Bibelkommentare

Erklärungen zur Bibel

 

Matthäus 9

Vers 1

Und er stieg in ein Boot, setzte über und kam in seine eigene Stadt. Mt 9,1

Die Gadarener hatten den Herrn Jesus gebeten, ihr Gebiet zu verlassen, weshalb Er in ein Boot stieg und – welch Verlust! – über den See zurück auf die andere Seite setzte. Der HERR hat zwar alle Macht, die man sich nur denken kann, und Er ist in der Lage, Seinen Willen immer durchzusetzen, komme, was wolle. Aber Zwang gehört nicht zu jenen Werkzeugen, die Er regelmässig benutzt. Er kann die Menschen frei toben und wüten lassen, ruhig zuwarten und dann alles Verkehrte, das geschieht, benutzen, um am Ende doch Seinen Willen durchzusetzen. Die Menschen, die Dämonen und sogar der Satan spielen Ihm immer wieder (ohne es zu wollen) direkt in die Hand. «Denn selbst der Grimm des Menschen wird dich preisen; auch noch mit dem Rest des Grimmes wirst du dich gürten» (Ps 76,11). So wunderbar ist der HERR! Wenn wir es so ausdrücken dürfen, können wir sagen, dass Ihm Zwang zu simpel, zu banal, zu plump ist. Deshalb drängt Er Sich auch nicht auf. Natürlich zieht Er die Menschen zu Sich, natürlich stellt Er sie ins göttliche Licht, natürlich durchdringt Er ihre Herzen mit Seinem Wort, aber wenn sie Ihm die Türe vor der Nase zuschlagen, wenn sie nicht wollen, dann lässt Er sie. Er dringt nicht mit Gewalt ein, sondern zieht Sich lieber zurück – sehr zum Schaden jenes Menschen, der nicht wollte!

Auf der anderen Seite des Sees lag Kapernaum, das Dorf des Trostes, wenn man den ursprünglichen hebräischen Namen übersetzt. Dieser Stadt war ein ganz besonderes Vorrecht zuteil geworden: Der Herr Jesus hat den überwiegenden Teil Seines Lebens als Erwachsener in dieser Stadt verbracht, weshalb sie hier in Mt 9,1 «Seine eigene Stadt» genannt wird. Was für ein Ehrentitel! Kapernaum ist die einzige Stadt auf der ganzen Welt, die «Seine eigene Stadt» genannt werden kann. Deshalb sagte der Herr Jesus auch einmal, dass Kapernaum «bis zum Himmel erhöht» worden sei (Mt 11,23). Wir werden in diesem und in anderen Zusammenhängen noch lesen, welchen Einfluss diese gewaltige Tatsache auf die Bewohner von Kapernaum gehabt hat.

Vers 2

Und siehe, sie brachten einen Gelähmten zu ihm, der auf einem Bett lag; und als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sei guten Mutes, Kind, deine Sünden sind vergeben. Mt 9,2

Krankheiten und Behinderungen haben in der Bibel oft eine bildhafte Bedeutung. Wenn hier also die Rede von einem Gelähmten ist, dann haben wir es einerseits wirklich mit einem Mann zu tun, der nicht gehen konnte, heute also auf einen Rollstuhl angewiesen wäre, was sehr schlimm ist. Zugleich aber steht die Lähmung sinnbildlich für einen «geistlichen Defekt». Beispielsweise durften Nachkommen des ersten Hohenpriesters Aaron nicht als Priester im Tempel dienen, wenn sie irgendein körperliches Gebrechen hatten. Man hat die entsprechende Stelle oft als eine Behindertenfeindlichkeit der Bibel ausgelegt, weil man nicht verstanden hat, worum es geht. Zudem hat man geflissentlich überlesen, dass auch die Nachkommen Aarons, die an einer Behinderung litten, die besonderen Vorrechte der Priesterfamilie geniessen durften, also keineswegs zu kurz kamen. Der HERR wollte damit nur anzeigen, dass Er bei der Anbetung nichts weniger als absolute Perfektion akzeptiert. Weil wir alle an gewissen «Defekten» leiden, weil niemand von uns absolut vollkommen ist, kann niemand von uns Gott jene Anbetung darbringen, die Ihm zusteht. Nur der Herr Jesus Christus konnte und kann Gott so anbeten, wie es Seiner würdig ist. In der wahren christlichen Anbetung stehen wir vor Gott dem Vater als in Christo Jesu, also so, als würde Er selbst den Vater anbeten. Allein das macht unsere Anbetung würdig und angenehm. Man müsste noch viel mehr dazu schreiben, aber das würde hier den Rahmen sprengen. Es geht nur darum zu zeigen, dass wir die ersten Verse in Mt 9 nicht (nur) als die Schilderung eines Gelähmten ohne jede geistliche Relevanz verstehen sollten.

