Perspektive) tut: Tag für Tag zieht sie die immer gleiche Bahn. Im Osten geht sie auf, sie wandert nach Süden und im Westen geht sie wieder unter. O, was für ein Alltagstrott! Aber wie lesen wir in Psalm 19? «Und sie, wie ein Bräutigam aus seinem Gemach tritt sie hervor; sie freut sich wie ein Held, die Bahn zu durchlaufen. Am einen Ende des Himmels ist ihr Aufgang und ihr Umlauf bis zum anderen Ende, und nichts ist vor ihrer Glut verborgen» (Ps 19,6.7). Wie ein Bräutigam betritt sie jeden Tag neu ihre Bahn! Das ist das Gegenteil von Alltagstrott, denn als ein Bräutigam tritt man (hoffentlich!) nur ein einziges Mal in seinem ganzen Leben aus dem Gemach! Aber genau so tritt die Sonne jeden Tag an, um die immer gleiche Bahn zu durchlaufen! Je näher wir dem HERRN sind und je mehr unsere Gedanken und Empfindungen mit Seinen Gedanken und Empfindungen überein stimmen, umso weniger Alltagstrott wird es in unserem Leben geben.
Der Effekt, den die Berührung des HERRN auf die Schwiegermutter des Petrus hatte, war ein sofortiger und ein durchschlagender: Das Fieber verliess sie sogleich, sie war sofort wieder vollständig gesund und sie stand auf. Aber wozu stand sie auf? Um IHM zu dienen! Das ist ein schönes Bild von der befreienden Wirkung, die eine Berührung mit dem HERRN im Leben eines Menschen hat. Wir sind alle geknechtet und fieberkrank daniederliegend unter der Krankheit der Sünde. Aber wenn Er uns berührt, werden wir auf einen Schlag völlig frei davon. «Jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Sklave […] Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein» (Joh 8,34.36). Aber wozu befreit Er uns? Erhalten wir ein neues Leben, das wir für eigene Begierden verschwenden sollen? Nein, wir werden frei gemacht, um Ihm zu dienen – aber nicht wie Knechte, sondern willig und freudig wie Söhne! Das hat nichts mit Zwang zu tun, sondern ist eine völlig natürliche Konsequenz unserer Befreiung, wie es im vor uns liegenden Vers so schön und knapp erklärt wird: Sie stand auf und diente Ihm. Wie hätte es anders sein können?
Vers 16
Als es aber Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus mit seinem Wort, und er heilte alle Leidenden, Mt 8,16
Ein ereignisreicher Tag neigte sich nun dem Ende zu. Der Herr Jesus hatte den ganzen Tag hindurch allen möglichen Menschen gnädig gedient und wir würden meinen, nun sei es höchste Zeit für Ihn gewesen, Sich auszuruhen. Aber die Kunde von Seiner Kraft hatte die Runde gemacht und nun kamen viele Leute zu Ihm, die viele Besessene und viele Leidenden zu Ihm brachten. Beachten wir, dass hier sorgsam zwischen diesen beiden Arten von Elend unterschieden wird: Es gab Besessene, die befreit wurden, und es gab Leidende, die geheilt wurden. Nicht jede Krankheit kann auf eine Besessenheit zurückgeführt werden. Das hat man in der Kirchengeschichte leider wiederholt falsch gesehen. Dadurch wurde viel zusätzliches Leid angerichtet. Die Bibel lehrt auch diesbezüglich einen ganz normalen Umgang. Beispielsweise ist die als «Letzte Ölung» bekannt gewordene Salbung eines Kranken nach Jak 5,14 kein religiöses Ritual, sondern die Verabreichung der damals üblichen Medizin (die wichtigsten «Heilmittel» damals waren Wein und Öl; vgl. etwa Lk 10,34). Das verwendete Wort «aleifo» beschreibt ein «Übergiessen» mit Öl. Es wird beispielsweise auch in Mt 6,17 und in Mk 16,1 verwendet, wo es um einen ganz alltäglichen Vorgang der Körperpflege respektive um die medizinische Behandlung eines toten Körpers geht. Wenn es um eine «religiöse» Salbung geht, wie etwa in 1.Joh 2,20 oder in 2.Mose 29,7 (nach der Septuaguinta = griechische Übersetzung des AT), dann wird das Wort «chrisma» verwendet.
Jedenfalls gönnte der Herr Jesus Sich keinen Moment der Ruhe. Das Bedürfnis der Menschen war da und deshalb musste Er unentwegt wirken. Bei Ihm konnte es niemals anders sein. Auf die Frage der Juden, weshalb Er am Sabbat eine Heilung vollbracht habe, antwortete Er einmal: «Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke» (Joh 5,17), wobei der Präsens nicht eine momentane, sondern eine beständige Handlung bezeichnet. So gab es für den Herrn Jesus also nach diesem anstrengenden Tag keine Ruhe, sondern weiteres Wirken. Alle Geister trieb Er mit Seinem Wort aus und alle Leidenden heilte Er.
Vers 17
damit erfüllt wurde, was durch den Propheten Jesaja geredet ist, der spricht: »Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten.« Mt 8,17
Das Alte Testament ist voller Hinweise darauf, dass Gott den Menschen nach dem tragischen Sündenfall keineswegs sich selbst überlassen hat, sondern im Gegenteil sofort in Gnade tätig geworden ist, um den Menschen zu retten. Mit «Rettung» ist dabei nicht nur das ewige Heil, sondern jedes Eingreifen zugunsten des Menschen gemeint, also auch eine Rettung aus widrigen Umständen, die Lösung eines grossen Problems oder auch das Beseitigen von Folgen der Sünde. Seit jenem Moment hat der HERR Sich nicht einen einzigen Moment der Ruhe gegönnt. Der Messias, der verheissene Erlöser, sollte dieselbe Gesinnung zeigen, weshalb bspw. der Prophet Jesaja etwa 700 Jahre vor der Geburt Jesu Christi darauf hingewiesen hat, dass der Messias die Schwachheiten und Krankheiten der Menschen tragen respektive auf sich nehmen werde.
Sowohl die alttestamentliche Prophetie als auch das Zitat hier in Mt 8,17 hat in der Vergangenheit für einige Verwirrung gesorgt. Die Prophetie enthält nämlich gleich anschliessend einen klaren Hinweis auf den stellvertretenden Tod des Messias, was zur Idee geführt hat, dass durch Seinen Tod für die Gläubigen alle Krankheiten und Schwachheiten beseitigt worden seien. Aber das ist gar nicht die Aussage jener Stelle. Der entsprechende Ausschnitt aus der Prophetie lautet: «Jedoch unsere Leiden – er hat sie getragen, und unsere Schmerzen – er hat sie auf sich geladen. Wir aber, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt. Doch er war durchbohrt um unserer Vergehen willen, zerschlagen um unserer Sünden willen. Die Strafe lag auf ihm zu unserm Frieden, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden» (Jes 53,4.5). Diese enge Verknüpfung von verschiedenen Aussagen kann natürlich durchaus den Eindruck erwecken, durch das stellvertretende Opfer seien nicht nur unsere Sünden gesühnt und Frieden mit Gott gemacht, sondern auch Krankheiten beseitigt worden. Dieser Schluss liegt nahe, weil Krankheiten ja – wie alles Schlechte im Universum – eine Folge des Sündenfalls sind. Das bedeutet übrigens nicht, dass eine Krankheit immer die «Strafe» für eine Sünde sein müsste, die wir begangen hätten (vgl. Joh 9,1–3), sondern nur, dass es ohne den Sündenfall nie Krankheiten gegeben hätte.
Aber nur, weil zwei Aussagen gewissermassen in einem Atemzug gemacht werden, müssen sie noch nicht zwingend inhaltlich verknüpft sein. Ein schönes Beispiel dafür finden wir in Lk 4,18.19, wo der Herr Jesus aus dem Buch Jesaja zitiert: «»Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit auszurufen und Blinden, dass sie wieder sehen, Zerschlagene in Freiheithinzusenden, auszurufen ein angenehmes Jahr des Herrn». Das Interessante an diesem Zitat ist, dass es mitten im Vers, ja sogar mitten im Satz endet! In Jes 61,1.2 heisst es nämlich: «Der Geist des Herrn, HERRN, ist auf mir; denn der HERR hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Elenden frohe Botschaft zu bringen, zu verbinden, die gebrochenen Herzens sind, Freilassung auszurufen den Gefangenen und Öffnung des Kerkers den Gebundenen, auszurufen das Gnadenjahr des HERRN und den Tag der Rache für unsern Gott, zu trösten alle Trauernden» – der Satz geht in Vers 3 noch weiter. Der Messias sollte nach Jes 61,2 also das Gnadenjahr des HERRN und den Tag der Rache für unseren Gott ausrufen, aber der Herr Jesus hat nur das Gnadenjahr des HERRN, jedoch nicht den Tag der Rache ausgerufen. Wieso das? Weil Jes 61,2 beide Kommen des Messias vor Augen hat, das erste Kommen in Gnade und das zweite Kommen zum Gericht! Wer Jes 61,2 liest, meint also, die beiden Dinge – Gnadenjahr und Tag der Rache – gehörten zusammen, aber das Neue Testament macht klar, dass es zwei verschiedene Sachen sind. Und so ist es eben auch mit Jes 53,4.5. In Mt 8,17 wird ein Teil dieser Prophezeiung zitiert, in 1.Petr 2,24 dagegen ein anderer Teil, was klar macht, dass diese beiden Teile zwei verschiedene Dinge bezeichnen.
In 1.Petr 2,24 heisst es: «Der unsere Sünden an seinem Leib selbst an das Holz hinaufgetragen hat, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben; durch dessen Striemen ihr geheilt worden seid». Nur die Sühnung unserer Vergehen und Sünden zu unserer grundsätzlichen Heilung und unserem Frieden mit Gott ist direkt mit dem Kreuz verbunden, aber nicht das Tragen von unseren Schwachheiten und Krankheiten. Die beiden Teilzitate in Mt 8,17 und 1.Petr 2,24 machen deutlich, dass diese beiden Aspekte nicht unmittelbar zusammen gehören. Die Idee, heute könne sich jeder auf den Kreuzestod des Herrn Jesus berufen, um sofort von allen Krankheiten geheilt zu werden, ist biblisch nicht haltbar. Das Wort Gottes macht vielmehr deutlich: Unser Geist wird in einem Augenblick direkt bei der Bekehrung (Wiedergeburt) vollständig erneuert, die Seele wird ab der Bekehrung in einem langdauernden Prozess (mühsam) umgestaltet und der Körper wird zwar ebenfalls in einem Augenblick vollständig erneuert, aber erst bei der Auferstehung bzw. Entrückung. Obwohl der Herr Jesus also in gewisser Weise am Kreuz auch die Grundlage für eine vollständige und bleibende Heilung von Schwachheiten und Krankheiten gelegt hat, müssen wir uns bis zu jenem Moment (Auferstehung oder Entrückung) gedulden. Bis dahin können auch echte Gläubige weiterhin an Krankheiten leiden und schwach sein. Auch die direkten Folgen des Sündenfalls, die Geburtsschmerzen und die Mühsal bei der Arbeit für das tägliche Brot (vgl. 1.Mose 3,16–18), sind schliesslich für echte Gläubige jetzt noch nicht beseitigt, wie uns allen klar ist. Zu guter Letzt wäre es mir neu, wenn echte Gläubige nicht mehr sterben müssten, obwohl auch der Tod eine Folge des Sündenfalls ist.
Vers 18
Als aber Jesus eine Volksmenge um sich sah, befahl er, an das jenseitige Ufer wegzufahren. Mt 8,18
Wie einzigartig ist unser geliebter HERR! Die aussergewöhnlichen Zeichen, die Er getan hatte, hatten eine grosse Volksmenge angelockt. Jeder von uns hätte das als eine perfekte Gelegenheit angesehen, auf einen Schlag viele Leute mit der göttlichen Botschaft erreichen zu können. Nicht so der Herr Jesus. Weil Er beständig aufs Innigste mit dem Vater in den Himmeln verbunden gewesen ist, hat Er jede noch so kleine Entscheidung unter der Leitung des Heiligen Geistes getroffen. Niemals hat Er Sich von Umständen beeinflussen lassen! Offenbar hat der Himmlische Vater damals nicht den Willen gehabt, Seinen herrlichen Sohn zu dieser Volksmenge predigen zu lassen, aus welchen Gründen auch immer. Wir stellen jedenfalls beim Lesen der Evangelien fest, dass der Herr Jesus tendenziell eher den vertrauten Umgang mit Wenigen oder gar die Einöde gegenüber Volksaufläufen bevorzugt hat. Obwohl alles hier nach einer perfekten Gelegenheit ausgesehen hat, ist sie es nicht gewesen. Also befahl der Herr Jesus ohne Zögern, an das jenseitige Ufer des Sees überzusetzen und die Volksmengen stehen zu lassen. Wie anders als wir ist Er!
Wir tendieren leider oft dazu, uns von den Umständen leiten zu lassen. Wir beobachten, was um uns herum geschieht, und ziehen daraus Schlussfolgerungen. Das ist nicht immer zwingend falsch. Gott hat uns einen Verstand gegeben, der genau diese Aufgabe hat. Und trotzdem sollten es uns zur eisernen Gewohnheit machen, jedes Mal beim HERRN nachzufragen, ob Er uns in dieser konkreten Situation nicht anders leiten will, als wir denken. Der König David hatte diese Gewohnheit und sie war Ihm zum Segen. Eine ganz beeindruckende Begebenheit zeigt dies: Einmal zogen die Philister gegen ihn zum Kampf und breiteten sich in der Ebene Rephaim aus (2.Sam 5,18). Der HERR wies David an, direkt gegen sie zu ziehen und sie zu schlagen, was auch gelang. Danach zogen die Philister ein zweites Mal genau gleich zum Kampf gegen Israel; wieder breiteten sie sich in der Ebene Rephaim aus (2.Sam 5,22). Was lag näher, als nochmals genau dieselbe Strategie anzuwenden? Aber David tat es nicht, sondern befragte den HERRN erneut, wie wenn er zum ersten Mal mit dieser Situation konfrontiert wäre. Und der HERR gebot ihm, eine andere Strategie anzuwenden, die dieses Mal zum Sieg führte (2.Sam 5,23–25). Nicht immer ist das Naheliegendste das Richtige! Machen wir es uns zur Gewohnheit, jede Entscheidung zusammen mit unserem HERRN zu treffen!
Vers 19
Und ein Schriftgelehrter kam heran und sprach zu ihm: Lehrer, ich will dir nachfolgen, wohin du auch gehst. Mt 8,19
Als der Herr Jesus Sich anschickte wegzugehen, wollte jemand mit Ihm gehen, um Ihn gewissermassen nicht zu verlieren. Das war eine sehr schöne Regung des Herzens! Erstaunlich ist, dass es ein Schriftgelehrter war, der lieber mit dem Herrn Jesus gehen als bei der Volksmenge bleiben wollte. Das Wort Gottes macht allerdings klar, dass sich aus allen Schichten und Klassen der Gesellschaft immer wieder Menschen bekehrt haben, auch wenn es bei religiösen Führern im Allgemeinen nur selten vorkam.
Vers 20
Und Jesus spricht zu ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlegt. Mt 8,20
Wie müssen wir die – wie sollen wir es nennen? – Aufrichtigkeit oder Transparenz unseres HERRN bewundern! Wir selbst sind nur allzu gern bereit, gewisse Nachteile einer Entscheidung zu verheimlichen, die jemand zu unseren Gunsten treffen will. Bei einem Umzug ist bspw. jeder Helfer gern gesehen, auch wenn er dann später sein blaues Wunder erleben wird, weil er ja keine Ahnung hatte, wie viel Möbel zu schleppen sind – und dass wir in den fünften Stock eines Mehrfamilienhauses einziehen, das keinen Lift hat. Nicht so unser HERR! Da kam ein Schriftgelehrter und wollte Ihm nachfolgen, wohin immer Er auch gehen würde. Wer einmal die Evangelien aufmerksam durchgelesen hat, kann erahnen, was für eine seltene Gelegenheit sich hier bot, einen einflussreichen «Follower» zu gewinnen.
Aber der Herr Jesus schüttelte dem Schriftgelehrten nicht etwa dankbar die Hand oder wies ihm etwa den besten Platz im Boot zu, sondern ermahnte ihn vielmehr ernstlich, dass dieser Weg, den er einschlagen wollte, mit vielen Entbehrungen verbunden sein würde. Dazu muss man wissen, dass «Schule» damals etwas anders als heute funktionierte: Wenn ein Lehrer (Rabbi) Schüler (Jünger) um sich scharte, hatte er die Verantwortung, für sie zu sorgen, denn zusammen bildeten sie nun eine Art Lebensgemeinschaft auf Zeit. Unser Herr Jesus war ein «etwas anderer» Rabbi, denn Er hatte nicht einmal für sich selbst eine Wohngelegenheit! Das muss man sich einmal vorstellen! Die Füchse, die Er erschaffen hatte und am Leben erhielt, hatten (von Ihm erschaffene und zugewiesene) Höhlen, die von Ihm erschaffenen und am Leben erhaltenen Vögel des Himmels hatten Nester – Er hatte für alle und alles gesorgt, wie es in Ps 104,27 bzw. Ps 145,15 so schön heisst: «Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit», aber Er selbst – der Schöpfer und Erhalter von allem – hatte als Mensch nicht, wo Er das Haupt hätte hinlegen können! «Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, da er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich wurdet» (2.Kor 8,9); «er entäusserte sich und nahm Knechtsgestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist, und der Gestalt nach wie ein Mensch befunden,erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz» (Phil 2,7.8). Anbetungswürdiger Heiland!