Wofür steht also der Gelähmte? Das dürfte wohl klar sein: Er kann nicht gehen, also nicht dorthin kommen, wo er sein will oder sein sollte. Das sehen wir ja gerade im vor uns liegenden Vers: Dieser Gelähmte wäre wahrscheinlich gerne selbst zum Herrn Jesus gegangen, um sich heilen zu lassen, aber er konnte nicht. Damit steht er sinnbildlich für alle Menschen. Egal, ob sich ein Mensch nach Gott und dem Himmel ausstreckt oder aber gar nichts davon wissen will, keiner erreicht das Ziel, «denn alle haben gesündigt und ermangeln der Herrlichkeit Gottes» (Röm 3,23). Kein einziger Mensch kann einen so perfekten Charakter und Lebenslauf vorweisen, dass er bei Gott Annahme finden und in den Himmel eingehen könnte. Das Gesetz für Israel hat (unter den denkbar besten Bedingungen für das Volk) versprochen, dass der Mensch, der alle Gebote hält, leben wird. Aber alle sind gestorben. Keiner hat es geschafft! Über Jahrhunderte hinweg hat dieses Volk uns allen bewiesen, dass es für einen Menschen unmöglich ist, Gottes Ansprüche zu befriedigen. Dabei müssen wir bedenken, dass das Gesetz für Israel einen weit herabgesetzten Standard vorgegeben hat. Man vergleiche die Ansprüche nur einmal mit der «Verfassung des himmlischen Königreichs» in Mt 5–7! Wir sind also alle unfähig, zu Gott und in den Himmel zu kommen. Wir sind alle gelähmt. Wir würden vielleicht gerne, aber wir können nicht.

Diese Erkenntnis hat übrigens vor gut 500 Jahren die Reformationsbewegung ausgelöst. Die römisch-katholische Kirche lehrt, dass wir gute Menschen, gute Christen sein müssen. Wenn wir uns genügend anstrengen, dann werden wir würdig, die Gnade Gottes zu empfangen, was allerdings die Gnade ihres Sinns entleert. Denn wenn Gnade die Antwort auf unsere Bemühungen ist, ist sie nicht Gnade, sondern Lohn. Die römisch-katholische Kirche lehrt damit ein verkehrtes und verdrehtes Evangelium, eine Werksgerechtigkeit, eine Zusammenarbeit von Gott und dem Mensch, wenn es darum geht, das ewige Heil zu empfangen. Dieser Gedanke wird dann u.a. in der völlig perversen Lehre vom Fegefeuer weiter gesponnen, wo die Menschen angeblich nach ihrem Tod noch ihre Sünden abbezahlen können, um es letztlich doch noch in den Himmel zu schaffen. Ein offizielles Dogma der römisch-katholischen Kirche besagt, dass jeder, der an die Errettung allein durch Gnade und allein durch Jesus Christus glaubt – also jeder («reformierte» bzw. echte) Christ! –, verflucht sei. Noch vor einigen Jahrhunderten hat man diese Ansicht mit dem Schwert blutig durchgesetzt, wovon bspw. das Vorgehen gegen die Waldenser ein trauriges Zeugnis ablegt. Jeder echte Christ weiss aber ganz genau, dass er nicht einmal den Bruchteil eines Prozentes zu seiner Errettung beigetragen hat, dass er das ewige Heil nicht einmal ansatzweise verdient hat, dass er gelähmt gewesen, aber vom Herrn Jesus gefunden worden ist.

So gesehen ist es also falsch, wenn wir von einem Menschen sagen, dass er zum Herrn Jesus gefunden habe; man müsste sagen, dass der Mensch vom Herrn Jesus gefunden worden sei. So hat auch der Sohn Gottes selbst Seine grosse Rettungsmission beschrieben: «Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist» (Lk 19,10). Achten wir doch einmal genauer auf das, was Er zum Gelähmten gesagt hat! Er hat ihm nicht gesagt, dass er nun geheilt sei, dass er nun wieder gehen könne, sondern: «Sei guten Mutes, Kind, deine Sünden sind vergeben». Sündenvergebung! Das war es, was der Gelähmte zuallererst nötig hatte! Hören wir denn nicht die Sprache, die diese Schilderung spricht?