Wer Ihm nachfolgen, Sein Jünger sein wollte, musste sich also auf Entbehrungen gefasst machen. Diesbezüglich nahm der Herr Jesus nie ein Blatt vor den Mund. In Lk 14,26ff. finden wir bspw. sehr ernste Warnungen vor den Konsequenzen der Nachfolge. Unser HERR will nicht, dass wir gewissermassen blind ins Messer laufen, sondern vielmehr, dass wir wissen, worauf wir uns einlassen. Wenn wir anderen Menschen das Evangelium predigen, dann sollten wir es Ihm gleichtun. Natürlich kann und soll man den Menschen sagen, dass das Leben mit dem HERRN das beste Leben ist, das wir hier und jetzt führen können, und dass alle Nachteile der Nachfolge nicht wert sind, mit dem grossen Schatz verglichen zu werden, denn wir nicht nur für später, sondern auch für jetzt gewinnen. Aber doch sollten wir nicht verhehlen, dass die Entscheidung, dem HERRN bedingungslos nachzufolgen, schon viele Gläubige in viele Schwierigkeiten und Nöte gebracht haben. Diesbezüglich war auch die Lehre der Apostel jeweils sehr klar, denn sie lehrten die Leute, «dass wir durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes hineingehen müssen» (Apg 14,22), und dass «alle aber auch, die gottesfürchtig leben wollen in Christus Jesus, verfolgt werden» (2.Tim 3,12).
Vers 21
Ein anderer aber von seinen Jüngern sprach zu ihm: Herr, erlaube mir, vorher hinzugehen und meinen Vater zu begraben. Mt 8,21
Hier haben wir nun einen leicht anderen Fall als jenen des Schriftgelehrten vor uns. Der Schriftgelehrte wollte sofort nachfolgen, wusste aber nicht, worauf er sich damit einliess. Dieser Jünger hatte eine Ahnung davon, dass die Nachfolge zumindest ein Stück weit seine natürlichen Beziehungen lösen würde, aber gerade deshalb wollte er nicht sofort nachfolgen. Zuerst wollte er sich um seine Familie kümmern. Nachher würde er dem Herrn Jesus dann nachfolgen. Diese Haltung ist gefährlich, denn wenn wir andere Verpflichtungen vor die Nachfolge setzen, dann wird es immer wieder neue Verpflichtungen geben, die unserer Nachfolge in die Quere kommen. Das kennen wir aus dem natürlichen Leben. Wenn mir jemand erzählt, dass er auf eine bestimmte wichtige Prüfung lernt, die mehrere Monate Vorbereitungszeit mit einem intensiven Lernprogramm erfordert, frage ich regelmässig halb im Scherz: «Nicht wahr: Deine Wohnung war noch nie so sauber?» Die Erfahrung zeigt, dass man alles andere lieber macht, als sich an diese grosse Aufgabe zu wagen – selbst den Frühjahrsputz! Was die Nachfolge betrifft, so führt nur Die Entschiedenheit, ihr ununterbrochen und unbedingt die höchste Priorität einzuräumen, zum Ziel.
Das bedeutet freilich nicht, dass wir zum Mönch, zur Nonne oder zum Einsiedler werden müssen. So heisst es bspw. in 1.Tim 5,8: «Wenn aber jemand für die Seinen und besonders für die Hausgenossen nicht sorgt, so hat er den Glauben verleugnet und ist schlechter als ein Ungläubiger». Das Problem dieses Jüngers hier in Mt 8,21 war nicht, dass er seinem Vater die letzte Ehre erweisen wollte. Das Problem war dieses eine Wort: vorher. Als Christen sollen wir unsere gewöhnliche Arbeit treu und fleissig ausüben, uns um unsere Familie und Verwandtschaft kümmern etc. – aber nicht «vorher», sondern «während», nämlich nicht so, als hätten diese Dinge nichts mit der Nachfolge zu tun, sondern vielmehr so, als handelte es sich um Teilaufgaben, die der HERR uns im Rahmen unserer Nachfolge aufgetragen hat. Wer etwas vom Glauben verstanden hat, weiss, dass er bspw. niemals vor der Entscheidung stehen wird, entweder seine Ehefrau oder aber den HERRN mehr zu lieben, denn die Liebe zur Ehefrau wird in dem Masse zunehmen, in dem die Liebe zum HERRN wächst, weil die wahre Liebe zur Ehefrau immer nur ein Ausfluss jener Liebe sein kann, die von Gott ausgegossen worden ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist (Röm 5,5).
Vers 22
Jesus aber spricht zu ihm: Folge mir nach, und lass die Toten ihre Toten begraben! Mt 8,22
Wenn der Herr Jesus Jünger (Nachfolger) berufen hat, dann ist das immer ein Ruf gewesen, alles andere liegen zu lassen und Ihm zu folgen. Petrus und Andreas sowie Jakobus und Johannes liessen ihre Fischereien liegen, Levi (Matthäus) verliess seinen Zöllnerposten etc. Da muss diese Entschiedenheit vorhanden sein, der Nachfolge die oberste Priorität einzuräumen, alles andere dieser einen Sache unterzuordnen. Unsere natürlichen Beziehungen zur Familie, zum Arbeitsplatz etc. werden dadurch nicht aufgelöst, aber durchaus verändert bzw. neu «definiert», wie wir bereits gesehen haben. Dieser Mensch wollte dem Herrn Jesus nachfolgen und die Antwort des Herrn machte klar, dass diese Entschiedenheit eine notwendige Bedingung dafür war. Die Antwort enthält darüber hinaus aber noch eine sehr bedeutsame Aussage im Zusammenhang mit dem besonderen Fall, der hier vorlag.
Der Mann hatte soeben seinen Vater verloren und nun wollte er ihn noch begraben. Das war ein guter Wunsch, aber der Herr Jesus ging in jenem Moment nicht weiter darauf ein, sondern beleuchtete die geistliche Seite: Der Vater war tot und deshalb konnte nichts mehr für ihn getan werden. Es verhielt sich wie mit dem kleinen Knaben des Königs David, der schwer erkrankt war: David hatte gefastet, gebetet und gefleht, aber der Knabe war gestorben. Die Diener hatten es nicht gewagt, ihm diese traurige Botschaft zu überbringen, weil sie gedacht hatten, der König würde daran endgültig zerbrechen (ihnen war das Verhalten des Königs wohl sehr «extrem» vorgekommen). Aber als David gehört hatte, dass der Knabe gestorben war, hatte er sich gewaschen und hingesetzt, um zu essen. «Da sagten seine Knechte zu ihm: Was ist das für eine Sache, die du tust? Als das Kind lebte, hast du seinetwegen gefastet und geweint, sobald aber das Kind gestorben war, bist du aufgestanden und hast gegessen! Da sagte er: Als das Kind noch lebte, habe ich gefastet und geweint, weil ich mir sagte: Wer weiss, vielleicht wird der HERR mir gnädig sein, und das Kind bleibt am Leben. Jetzt aber, da es tot ist, wozu sollte ich denn fasten? Kann ich es etwa noch zurückbringen? Ich gehe einmal zu ihm, aber es wird nicht zu mir zurückkehren» (2.Sam 12,21–23). Das war keine Abgehobeneit gewesen; David hatte den Tod des Kindes tief empfunden. Aber zugleich war ihm bewusst gewesen, dass das Schicksal des Kindes mit dem Tod definitiv und unabänderlich besiegelt war. Das muss auch uns bewusst sein.
In Hebr 9,27 heisst es, dass es dem Menschen gesetzt ist, einmal – nicht im Sinne von «irgendwann einmal», sondern: ein einziges Mal – zu sterben, danach aber das Gericht. Die Geschichte vom reichen Mann, der gestorben ist, in Lk 16,19ff. macht deutlich, dass der Platz im Jenseits von der Sekunde des Todes an definitiv und unabänderlich zugewiesen ist. Der Tote selbst kann an seinem Schicksal nichts mehr ändern. Die Bibel kennt auch kein Fegefeuer. Man kann nach dem Tod nicht mehr gereinigt und doch noch irgendwann an einen besseren Ort kommen. Auch die Lebenden können am Schicksal des Toten nichts mehr ändern. Sie können alles Mögliche tun und sich auf den Kopf stellen – der Tote bleibt, wo er ist. Definitiv.