Ich hoffe, dass jemand, der bis hierher gelesen hat, einen stillen Einwand erhebt: «Aber der Herr Jesus ist ja gar nicht zum Gelähmten gekommen! Er wurde zu Ihm gebracht!» Dieses Detail spricht nämlich von einer weiteren sehr wichtigen Sache, wobei der genaue Wortlaut von Mt 9,2 diesbezüglich hoch erstaunlich ist. Der Gelähmte konnte also nicht zum Herrn Jesus kommen, aber er hatte Freunde – gute Freunde! –, die ihn zum Herrn Jesus trugen. Der Herr Jesus sah ihren Glauben, nicht den Glauben des Gelähmten, sondern ihren Glauben und sprach dem Gelähmten daraufhin die Vergebung der Sünden zu. Nun frage ich Dich, lieber Leser, liebe Leserin: Was hat der Gelähmte getan, um gerettet zu werden? Was hat er gesagt? Er war komplett passiv! Keine Bewegung, kein Wort wird uns genannt, nichts, rein gar nichts. Aber seine Freunde haben etwas getan. Sie haben ihn zum Herrn Jesus getragen – nicht nur irgendwie, sondern im Glauben. Was ist die geistliche Bedeutung? Die Freunde sprechen von Gläubigen, die ihre noch gottlosen Freunde, Bekannten und Verwandten im Gebet mit der Bitte vor den Herrn Jesus bringen, Er möge sie doch heilen und retten. Jemand hat einmal geschrieben, dass der grösste Beweis unserer Liebe zu unseren Nächsten die Gebete sind, die wir für sie sprechen. Das ist das Grösste und Beste, das wir für unsere Liebsten tun können – für sie zu beten. Denn dadurch bringen wir sie direkt zu den Füssen Dessen, der kann und will! Nur Gott kann Menschen retten, also müssen wir sie zu Ihm bringen – im Gebet! Seien wir solche Freunde, wie der Gelähmte sie gehabt hat!

Vers 3

Und siehe, einige von den Schriftgelehrten sprachen bei sich selbst: Dieser lästert. Mt 9,3

Unter den Zuhörern waren auch Schriftgelehrte anwesend. Während der ganzen Zeit Seines öffentlichen Dienstes stand der Herr Jesus beständig unter Beobachtung. Bereits die Ereignisse rund um Seine Geburt hatten Ihn ja «verdächtig» gemacht. Jahre später war Er mit Vollmacht aufgetreten und hatte sofort begonnen, ganz aussergewöhnliche Wunder und Zeichen zu tun. Alles deutete darauf hin, dass Er der verheissene Messias-König für Israel war, weshalb es nicht überrascht, dass die Schriftgelehrten bzw. allgemein die religiösen Führer der Juden Ihm auf Schritt und Tritt gefolgt sind.

Auffällig ist allerdings, dass sie uns in der Heiligen Schrift nie als unvoreingenommen und objektiv erscheinen. Sie scheinen von Anfang an eine klare Meinung gehabt zu haben und es macht den Eindruck, als hätten sie nur versucht, Beweise dafür zu sammeln, dass ihre Meinung richtig sei. So war es auch hier bei der Heilung des Gelähmten: Der Herr Jesus sprach von Sündenvergebung und für sie war sofort klar, dass das eine Lästerung sei.

In einem Punkt lagen die Schriftgelehrten allerdings richtig: Nur Gott allein kann Sünden vergeben. Sünde richtet sich immer gegen Ihn, manchmal auch gegen Menschen, aber immer gegen Ihn. Nur Er kann das geschehene Unrecht beseitigen. Kein Mensch kann stellvertretend für Ihn Sünden vergeben. Wer wären wir, dass wir so etwas tun könnten? Nun stand da ein Mensch vor den Schriftgelehrten, der Sünden vergab. Er musste entweder ein dreister Betrüger, ein Wahnsinniger oder Gott selbst gekommen im Fleisch sein. Die Schriftgelehrten dachten immerhin klarer als die meisten Menschen heute. Sie wussten, dass es nur diese Möglichkeiten geben konnte, während die Menschen heute alles zerfaseln und meinen, Jesus Christus sei einfach nur ein guter Mensch gewesen, obwohl diese Ansicht den Aussagen der Heiligen Schrift diametral zuwiderläuft.