Aber wie müssen wir die Aussage des Herrn Jesus verstehen, dass «die Toten» den Toten begraben sollen? Das ist ein ganz entscheidender Punkt! Glückselig, wer dies verstanden hat! Als Gott den Menschen erschaffen hat, hat Er ihn aus Lehm geformt, d.h. Er hat ihm einen Körper bereitet, der aber leblos war. Dann hat Er – anders als bei den Tieren – in die Nase des Menschen gehaucht. Dadurch hat Er eine Verbindung geschaffen. Man könnte sagen, Er habe den Menschen ans «Stromnetz» angeschlossen. Dieses Einhauchen war zwar eine einmalige Sache, wie das Einstecken eines Stromkabels, aber die Verbindung musste dauernd aufrecht erhalten bleiben. Wenn wir ein elektrisches Gerät ausstecken, ist es «tot», und wenn Gott Seinen Geist wieder zurückzieht, ist auch der Mensch tot (Hiob 34,14). Die Menschen haben sich allerdings von Gott «abgekoppelt»; sie haben die Verbindung getrennt. Sie leben zwar noch für eine kurze Zeit weiter, wie man es z.B. vom Smartphone kennt, das erst ein, zwei Sekunden nach dem Ausstecken «merkt», dass es nicht mehr am Strom angeschlossen ist, weil das Netzteil eine gewisse Menge Ladung zwischenspeichern kann. Aber das ist nur ein kurz vorübergehender Zustand und auch nicht mehr das wahre Leben. Geistlich gesehen sind die Menschen, die sich so von Gott abkoppeln, also tot. «Auch euch hat er auferweckt, die ihr tot wart in euren Vergehungen und Sünden» (Eph 2,1). Das Tragische daran ist, dass wir alle so leben. Jeder Mensch ist von Natur aus geistlich tot. Wenn ein Mensch fragt, was er tun müsse, um ihn die Hölle zu kommen, muss man ihm antworten: Absolut rein gar nichts!
Während der Zeit, die wir hier auf dieser Erde verbringen, haben wir aber die Möglichkeit, wieder ans göttliche «Stromnetz» angeschlossen zu werden, wieder lebendig bzw. auferweckt zu werden. Erst dann sind wir in den Augen Gottes bzw. geistlich gesehen wirklich lebendig! Wie funktioniert das? Wir müssen die Verbindung zu Gott suchen. Im Grunde ist das alles sehr einfach: Wir müssen erkennen, dass wir diese Verbindung zu Gott brauchen, dass sie lebensnotwendig für uns ist, dass sie aber nicht besteht, weil wir unsere eigenen Wege gegangen sind und nicht nach Seinem Willen gefragt haben. Dann bleibt nichts weiter übrig, als Ihn zu bitten, uns zu vergeben, und unsere Hoffnung allein auf Ihn zu setzen. Im Grunde reicht es, wenn wir von nun an unser Leben so sehr nach Seinem Willen führen wollen, wie wir es bislang nach unserem Willen geführt haben. Wir müssen zu Gott umkehren. Nur Er kann uns das ewige Leben geben – und diese Gabe ist so unendlich wertvoll, dass sie nur geschenkt, nicht erarbeitet, verdient oder bezahlt werden kann. Die Bibel macht völlig klar, dass Gott diese Gabe jedem Menschen schenken will: «Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat» (Joh 3,16).
Vers 23
Und als er in das Boot gestiegen war, folgten ihm seine Jünger. Mt 8,23
Der Herr Jesus stieg nun definitiv in das Boot. Der Entschluss war gefasst worden, jetzt wurde er ausgeführt. Anders als wir muss Gott niemals einen Schritt zurück machen, niemals umdrehen. Die Räder unter Seinem Thron drehen sich nur in eine Richtung: vorwärts! So wird es z.B. in Hes 1,17 beschrieben. Seine Entscheidungen sind immer vollkommen richtig, weshalb es gar nicht anders sein kann. Die Jünger folgten dem Herrn Jesus. Das zeichnete sie aus: Sie gingen dorthin, wohin immer auch Er Sich wandte. Einmal fasste Er kurz nach einem Mordversuch, dem Er in Jerusalem entgangen war (Joh 10,31ff.), den Entschluss, gleich nochmals nach Jerusalem zu gehen (Joh 11,7). Seine Jünger konnten das nicht verstehen und dachten, Er mache einen Fehler (Joh 11,8), aber Sein Entschluss stand fest. Also gingen sie mit Ihm – bereit zu sterben, wenn es sein musste (Joh 11,16).
Damit wir den vollen geistlichen Gewinn aus der mit Mt 8,23 eingeleiteten Episode haben können, ist es wichtig zu betonen, dass die Jünger zusammen mit dem Herrn Jesus das Boot bestiegen haben. Sie waren nicht allein und sie waren schon gar nicht eigene Wege (in die Irre) gegangen, sondern sie befanden sich genau dort, wo sie sein mussten. Trotzdem blieben sie nicht vor Problemen verschont, wie wir gleich sehen werden. Das ist wichtig zu betonen, denn es gibt Christen, die meinen, wenn sie einfach immer dort seien, wo der HERR sie haben wolle, könnten keine Probleme auftreten. Das stimmt nicht.
Vers 24
Und siehe, es erhob sich ein heftiger Sturm auf dem See, sodass das Boot von den Wellen bedeckt wurde; er aber schlief. Mt 8,24
Die Jünger befanden sich zusammen mit dem Herrn Jesus in einem Boot auf einem Kurs, den Er bestimmt hatte. Alles war so, wie es sein musste. Aber plötzlich brach einer jener gefürchteten Stürme, für die der See Genezareth berüchtigt ist, über sie herein. Erinnern wir uns an Mt 7,24ff.? Der Herr Jesus hatte erklärt, dass es sowohl im Leben des Gottlosen als auch im Leben des Gläubigen Stürme geben wird. Sein Vertrauen auf den Herrn Jesus zu setzen bedeutet nicht, dass man vor Stürmen verschont bleiben würde. Stürme werden kommen, am Haus rütteln und das Boot mit Wellen bedecken. Das muss uns bewusst sein. Man kann also auch nicht etwa sagen, wenn man immer genau das tue, was Gott will, werde man es nie mit Stürmen zu tun haben. Man kann genau an dem Ort sein, wo Er uns haben will, und mit voller Wucht getroffen werden.
Als wahrer Mensch war der Herr Jesus müde; Er benötigte den Schlaf genauso wie wir. Nun lag Er also im Boot und schlief. Die Jünger, die in Not gerieten, wussten zwar, dass Er mehr tun konnte als jeder andere, aber sie meinten, Er kümmere sich nicht oder Er habe die Zügel aus der Hand gelassen, wie wir in den nächsten Versen sehen werden. Sie glichen dem Aussätzigen, von dem zu Beginn dieses Kapitels die Rede ist, der wusste, dass der Herr Jesus ihn heilen konnte, aber sich nicht sicher war, ob Er das auch wollte. So kann es uns in unseren Lebensstürmen auch gehen. Der HERR scheint abwesend, als ob Er Sich nicht um uns kümmern wollte. Aber in Wahrheit gilt: «Er wird nicht zulassen, dass dein Fuss wankt. Dein Hüter schlummert nicht. Siehe, nicht schlummert und nicht schläft der Hüter Israels» (Ps 121,3.4). Manchmal muss Er zuwarten, bis Er eingreift, weil diese «Verzögerung» einen zusätzlichen Nutzen bringt, aber Sein Eingreifen kommt immer spätestens rechtzeitig. Mit mehr Vertrauen in Ihn hätten die Jünger mitten im Sturm genauso ruhig geschlafen wie Er. Was hätte ihnen zustossen können? Er war ja da!
Dieser tiefe innere Frieden, der völlig unabhängig von den äusseren Umständen ist, macht den wahren Unterschied zwischen einem Gottlosen und einem Gläubigen aus. Beide kommen in Stürme, aber der Gläubige kann ruhig bleiben, weil sein Haus auf dem Felsen gebaut ist, weil er einen Fels in der Brandung hat, der niemals wankt. Beim Apostel Petrus hat sich dieses tiefe Vertrauen mit der Zeit entwickelt. Selbst als Herodes ihn ins Gefängnis geworfen hatte, um ihn am nächsten Tag zu töten, konnte er – gefesselt zwischen Soldaten – so tief und ruhig schlafen, dass der Engel, der zu seiner Befreiung gesandt war, ihn schlagen musste, um ihn zu wecken (Apg 12,7)!
Vers 25
Und sie traten hinzu, weckten ihn auf und sprachen: Herr, rette uns, wir kommen um! Mt 8,25
Die Jünger suchten die Hilfe am richtigen Ort: beim Herrn Jesus Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes. Ihre Not war gross, wobei wir bedenken müssen, dass sie fähig waren, ihre Lage zutreffend einzuschätzen, denn sie waren erfahrene Fischer, die den See Genezareth und die dort auftretenden Stürme bestens kannten. Sie waren keine Angsthasen, die sich zum ersten Mal auf dem Wasser befanden, sondern gestandene Seeleute, die wussten, dass die Gefahr des Kenterns sehr gross war. Ihre Sorgen und ihre Angst sind deshalb sehr gut nachvollziehbar. Es ehrt diese Jünger, dass sie die Hilfe beim Herrn Jesus gesucht haben. Aber die Art und Weise, wie sie es getan haben, war leider falsch. O, wie oft gleichen wir ihnen in diesem Punkt! Sie zeigten einen wesentlichen Mangel an Glauben, weil sie ernsthaft mit der Möglichkeit rechneten, das Boot würde mitsamt dem Herrn Jesus untergehen. Wie erwähnt, die Einschätzung der Lage war richtig, aber die Einschätzung der Person des HERRN war falsch. Wo Er im Boot ist, kann das Boot nicht untergehen. Wo Er schläft, gibt es nichts zu befürchten. Der Glaube ruht in der Gewissheit, dass wir niemals aus der Hand des HERRN fallen können, dass uns niemals etwas zustossen kann, das Ihn überraschen würde oder nicht Seine Zustimmung gefunden hätte.