Aber weshalb dachten die Schriftgelehrten, Er sei ein Lästerer und Betrüger? Weshalb schlossen sie kategorisch aus, dass Er Gott gekommen im Fleisch sein könnte? Auch das lässt sich ein Stück weit nachvollziehen. In ganz alten rabbinischen Schriften findet man die Ansicht vertreten, dass der kommende Messias zugleich Mensch und Gott sein werde. Darauf deuten ja auch viele Stellen im Alten Testament klar hin. Aber ein solcher Gedanke übersteigt unseren Verstand und erscheint uns als zu wunderbar. Deshalb hat sich mit der Zeit unter den Rabbinern die Ansicht durchgesetzt, der Messias werde ein aussergewöhnlicher Mensch sein – mehr nicht. Als der Herr Jesus begann, öffentlich zu wirken, war diese Ansicht schon so zementiert, dass sich die Schriftgelehrten nicht mehr davon lösen konnten. Leider waren sie im Allgemeinen nicht bereit, ihre eigenen Ansichten zu hinterfragen. Sie waren so festgefahren, dass sie quasi nur mit Ablehnung reagieren konnten. So konnte ihr Urteil gar nicht objektiv ausfallen.

Typisch für diese Heuchler ist, dass sie ihr Vorurteil nicht laut, sondern nur «bei sich selbst» ausgesprochen haben. Das bedeutet, dass sie diese Gedanken gehegt, aber nicht ausgesprochen haben.

Vers 4

Und als Jesus ihre Gedanken sah, sprach er: Warum denkt ihr Arges in euren Herzen? Mt 9,4

Die Schriftgelehrten sprachen ihr (Vor-) Urteil nicht aus, aber für den Herrn Jesus war es kein Unterschied, ob sie nur Gedanken in ihren Herzen hegten oder ob sie laut aussprachen, was sie dachten; Er sah ihre Gedanken. Wie konnte das sein? Kein Mensch kann eines anderen Menschen Gedanken «sehen». Nur Einer wird in der Bibel ein bzw. der Herzenskenner genannt: Gott (Apg 1,24; 15,8). Als Salomo den Tempel mit einem langen Gebet einweihte, sagte er unter anderem: «Denn du, du allein kennst das Herz aller Menschenkinder» (1.Kön 8,39). Diese Tatsache war den Juden also gut bekannt.

Wir erinnern uns, dass die Schriftgelehrten in ihren Herzen den Gedanken gehegt haben, der Herr Jesus lästere, indem Er Sich (unbefugt) zu Gott mache. Aber nun sprach der Herr Jesus die Gedanken ihres Herzens laut aus, wodurch Er zeigte, dass Er ihre Gedanken, ihre Herzen kannte. Er offenbarte Sich damit als der Herzenskenner und bewies, dass Er tatsächlich Gott ist! Nur schon diese eine Frage von Ihm hätte sie sofort überführen und veranlassen müssen, ihr vorschnell gefälltes Urteil nochmals zu überdenken.

Vers 5

Denn was ist leichter zu sagen: Deine Sünden sind vergeben, oder zu sagen: Steh auf und geh umher? Mt 9,5

Die Schriftgelehrten fällten in ihren Herzen ein falsches Urteil, aber auch die übrigen Menschen mochten sich wohl zumindest verwundert haben, denn das Wort des Herrn Jesus schien der Situation nicht angemessen. Da war ein Gelähmter und es war offensichtlich, was er wollte. Aber anders als bei zahlreichen anderen Gelegenheiten sagte der Herr Jesus nicht, was man erwartet hätte: «Steh auf und geh umher!», sondern Er vergab ihm die Sünden. Wieso tat Er das?