Natürlich können einem Gläubigen die schlimmsten Dinge zustossen. Die Kirchengeschichte ist geschrieben mit dem Blut von Millionen von Märtyrern. Und doch war es in jedem einzelnen Fall so, dass alles in Gottes Hand war. In seinem sehr lesenswerten (allerdings mit über 1.500 Seiten auch sehr dicken) Buch «The Christian in Complete Armour» («Der vollständig gerüstete Christ») schildert William Gurnall, der offenbar selbst noch die blutigen Religionskriege in England miterlebt hatte, den Fall eines Gläubigen, der zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde, seinen Glauben aber im letzten Moment noch aus Angst vor dem drohenden schrecklichen Tod widerrief. Dieser Bruder meldete sich nur eine Woche später selbst bei den Behörden, bekannte erneut mutig seinen Glauben, widerrief nicht mehr und liess sich mit Lobliedern auf den Lippen zum Scheiterhaufen führen, wo er schliesslich verbrannt wurde. Dieser Fall zeigt sehr eindrücklich, dass der HERR durch den Glauben jenen Frieden schenken kann, den wir benötigen, um uns ruhig von Seiner guten Hand durch alles führen zu lassen, selbst durch das Tal des Todesschattens.
Was wir benötigen, ist das unbedingte Vertrauen, dass der Weg Gottes für unser Leben der beste aller Wege ist, komme, was wolle. Jeder andere Weg ist schlechter. Jeder! Wenn es der Wille des HERRN gewesen wäre, zusammen mit den Jüngern im See Genezareth zu ertrinken, wäre das gut gewesen, besser als alles andere. Da es aber nicht der Wille des HERRN gewesen ist, dort zu ertrinken, konnten sie nicht ertrinken. Diesen Punkt hätten die Jünger begreifen bzw. im Glauben ergreifen müssen.
Vers 26
Und er spricht zu ihnen: Was seid ihr furchtsam, Kleingläubige? Dann stand er auf und bedrohte die Winde und den See; und es entstand eine grosse Stille. Mt 8,26
Wir können die ganze Bibel durchforsten, aber wir werden nicht eine einzige Stelle finden, die davon spricht, dass der HERR jemals in Bedrängnis oder Verlegenheit gekommen wäre. Niemals hat Ihn etwas überrascht, niemals musste Er spontan eine Entscheidung treffen, niemals bestand auch nur der Hauch einer Chance für das Böse, Ihn zu überwinden. So ist unser Gott. Der Sturm mag toben, die Wellen mögen wogen, das Böse mag wüten, aber wenn Er Sich erhebt, wenn Er Seine Hand ausstreckt, wenn Er nur ein Wort spricht, ist Ruhe. Nichts und niemand kann Seinem Befehl widerstehen.
HERR, Gott der Heerscharen! Wer ist stark wie du, Jah? Deine Treue ist rings um dich her. Du beherrschst des Meeres Toben, erheben sich seine Wogen – du stillst sie … Dein ist der Himmel, und dein ist die Erde. Die Welt und ihre Fülle, du hast sie gegründet. Ps 89,9–12
Das Stillen des Sturmes hat den Herrn Jesus als Gott selbst ausgezeichnet, denn in Ps 89,9.10 wird die Macht, des Meeres Toben zu stillen, dem Ewigen (JHVH), dem Gott der Heerscharen, zugeschrieben. Immer wieder wird ja provokativ gefragt, wo denn stehe, dass Jesus Christus Sich als Gott bezeichnet habe, aber für den, der will, sind überall in der Bibel deutliche Hinweise zu sehen. So auch hier: Zuerst sprechen die Müdigkeit und das Schlafbedürfnis für die wahre Menschheit des Herrn Jesus, aber dann finden wir Ihn nur einen Augenblick später hellwach stehend über die Winde und den See gebieten – und die Elemente müssen Ihm gehorchen. Er spricht ein Wort und alles muss schweigen; eine grosse Stille kehrt ein. So kann nur Gott selbst handeln. Unter all den Belegen für die Gottheit Jesu Christi ist dies einer der schwächeren, aber er spricht deutlich genug, wenn wir Ohren haben zu hören.
Für uns liegt in dieser Begebenheit ein grosser Trost. Unsere Umstände können so schlimm sein, dass wir überzeugt sind, wir könnten nicht mehr gerettet werden. Der Apostel Paulus musste den Korinthern einmal schreiben, «dass wir übermässig beschwert wurden, über Vermögen, sodass wir sogar am Leben verzweifelten. Wir selbst aber hatten in uns selbst schon das Urteil des Todes erhalten» (2.Kor 1,8.9). Der Apostel und seine Gefährten waren also in eine Situation geraten, in der sie fest mit dem Tod rechneten. Die Gefahr war so gross, dass sie überzeugt waren, sie würden nun sterben. So schlimm können die Stürme in unserem Leben toben! Aber dann dürfen wir auch wissen, dass der HERR selbst so eine Situation in einem einzigen Augenblick vollständig abwenden kann. Denken wir nur einmal an Joseph: Mit 17 Jahren wurde er von seinen Brüdern in eine Grube geworfen und dann für 20 Silberstücke als Sklave nach Ägypten verkauft. Dort wurde er zu Unrecht eines todeswürdigen Verbrechens beschuldigt und ins Gefängnis geworfen. Ein letzter Strohhalm der Hoffnung, der Mundschenk, dem er geholfen hatte und der frei gekommen war, erwies sich als trügerisch, weil der Mundschenk Joseph einfach vergass. Insgesamt vergingen so 13 Jahre, in denen es im Leben von Joseph immer weiter und weiter bergab ging. Aber dann wurde er plötzlich unerwartet vor den Pharao gerufen und in einem einzigen Augenblick war er vom Gefangenen in der Grube zum zweitmächtigsten Mann der Welt erhoben worden!
Er sandte einen Mann vor ihnen her: Josef wurde als Knecht verkauft. Sie zwängten seine Füsse in Fesseln, in Eisen kam sein Hals, bis zu der Zeit, da sein Wort eintraf, das Wort des HERRN ihn bestätigte. Er sandte einen König und liess ihn los, einen Herrscher über Völker, und befreite ihn. Er setzte ihn zum Herrn über sein Haus, zum Herrscher über all seinen Besitz, um seine Obersten zurechtzuweisen nach seinem Sinn; und seine Ältesten sollte er Weisheit lehren. Ps 105,17–22
Bei David war es ganz ähnlich: Jahrelang wurde er von Saul verfolgt, bis ihn die Hoffnung verliess und er zu den Philistern überlief (was ein grosser Fehler war!). Dort stellte er sich wahnsinnig, fand dadurch Zuflucht, aber keine Ruhe. Eines Tages fand er das Dorf, in dem er mit seinen Getreuen und den Familien lebte, geplündert und niedergebrannt vor. Die Männer wollten ihn steinigen. Er war am Tiefpunkt angelangt. Doch nur wenige Tage später zog er als der König unter Jubelrufen zurück nach Israel!
Ach, möchten wir doch nicht kleingläubig wie die Jünger sein, sondern unserem grossen Gott einfach alles zutrauen!
Vers 27
Die Menschen aber wunderten sich und sagten: Was für einer ist dieser, dass auch die Winde und der See ihm gehorchen? Mt 8,27
Die Jünger verstanden, dass sie gerade etwas Aussergewöhnliches, etwas Gewaltiges erlebt hatten. Sie fühlten, dass sie es mit einem alles andere als gewöhnlichen Mensch zu tun hatten. Vielleicht gingen ihnen die Verse aus Ps 89 durch den Kopf, wo es heisst, dass der HERR selbst dem Wind und dem Wasser gebietet. Aber so richtig fassen konnten sie es nicht. Sie wunderten sich und sie fragten sich, was für Einer das sei, dem die Winde und der See gehorchen, aber den entscheidenden Schluss konnten sie (noch) nicht ziehen: Er muss Gott sein, geoffenbart im Fleisch! Für uns liegt das so klar auf der Hand: Die Jünger waren gerade Zeugen der Herrlichkeit Gottes geworden; nur Gott kann tun, was der Herr Jesus da gerade getan hat.
Doch wieso können wir das verstehen? Sind wir klüger als die Jünger, haben wir mehr Verstand? Nein, das ist es nicht. In den Sprüchen finden wir z.B. eine Frage, die so nahe an das Geheimnis des ewigen Sohnes Gottes herankommt, wie nur wenig sonst im Alten Testament: «Was ist sein Name und was der Name seines Sohnes, wenn du es weisst?» (Spr 30,4). «Sein Sohn», nicht «eines Seiner Söhne» heisst: «Sein einziger Sohn». Agur wusste also, dass Gott einen einzigen Sohn hat. War er klüger als alle anderen? Nein! «Denn ich bin zu dumm für einen Mann, und Menschenverstand habe ich nicht. Und Weisheit habe ich nicht gelernt» (Spr 30,2.3). Wir erkennen Gott nicht mit unserem Verstand. «Gott ist Geist» (Joh 4,24), weshalb wir Ihn nur durch den Geist erkennen können. Er muss Sich uns offenbaren, was Er durch Seinen Geist und durch Sein Wort tut. Später einmal sollte Petrus sagen: «Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes» (Mt 16,16). Und der Herr Jesus sollte ihm antworten: «Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist» (Mt 16,17). Wir müssen nur das innige Verlangen haben, Gott näher zu kommen, Ihn besser kennen zu lernen. Dann wird Er uns im vertrauten Umgang etwas über Sich offenbaren. Alles, was wir über Gott wissen dürfen, jeder Bruchteil unserer Erkenntnis ist ein Gnadengeschenk Gottes.
Vers 28
Und als er an das jenseitige Ufer gekommen war, in das Land der Gadarener, begegneten ihm zwei Besessene, die aus den Grüften hervorkamen. Sie waren sehr bösartig, sodass niemand auf jenem Weg vorbeigehen konnte. Mt 8,28
Wo auch immer der Herr Jesus hinging, begegneten Ihm Aufgaben und Schwierigkeiten. Stieg Er in ein Boot, entfesselte sich ein Sturm; verliess Er das Boot, begegneten Ihm zu sehr bösartige Besessene. Wenn wir nur überblicksmässig die Kapitel 8 und 9 des Evangeliums nach Matthäus oder auch nur das Kapitel 1 des Evangeliums nach Markus durchlesen, gewinnen wir einen Eindruck davon, wie unglaublich voll gefüllt Seine Tage als Mensch hier auf der Erde gewesen sind. Und doch finden wir Ihn nie zu ermattet, nie zu müde, nie zu beschäftigt für die Nöte der Menschen. Sie konnten sich jederzeit an Ihn wenden und wurden doch nie abgewiesen.
Durch falsche kirchliche Lehren, Überlieferungen, Traditionen und nicht zuletzt auch Romane und Filme ist oft vermittelt worden, mit der Besessenheit sei es wie mit einem Schalter, der entweder auf «An» oder «Aus» steht. Ein Mensch sei entweder besessen oder «normal». In der Bibel wird uns dies eher als ein Spektrum vorgestellt, wie wir am traurigen Beispiel von Judas Iskariot sehen können. Judas war ein Dieb (Joh 12,6). Die Geldgier öffnete sein Herz für Sünde und für böse Einflüsse. Auf der ständigen Suche nach Gelegenheiten, an noch mehr Geld zu kommen, gab ihm der Satan ins Herz, den Herrn Jesus zu überliefern (Joh 13,2). In diesem Zeitpunkt war Judas noch nicht im eigentlichen Sinne besessen, aber bereits (stark) beeinflusst vom Teufel. Erst zu einem späteren Zeitpunkt «fuhr» der Satan dann in sein Herz (Joh 13,27). Zwar kann man erst ab diesem Zeitpunkt von einer Besessenheit reden, aber die Entwicklung zeigt, dass dies einfach der traurige Tiefpunkt einer schrittweisen Entwicklung gewesen ist.
In der Bibel werden wir immer wieder mit Tongefässen verglichen (z.B. 2.Kor 4,7). Wir können uns mit diesem oder jenem füllen lassen. Unsere Entscheidungen und unser Verhalten werden ganz massgeblich davon beeinflusst, womit wir gefüllt sind. Jeder von neuem geborene Gläubige hat den Heiligen Geist in sich wohnend (vgl. Röm 8,9), aber doch schreibt der Apostel, wir sollen uns mehr mit dem Heiligen Geist füllen lassen (Eph 5,18). Denn je mehr wir mit Ihm gefüllt sind, umso geistlicher werden wir uns verhalten. Das Gegenteil ist aber ebenso möglich, leider. Wir können uns – auch als echte Gläubige – für böse Einflüsse öffnen. Das Böse verhält sich aber nicht wie der HERR. Es zielt darauf ab, die Kontrolle über uns möglichst vollständig zu übernehmen, d.h. unseren Geist soweit als möglich auszuschalten. In den verschiedenen Religionen wird dieser Zustand – wen wundert es? – ganz bewusst gesucht. Man versetzt sich selbst in Ekstase, d.h. in einen Zustand mit einem möglichst entleerten Verstand. So öffnet man dem Bösen die Tür, das sich selbstverständlich nicht zweimal bitten lassen wird. Das ist gewissermassen die Schnellstrasse zur (völligen) Besessenheit. Leider finden solche okkulten Praktiken immer mehr Einfluss in der Christenheit, ganz besonders in pfingst-charismatischen Kreisen. Man kann nicht überbetonen, wie gefährlich es ist, wenn man versucht, den eigenen Verstand auszuschalten!
Wer die Bibel etwas im Überblick kennt, hat vielleicht selbst schon festgestellt, dass wir die Befreiung von Besessenen fast nur in den Evangelien finden. Obwohl wir wissen, dass bereits die jüdischen Rabbiner Dämonen ausgetrieben haben, finden wir davon fast nichts im Alten Testament. Aber auch die Apostelgeschichte enthält nur noch wenige Hinweise, was einen erstaunlichen Gegensatz zu den vielen Dämonenaustreibungen des Herrn Jesus bildet. Wie sollen wir uns das erklären? Die Antwort ist naheliegend und einfach. Wer nach Pfingsten (Apg 2) zum echten Glauben an den Herrn Jesus Christus gekommen und dadurch von neuem geboren worden ist, hat – im Gegensatz zu allen Gläubigen in der Zeit des Alten Testamentes und in der Zeit der Evangelien – den Heiligen Geist als beständigen «Bewohner» empfangen. Wir wissen aus 1.Sam 5 und anderen Stellen, dass der HERR Sich Seine Wohnstätte keineswegs mit Götzen bzw. Dämonen teilt. Man kann die Bundeslade in den schlimmsten Götzentempel bringen – der Götze wird rausgeworfen! So ist es auch bei jedem, der zum echten Glauben kommt. Selbst wenn er davor besessen gewesen sein sollte, wird sich mit der Bekehrung alles ändern. Die Dämonenaustreibung geschieht gewissermassen «nebenbei». Und wir müssen unbedingt verstehen, dass jemand, der «nur» von einer Besessenheit befreit wird, nicht viel gewonnen hat (vgl. Mt 12,43–45), aber jemand, der das ewige Leben empfängt, alles besitzt, was zu besitzen wert ist. Unser Dienst muss diese Prioritätenordnung zwingend beachten. Deshalb sehen wir, dass in der Apostelgeschichte primär das Evangelium gepredigt worden ist. Die Christen sind nicht ausgegangen, Dämonen auszutreiben, sondern Leute zur Busse zu führen.
Noch ein Wort zu den zwei Besessenen, von denen Matthäus hier spricht. Wir finden dieselbe Episode auch noch im Markus- und im Lukas-Evangelium, aber sowohl Markus als auch Lukas schreiben nur von einem Besessenen. Diese Diskrepanz wird gerne als ein Beispiel für die angeblichen Widersprüche in der Bibel angeführt. Allerdings liegt hier kein Widerspruch vor. Tatsächlich sind dem Herrn Jesus zwei Besessene begegnet. Im Matthäus-Evangelium wird dieser Punkt betont, weil es in erster Linie darauf abzielt, uns den Herrn Jesus als den wahren Messias-König für Israel vorzustellen, und weil deshalb in der ganzen Erzählung möglichst viele Beweise dafür «gesammelt» werden. So fällt etwa auf, dass im Matthäus-Evangelium besonders häufig alttestamentliche Prophetien erwähnt werden. Bei besonderern Ereignissen (wie hier) sind immer mindestens zwei Zeugen anwesend, denn nach dem göttlichen Gesetz ist das Zeugnis eines einzigen Menschen nicht ausreichend. Markus und Lukas haben einen etwas anderen Blickwinkel eingenommen. Bei Lukas, dem geliebten Arzt, steht der Mensch im Mittelpunkt, und zwar sowohl der Mensch als solches (also wir alle als Individuen) als auch der Herr Jesus als wahrer, vollkommener Mensch. Er schildert mehr Einzelschicksale als die anderen Evangelisten, weshalb er nur den einen der beiden Besessenen in den Fokus rückt und deshalb schildert, wie sich der Herr Jesus ganz besonders um einen armen, besessenen Menschen gekümmert hat, während er übergeht, wie der Herr Jesus sich genauso herzlich um den anderen Besessenen gekümmert hat. Markus nimmt eine ähnliche Perspektive ein, weil er uns den Herrn Jesus als den Diener für Gott und für uns vorstellt. Weder Markus noch Lukas schreibt, dass es nur ein Besessener gewesen sei. Ihre Berichte lassen die Anwesenheit eines zweiten Besessenen ohne Weiteres zu. Hier liegt also nicht ein Widerspruch, sondern vielmehr ein Ausdruck einer vollkommenen göttlichen Harmonie vor, wie sie von Menschen niemals hätte imitiert werden können!