Wenn der HERR heilt, dann heilt Er immer vollständig. Wenn Er ein Problem löst, dann löst Er es immer komplett. Krankheiten können ihre Ursache manchmal in einer konkreten Sünde haben. In einem gewissen Sinne sind sie immer eine Folge von Sünde, denn ohne den Sündenfall hätten der Tod und Krankheiten nie Eingang in diese Schöpfung gefunden, aber manchmal – nicht immer! – ist es wirklich eine ganz konkrete Sünde, die zu einer Krankheit geführt hat. Einmal ermahnte der Herr Jesus einen Gelähmten, den Er gerade geheilt hatte: «Siehe, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nichts Ärgeres widerfährt!» (Joh 5,14). Das macht klar, dass jener Mann wegen etwas, das er getan hatte, 38 Jahre lang gelähmt gewesen war! Ein anderes Mal hingegen erklärte der Herr Jesus den Jüngern, dass eine Krankheit nicht immer die Folge einer konkreten Sünde sein muss: «Seine Jünger fragten ihn und sagten: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbart werden» (Joh 9,3.4). In der vor uns liegenden Szene hatte es der Herr Jesus offenbar mit einem wegen einer konkreten Sünde Gelähmten zu tun. Es wäre zu wenig gewesen, wenn Er diesen Menschen nur körperlich geheilt hätte, denn das wäre nur eine Symptombekämpfung gewesen. Nein, zuerst musste das Problem der Sünde geklärt werden. Dem Menschen musste die Sünde vergeben werden.

In Seiner Antwort an die Schriftgelehrten erklärte der Herr Jesus nichts von all dem. Vielmehr wollte Er ihnen anhand eines Gegensatzes Seine Autorität deutlich vor Augen führen. Zuerst fragte Er sie, was einfacher zu zuzusprechen sei: Sündenvergebung oder körperliche Heilung. «Deine Sünden sind vergeben», ist natürlich viel leichter zu sagen als: «Steh auf und geh umher!». Die Wirkung der Worte zeigt sich nämlich bei der Zusprache einer körperlichen Heilung augenblicklich – oder eben nicht, wodurch man blossgestellt wird. Bei der Zusprache der Sündenvergebung kann die Wirkung von den Zuhörern nicht überprüft werden. Deshalb lässt sich das viel leichter sagen. Die Priester der römisch-katholischen Kirche machen es uns ja tagtäglich vor: Wenn jemand zur Beichte kommt, sprechen sie ihm die Sündenvergebung zu, als stünden sie an Gottes Stelle. Was für eine Anmassung! Der Betrug wird aber erst vor dem Thron Gottes offenbar werden. Deshalb lässt sich das sehr leicht sagen. Aber das Ausführen ist eine ganz andere Geschichte, wie uns der nachfolgende Vers zeigen wird.

Vers 6

Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben … Dann sagt er zu dem Gelähmten: Steh auf, nimm dein Bett auf, und geh in dein Haus! Mt 9,6

Sagen und tun sind zwei komplett verschiedene Dinge. In einem Brief des Apostels Johannes heisst es: «Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit!» (1.Joh 3,18). Viele Dinge lassen sich leicht sagen, kosten aber viel, wenn wir sie tun wollen. Wie rasch können wir jemandem sagen, seine Sünden seien ihm vergeben, aber wie komplett unmöglich ist es für uns, diesbezüglich auch nur irgendetwas zu tun!

Der Herr Jesus zeigte diesen Gegensatz sehr anschaulich auf: Zuerst sagte Er dem Gelähmten, dass ihm seine Sünden vergeben seien, was leichter war als zu sagen, er solle aufstehen und umhergehen. Aber dann zeigte Er Seine Macht, indem Er beides in die Tat umsetzte: In einem Augenblick heilte Er den Gelähmten vollständig und im selben Augenblick vergab Er ihm seine Sünden! Die Heilung des Gelähmten war ausserordentlich; niemand in jenem überfüllten Raum hätte sie bewirken können. Aber die Vergebung der Sünden war etwas noch Grossartigeres. Der Herr Jesus konnte beides nicht nur sagen, sondern tun.

Und doch nannte Er Sich in jenem Augenblick «Sohn des Menschen», nicht «Sohn Gottes». Das ist ein feiner, aber wunderschöner Hinweis auf das Geheimnis Seiner Person, denn genau in jenem Augenblick tat Er etwas, das nur der ewige Sohn des ewigen Gottes – nur der allein wahre Gott selbst – tun konnte, während Er zugleich mit Worten bekräftigte, dass Er ein wahrer Mensch war. Er ist beides, vereint in einer Person.