Vers 29
Und siehe, sie schrien und sagten: Was haben wir mit dir zu schaffen, Sohn Gottes? Bist du hierher gekommen, uns vor der Zeit zu quälen? Mt 8,29
Die beiden besessenen Gadarener waren bemitleidenswerte Kreaturen. Sie hatten nicht mehr die Kontrolle über sich selbst, waren von der Gesellschaft ausgestossen worden und lebten in den Grüften. Aber bei ihnen zeigte sich nur in einem gesteigerten Mass, was der Zustand jedes Menschen von Natur aus ist. Wir alle haben den Teufel zum Fürst (Joh 16,11), zum Gott (2.Kor 4,4) und zum Vater (Joh 8,44). Wir stehen alle in jeder nur erdenklichen Hinsicht unter seinem Einfluss. Durch Todesfurcht hält er uns als seine Sklaven gefangen (Hebr 2,14.15) und das wirklich Tragische daran ist, dass uns das ganz gut gefällt. Wir seufzen wie die Israeliten unter den negativen Folgen der Sklaverei, aber wir lieben die Fische, die Gurken, die Melonen, den Lauch, die Zwiebeln und den Knoblauch aus Ägypten (4.Mose 11,5). Wir sündigen gewohnheitsmässig und sind deshalb Sklaven der Sünde (Joh 8,34), was bedeutet, dass wir die Kontrolle über unser Handeln zumindest ein Stück weit verloren haben. Wir hausen zwar nicht gerade in den Grüften, aber unsere Friedhöfe befinden sich mitten in unseren Städten und nicht etwa ausserhalb. Wir haben den Tod zu einem völlig normalen Bestandteil unseres Lebens erklärt, in der Hoffnung, ihm dadurch etwas von seinem Schrecken nehmen zu können. Ja, einige von uns haben sogar eine morbide Faszination für den Tod entwickelt! Wir sind gesellschaftsunfähig. Das Zusammenleben von Menschen funktioniert nicht. Scheidungen, Streitigkeiten, Gerichtsprozesse und Kriege gehören zur Tagesordnung. Wo Menschen zusammenleben, kommt es unweigerlich zu Streit. Fragen wir uns doch einmal ganz ehrlich: Was unterscheidet uns wirklich von den beiden besessenen Gadarenern?
Wundert sich irgendjemand darüber, dass die Dämonen nichts mit dem Sohn Gottes zu schaffen haben wollten? Sie wussten ganz genau, wer Er ist! Sie wussten, was Er kann und wozu Er gekommen war, nämlich um die Werke des Teufels zu vernichten (1.Joh 3,8). «Auch die Dämonen glauben – und zittern!» (Jak 2,19). Sie wussten, was ihr Schicksal sein werde, aber bis dahin wollten sie noch so viel Schaden anrichten, wie sie nur konnten, denn sie sind wie ihr Anführer Menschenmörder (Joh 8,44). Der Herr Jesus musste nur ihren Weg kreuzen und schon begann das grosse Jammern und Wimmern. Für einen Besessenen war es kein Problem, sich unerkannt in einer Synagoge, in einem Haus Gottes, aufzuhalten (vgl. Mk 1,23). Leider müssen wir sagen, dass sich auch in den meisten Kirchen heute Besessene aufhalten können, ohne dass es irgendwelche Probleme gäbe, ohne dass sie erkannt würden. Aber sobald der Sohn Gottes die Synagoge auch nur betrat, mussten die Dämonen offenbar werden, jammern und weichen (Mk 1,24ff.). So ist es immer. Dämonen können in der Gegenwart des Herrn Jesus nicht ruhig sein, nicht bleiben. Sie müssen weichen.
Vers 30
Es weidete aber fern von ihnen eine Herde von vielen Schweinen. Mt 8,30
Die Dämonen hatten den Sohn Gottes gefragt, ob Er gekommen sei, sie vor der Zeit zu quälen. Es wird eine Zeit kommen, in der die Dämonen samt ihrem Anführer in die Hölle geworfen werden, in einen See, der mit unauslöschlichem Feuer brennt. Dort werden der Satan und seine Dämonen sowie die gottlosen Menschen auf immer und ewig gequält werden. Die Dämonen wussten das. Sie wussten aber auch, dass die Zeit noch nicht gekommen war. Tatsächlich war der Herr Jesus noch nicht gekommen, um alles definitiv zu richten. Der Blick des Evangelisten Matthäus schweift deshalb zu einer passenden neuen Behausung für die Dämonen, die offenbar nicht lange ohne einen Wirtskörper leben können.
Schweine waren nach dem Gesetz Moses unreine Tiere. In Israel hatten sie deshalb nichts zu suchen. Das Land der Gadarener lag östlich des Sees Genezareth und damit auch östlich des Jordan, der den See speiste. Damit befand es sich ausserhalb des von Gott verheissenen Landes für Israel. Wir wissen, dass zweieinhalb Stämme – Ruben, Gad und die Hälfte von Manasse – nicht im Land, sondern östlich des Jordan sesshaft werden wollten und dass ihnen dies gestattet wurde. Das Land der Gadarener lag jedoch, soweit man das heute noch genau nachvollziehen kann, nicht im Gebiet dieser zweieinhalb Stämme, sondern nördlich davon. Die Gadarener waren also möglicherweise gar keine Israeliten, was die Schweineherden erklären würde. Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass auch Israeliten Schweine gehalten haben, um sie den heidnischen Besatzern gewinnbringend zu verkaufen. Aus den Evangelien wissen wir, dass die Juden, zumindest die Pharisäer, sehr darauf bedacht waren, peinlich alle rituellen Vorschriften zu beachten, während sie zugleich ihr Leben nach eigenen Vorstellungen und nicht nach den grossen göttlichen Grundsätzen (Barmherzigkeit, Liebe und Gerechtigkeit) führten. Man wäre deshalb nicht sonderlich überrascht, wenn die Juden mit den unreinen Schweinen Geschäfte gemacht hätten.
Vers 31
Die Dämonen aber baten ihn und sprachen: Wenn du uns austreibst, so sende uns in die Herde Schweine! Mt 8,31
Die Machtverhältnisse könnten nicht klarer beschrieben sein. Nur Lukas erwähnt beiläufig, dass der Herr Jesus den Dämonen geboten hat, auszufahren (Lk 8,29). Matthäus und Markus schreiben nichts davon, sondern stellen die Sache so dar, als hätte die blosse Anwesenheit des Herrn Jesus eine helle Bestürzung bei den Dämonen ausgelöst – was natürlich auch wahr ist. Der Exorzismus (die Austreibung der Dämonen) war kein Kampf und kostete den Herrn Jesus keine Anstrengung. Er wechselte einige Worte mit den Dämonen und dann erlaubte – nicht: befahl! – Er ihnen, in die Schweine zu fahren. Die Dämonen leisteten keinerlei Widerstand, sondern beschränkten sich darauf, Ihn anzuflehen, ihnen nichts Schlimmeres anzutun, als sie in die Schweine fahren zu lassen. Ja, es ist wahr: Die Dämonen glauben – und zittern! (Jak 2,19).
Vers 32
Und er sprach zu ihnen: Geht hin! Sie aber fuhren aus und fuhren in die Schweine. Und siehe, die ganze Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See, und sie kamen um in dem Gewässer. Mt 8,32
Wenn der Herr Jesus Christus selbst Dämonen austreibt, dann gibt es kein Kräftemessen und keinen Kampf, sondern nur eine einfache Aufforderung (von der Matthäus nichts erwähnt), verbunden mit der Erlaubnis, in ein anderes Wesen fahren zu dürfen. So gross und mächtig ist der HERR! Die Bitte der Dämonen verrät uns einiges über ihr Wesen. Sie benötigen offensichtlich einen «Wirt», können also nicht lange ohne einen Körper sein, den sie kontrollieren. Ein eindrückliches Gleichnis in Mt 12 wird das noch weiter unterstreichen. Sie bevorzugen unreine Wohnstätten, denn die Schweine waren unreine Tiere.