Beachten wir, dass Er sagte, der Sohn des Menschen habe Vollmacht, auf der Erde Sünden zu vergeben. Das ist eine allgemein gültige Wahrheit. Solange wir hier auf dieser Erde leben, haben wir die Möglichkeit, die Vergebung unserer Sünden zu erlangen. Sobald unser irdisches Leben zu Ende ist, ist diese Möglichkeit verstrichen. Man sagt, dass der Mensch nichts ins Jenseits mitnehme, aber das stimmt nicht ganz. Die nicht vergebenen Sünden nimmt der Mensch nämlich mit. Die Idee, er könne diese Sünden im Jenseits noch im Fegefeuer abtragen, widerspricht zahlreichen absolut klaren Aussagen der Bibel, von denen Mt 9,6 noch die schwächste ist. Niemand sollte seine Hoffnung darauf setzen, nach seinem Tod noch irgendwie irgendwas in Ordnung bringen zu können. Mit dem letzten Herzschlag ist alles definitiv besiegelt. Wir müssen hier in diesem Leben auf dieser Erde mit Gott ins Reine kommen! Nachher ist es zu spät!

Vers 7

Und er stand auf und ging in sein Haus. Mt 9,7

Der Sohn Gottes musste nur ein Wort sprechen und der Gelähmte war gesund. Er machte nicht ein paar zaghafte Schritte, sondern stand auf, wie wenn es das Normalste der Welt wäre, und ging in sein Haus. Es war, als ob er nie gelähmt gewesen wäre.

Wie wir gesehen haben, wurde er nicht nur körperlich geheilt, sondern auch an seinem inneren Menschen. Der Sohn Gottes hatte ihm die Sünden vergeben. Diese hatten ihn im übertragenen Sinn gelähmt, denn jeder, der (gewohnheitsmässig) die Sünde tut, ist der Sünde Knecht (Joh 8,34). Der Wille Gottes aber ist es, Menschen aus dieser Sklaverei zu befreien, sie von ihrer «geistlichen Lähmung» zu heilen und sie aufrecht umher gehen zu lassen. Das sehen wir ja so schön in der Geschichte des Volkes Israels, das der HERR aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Einmal hat Er das so zusammengefasst: «Ich bin der HERR, euer Gott, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgeführt habe, damit ihr nicht ihre Sklaven sein musstet. Und ich habe die Stangen eures Joches zerbrochen und euch aufrecht gehen lassen» (3.Mose 26,13). Er will nicht, dass wir unser ganzes Leben niedergebeugt als Sklaven fristen müssen, sondern Er will uns aufrecht gehen lassen, unsere Würde wieder herstellen! Ist das nicht wunderbar? Wie kann man so ein Angebot ausschlagen!

Vers 8

Als aber die Volksmengen es sahen, fürchteten sie sich und verherrlichten Gott, der solche Vollmacht den Menschen gegeben hat. Mt 9,8

Die Volksmengen reagierten ganz anders als die Schriftgelehrten. Sie waren nicht mit religiösen Spitzfindigkeiten beschäftigt, sondern beobachteten einfach, was geschah. Und was sie sahen, war aussergewöhnlich. Ich meine, wer von uns hat schon einmal gesehen, wie ein Gelähmter auf ein Wort hin aufgestanden und nach Hause gegangen ist, als wäre es das Normalste der Welt? Die Volksmengen konnten dieses Wunder klarer als die Schriftgelehrten als ein solches sehen, weil ihnen keine festgefahrenen religiösen Vorstellungen die Sicht versperrten. Die Schriftgelehrten verachteten die einfachen Leute aus Galiläa, weil diese die Heilige Schrift nicht so gut kannten wie sie: «Diese Volksmenge aber, die das Gesetz nicht kennt, sie ist verflucht!» (Joh 7,49). Doch die Schriftgelehrten kannten den wahren Inhalt der Bibel nicht besser als jene einfachen Leute. Sie besassen nur eine hohle Form der Erkenntnis, die aufbläht (vgl. 1.Kor 8,1), ein reines Kopfwissen. Echte Erkenntnis entspringt aber dem vertrauten Umgang mit Gott und findet nur Platz in einem Herz, das für Gott schlägt. Die Volksmengen waren «neutral»; sie waren offen für neue Erfahrungen. Aber die Schriftgelehrten hatten ihr Herz schon längst fest verschlossen und konnten daher nicht mehr für das Wirken Gottes empfänglich sein.

Vers 9

Und als Jesus von dort weiterging, sah er einen Menschen mit Namen Matthäus am Zollhaus sitzen, und er spricht zu ihm: Folge mir nach! Und er stand auf und folgte ihm nach. Mt 9,9

Hier beschreibt nun der Evangelist Matthäus, wie er selbst in die Nachfolge berufen worden ist. Sein Zeugnis ist sehr anziehend, weil es schlicht und kurz ist. Wir würden zum Ausschmücken tendieren, er schreibt einfach von «einem Menschen» namens Matthäus, und das auch nur stellvertretend für einen von vielen Zöllnern und Sündern. Es geht hier nicht um ihn, sondern immer noch darum, wie die Gnade Gottes in der Person des verheissenen Messias-Königs Jesus zu allen Schichten und Klassen in Israel vorgedrungen ist.

Zöllner gehörten in Israel zu den verachtesten Leuten überhaupt. Man mied sie, pflegte nicht einmal einen gewöhnlichen Kontakt zu ihnen. Sie wurden fast wie Aussätzige behandelt, die nicht zur Gesellschaft gehören durften. Der Grund für dieses Verhalten der Juden gegenüber Zöllnern bestand darin, dass die Zöllner mit der Besatzungsmacht Rom kooperierten und dabei halfen, ihre eigenen Landsleute auszunehmen. Oft bedienten sich die Zöllner dabei noch selbst, indem sie ihre Landsleute über den Tisch zogen, mehr als verlangt einnahmen und den Überschuss in die eigene Tasche steckten.

Matthäus war ein solcher Zöllner. Wir wissen nicht, ob er eher zu den ehrbareren Zöllnern (wie Zachäus) oder eher zu den Betrügern gehörte, aber das spielt keine Rolle. Der HERR hat es in Seinem Wort nicht erwähnt; wir müssen darüber nicht mutmassen. Jedenfalls war er gerade damit beschäftigt, seiner Arbeit nachzugehen und (viel) Geld zu verdienen. Da hörte er die kurze, aber bestimmte Aufforderung: «Folge mir nach!» – der typische und in Israel wohlbekannte Ruf in die Schule eines Rabbis. Dieser Rabbi war anders: Er hatte keine Schule für Rabbis besucht, Er war nicht offiziell ordiniert worden und die anderen Rabbis leisteten Ihm überall und ständig Widerstand. Aber das Auge des Glaubens sah in Ihm etwas, das es bei keinem anderen Rabbi fand. Matthäus durfte das durch die Gnade des HERRN sehen, weshalb es kein Zögern und kein Zaudern gab: Er liess seine Arbeit liegen und folgte dem HERRN nach. Wunderschön!

Vers 10

Und es geschah, als er in dem Haus zu Tisch lag, und siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und lagen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Mt 9,10

Die Schilderung im Matthäus-Evangelium ist so knapp, dass man ihr vielleicht nicht auf Anhieb folgen kann. Es ist, als würde Matthäus das, was ihn selbst betroffen hat, so kurz halten wollen, wie es nur geht. Aus der Parallelstelle in Lk 5,27–32 geht hervor, dass Matthäus dem Herrn Jesus ein grosses Mahl in seinem eigenen Haus bereitet hat, zu dem er auch zahlreiche Zöllner und andere Gäste geladen hat. Das Haus, von dem wir hier in Mt 9,10 lesen, ist also das Haus von Matthäus gewesen, der aus lauter Freude, dem Herrn Jesus nachfolgen zu dürfen, gleich ein grosses Gastmahl gegeben hat. Obwohl er viele Leute eingeladen hat, heisst es in Lk 5,29, dass er «Ihm» – dem Herrn Jesus – dieses Mahl bereitet hat. Das war alles für den Herrn Jesus!

Man mag sich vielleicht wundern, dass der Herr Jesus diese Einladung angenommen und mitten unter «vielen Zöllnern und Sündern» Platz genommen hat, um mit ihnen zu essen und Gemeinschaft zu haben. Wir werden in den Folgeversen sehen, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten sich sehr daran gestossen haben. Auch für uns ist es schwierig, das zu fassen, denn als echte Gläubige sind wir aufgerufen, keine Gemeinschaft mit der Welt zu haben (z.B. Jak 4,4). Wie müssen wir das nun einordnen?

Dieser Frage werden wir bei der Betrachtung der folgenden Verse näher auf den Grund gehen. Aus dem vor uns liegenden Vers bzw. aus der Parallelstelle in Lk 5,29 geht aber schon der erste wichtige Punkt hervor, den ich bereits erwähnt habe: Matthäus macht dieses Mahl für den Herrn Jesus. Das war kein beliebiger gesellschaftlicher Anlass, sondern ein Gastmahl, dessen Hauptzweck darin bestand, den Herrn Jesus zu ehren. Zwischen einer Einladung, die wir aussprechen, um mit alten Kumpels nochmals so richtig die Sau rauszulassen, und einer Einladung, die im tiefen Wunsch ausgesprochen wird, verlorene Menschen in die Gegenwart des HERRN zu führen, besteht ein himmelweiter Unterschied. Es ist gut, wenn wir uns bei jeder Gelegenheit Rechenschaft darüber abgeben, weshalb wir eigentlich eine Einladung ausgesprochen oder angenommen haben, und was denn der eigentliche Hauptzweck des Anlasses ist.