Je mehr wir Menschen uns bösen, dämonischen Einflüssen öffnen, je tiefer wir im kotigen Schlamm der Sünde wühlen und je mehr wir das Verkehrte lieben, umso lieber werden die Dämonen Wohnung in uns nehmen. Bedenken wir, dass der HERR nicht willkürlich Tiere als rein oder unrein bezeichnet hat. Es waren immer bestimmte Merkmale, die darüber entschieden haben, ob ein Tier rein oder unrein sei. Reine Tiere zeichnen sich (bildlich gesehen) durch gute Verhaltensweise aus, wozu beispielsweise das Wiederkäuen gilt, das bildlich davon spricht, dass wir das Wort Gottes nicht nur hören, sondern richtig – mehrfach – «verdauen», also darüber nachsinnen. Man könnte viel darüber schreiben. Tiere, die sich nicht durch gute Verhaltensweisen ausgezeichnet haben oder die von bösen Verhaltensweisen geprägt waren (z.B. alle Raubvögel), galten als unreine Tiere. Schweine galten also nicht einfach als unrein, weil Gott das blind so bestimmt hätte, sondern weil sie nicht wiederkäuen (3.Mose 11,7) und weil sie sich im Dreck wälzen (2.Petr 2,22). Hast Du keine oder nur wenig Liebe zum Wort Gottes? Denkst Du selten darüber nach? Liebst Du es mehr, Dich in sündigen Vergnügungen zu wälzen? Dann bist Du eine geeignete Wohnstätte für Dämonen.
Das Wirken von Dämonen ist in letzter Konsequenz zerstörerisch. Der Teufel ist ein Menschenmörder von Anfang an und der Vater der Lüge (Joh 8,44). Er und seine Dämonen machen falsche Versprechungen, belügen die Menschen und zielen letztlich nur darauf ab, sie umzubringen. Die Schilderung vom Besessenen in Mk 5 ist erschreckend und schockierend. Hätte der Sohn Gottes ihn nicht gefunden, wäre es bald aus mit ihm gewesen. Ebenso tragisch ist die Schilderung davon, was ein Dämon mit einem kleinen Jungen tat, die wir in Mt 17,14ff., Mk 8,14ff. und Lk 9,37ff. finden. Die Schweine, die keinen Geist wie ein Mensch und daher keine «Kontrollinstanz» haben, die dem Streben der Dämonen etwas entgegen zu setzen hätte, waren dem Wirken der Dämonen hilflos ausgeliefert. Kaum waren die Dämonen in sie gefahren, stürzten sie sich den Abhang hinunter in den Tod. Darauf zielt das Handeln der Dämonen ab.
Vers 33
Die Hüter aber flohen und gingen in die Stadt und verkündeten alles und das von den Besessenen. Mt 8,33
Matthäus schildert die Heilung der Besessenen mit viel weniger Worten und damit auch viel weniger Details als Markus und Lukas. Dadurch werden allerdings gewisse Punkte besser beleuchtet. Man erkennt die Form einer Sache manchmal besser, wenn man nur die Umrisse sieht. Indem Matthäus den Effekt der Befreiung auf die Besessenen verschweigt, lässt er den Blick des Lesers unweigerlich bei den Schweinen haften. Wer nur den Bericht von Matthäus gelesen hat und dann gefragt wird, woran sich die Befreiung der Besessenen gezeigt habe, wird sagen: «Eine ganze Schweineherde hat sich in den Abgrund gestürzt». So muss auch der Bericht der Schweinehüter gelautet haben, denn sie verkündeten alles – und das von den Besessenen. Das will sagen, sie erzählten in erster Linie, was mit den Schweinen geschehen war.
Natürlich betrachteten die Hüter (und auch die Bewohner der Stadt) die Sache nicht als ein Geschenk des Himmels. Sie erkannten nicht, dass sie gerade eine üble Bande Dämonen und dazu noch eine ganze Herde unreiner Tiere auf einen Schlag losgeworden waren, wobei man natürlich einräumen muss, dass sie eventuell gar keine Israeliten gewesen und deshalb Schweine nicht als unreine Tiere betrachtet haben. Für sie ging es nur darum, dass sie gerade ein gewaltiges wirtschaftliches Kapital verloren hatten. Sie betrachteten die Sache als einen Verlust, wie der folgende Vers deutlich macht.
Geht es uns, sogar uns echten Gläubigen, nicht oft genau gleich? Der HERR befreit uns in Seiner Macht und Gnade von Dingen, die eigentlich nur eine Belastung für uns sind, aber wir erkennen darin keine Befreiung, sondern nur einen Verlust. Das ist schade, weil wir darauf nicht mit der gebührenden Dankbarkeit, sondern mit Murren antworten werden. Zudem werden wir nicht die gütige Hand unseres Vaters in den Himmeln als das erkennen, was sie ist, sondern als etwas Negatives. Wir werden ein falsches Bild von Gott pflegen und ein falsches Bild von Gott zu haben, ist schlimm, weil das unser ganzes Leben negativ beeinflussen wird. Möchten wir doch immer besser verstehen, wie gut der HERR es in allem meint, das Er tut!
Vers 34
Und siehe, die ganze Stadt ging hinaus, Jesus entgegen, und als sie ihn sahen, baten sie, dass er aus ihrem Gebiet weggehen möge. Mt 8,34
Das ist wohl einer der traurigsten Verse in der ganzen Bibel! Eine ganze Stadt geht aus, direkt zum Heiland der Welt – um Ihn zu bitten, aus ihrem Gebiet wegzugehen! Kann man das fassen? Kann man begreifen, was da geschehen ist? Natürlich, vom menschlichen Standpunkt aus können wir die Reaktion ein Stück weit verstehen: Die Besessenen hatten die Stadtbewohner nicht mehr weiter gestört, weil sie ausserhalb der Stadt bei den Grüften gelebt hatten, das Stadtleben war ungestört verlaufen, die Schweineherden hatten sich prächtig entwickelt und nun waren die Schweine plötzlich alle tot. Das Auftreten von Jesus dem Nazaräer hatte nur Ärger gebracht!
In Tat und Wahrheit hatte sich allerdings in einem Augenblick alles zum Guten gewendet. Der Sohn Gottes war gekommen, hatte die beiden Besessenen geheilt, mit denen niemand klar gekommen war, und Er hatte das Land von einer Verunreinigung befreit, wenn man die Schweine in ihrer bildlichen Bedeutung betrachtet. Und das wäre nur der Auftakt gewesen! Vielleicht kann man das mit einem total verwahrlosten Haus vergleichen, in dem jemand lebt, der komplett die Kontrolle über sein Leben verloren hat. Da stehen lauter Dinge, die eigentlich gar nicht benötigt werden, überall liegt Abfall, alles ist dreckig, man kommt nicht einmal mehr in die Küche, weil alles so vollgestellt ist. Plötzlich kommt unerwartet ein Reinigungsteam, das sofort beginnt aufzuräumen und zu putzen. Das Entrée ist nach einer halben Stunde entrümpelt und blitzblank geputzt. Das Team will sich sogleich an den nächsten Raum machen, da kommt der Hausbesitzer, sieht das alles – und beginnt sofort, laut zu schimpfen und sich darüber zu beklagen, dass man dieses und jenes entsorgt hat. Er will lieber weiter in seinem Dreck leben, weil ihm der Dreck ans Herz gewachsen ist.
Wie oft verhalten wir uns ganz ähnlich, selbst wenn wir vielleicht schon jahrelang im Glauben stehen! Der HERR beginnt, einen bestimmten Bereich unseres Lebens zu entrümpeln, und wir müssten wissen, dass uns dies zum Besten dient, aber wir sehen darin keine Befreiung, sondern nur ein Entfernen von Dingen und Gewohnheiten, die uns lieb geworden sind, obwohl sie uns schaden. Manchmal fällt uns die Trennung so schwer oder schmerzt der Prozess so sehr, dass wir den HERRN bitten, damit aufzuhören. Wir hoffen, dass Er uns in diesem Punkt in Ruhe lässt, dass Er uns noch ein wenig Zeit gibt. Lot wurde durch das, was er in Sodom tagtäglich erlebte, in seiner Seele gequält (2.Petr 2,8), aber als der HERR ihn aus jener Stadt befreite und ihm gebot, sofort ins Gebirge zu fliehen, da konnte er sich doch nicht richtig davon trennen. Er bat den HERRN, dass Er es ihm doch zulasse, die kleinste jener fünf Städte dort (Sodom, Gomorra, Adama, Zebojim und Zoar) quasi behalten zu können – nur eine Stadt, nur eine ganz kleine … Er konnte sich einfach nicht lösen. Es ist reine Gnade, wenn der HERR solche Bitten nicht erhört! Das Schlimmste, das einem Menschen passieren kann, ist, dass der HERR ihn einfach nach eigenem Belieben gewähren lässt, denn diese Freiheit wird den Menschen immer in das grösstmögliche Elend führen. Wir müssen nur einmal die Augen öffnen, die Welt betrachten und uns fragen, was die Früchte davon sind, dass der HERR uns so lange mehr oder weniger frei hat gewähren lassen.
Ach, möchte doch niemand unter uns sein, der den Herrn Jesus, wenn Er Sich anschickt, in unserem Leben aufzuräumen, bittet, damit aufzuhören und weg zu gehen!