Vers 11

Und als die Pharisäer es sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern? Mt 9,11

Zöllner, Heiden (Nichtjuden) und «Sünder», also solche, die für ihr sündhaftes Leben bekannt waren, waren den Pharisäern und den Schriftgelehrten ein Gräuel. Sie mieden den Kontakt zu solchen Menschen. Diese Haltung ist nicht völlig verkehrt, denn zu allen Zeiten gilt der Grundsatz: «Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten» (1.Kor 15,33). Für Gläubige aller Zeiten gilt die Maxime: «Seid heilig, denn ich bin heilig» (1.Petr 1,16). «Heilig» bedeutet «abgesondert», «für Gott reserviert». Ich heilige mich, indem ich mich von allem trenne und löse, was zwischen mir und Gott stehen könnte. Es liegt auf der Hand, dass ich mich nicht heilige, wenn ich weiterhin mit meinen Kumpels durch Bars ziehe oder regelmässig einen Nachtclub aufsuche, um einmal etwas extreme Beispiele anzuführen. Einem Christen steht es nicht gut an, den Kontakt zu offensichtlichen Sündern zu suchen, um mit ihnen etwas Spass zu haben.

Aber warum liess der Herr Jesus sich von Matthäus zu einem Gastmahl einladen, zu dem ausser Ihm und Seinen Jüngern nur solche geladen waren, die von den Pharisäern wohl als Gesindel bezeichnet worden wären? Die Antwort ist einfach: Er ging geistlich gesehen nicht zu ihnen hinab, sondern zog sie zu sich hinauf. Er ging nicht dorthin, um eine «gute Zeit» mit Sündern zu haben, sondern vielmehr, um Sündern einen Ausweg aus ihrem verkorksten Leben zu zeigen. Das war auch die Intention von Matthäus. Matthäus wollte nicht dem Herrn Jesus nachfolgen, aber gleichzeitig sein altes Leben weiterführen, sondern er wollte, dass seine ehemaligen Kollegen das finden könnten, was er gefunden hatte. Das ist ein grosser Unterschied.

Für uns gilt der Grundsatz, dass wir uns einerseits von der Welt absondern, d.h. nicht bei dem mitmachen sollten, was zu diesem weltlichen System, zum Zeitgeist, gehört, aber andererseits immer wieder versuchen sollen, den Kontakt zu «Zöllnern und Sündern» herzustellen, um sie in die Gegenwart des Herrn Jesus zu ziehen. Das ist eine schwierige Gratwanderung, aber als echte Gläubige haben wir den Heiligen Geist, der uns an der Hand nehmen und führen wird.

Vers 12

Als aber er es hörte, sprach er: Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Mt 9,12

Die Pharisäer, diese Heuchler, hatten den Herrn Jesus nicht direkt auf Sein Verhalten angesprochen. Vielmehr hatten sie versucht, Ihn Seinen Jüngern «madig» zu machen, d.h. bei den Jüngern Zweifeln an Seiner Person zu wecken. Aber Er hörte es und nahm sofort Stellung. Seine Jünger waren dem hinterhältigen Angriff der Pharisäer nicht schutzlos ausgeliefert. «Er wird nicht zulassen, dass dein Fuss wankt. Dein Hüter schlummert nicht. Siehe, nicht schlummert und nicht schläft der Hüter Israels» (Ps 121,3.4).

Seine Antwort an die Pharisäer macht klar, dass Er keineswegs die Absicht hatte, nur ein wenig Gesellschaft zu pflegen oder ein gutes Essen zu geniessen. Ihm war natürlich völlig bewusst, dass Er Sich unter Zöllnern und Sündern aufhielt, aber Er sah sie nicht als Abschaum, sondern als Kranke, die einen Arzt brauchen. Das ist so schön! Wir müssen dieselbe Sicht haben.

Leider ist unter vielen Christen mehr oder weniger stark die Ansicht verbreitet, dass wir einen Beitrag zu unserer Rettung leisten müssen. In der römisch-katholischen Kirche ist diese unbiblische Ansicht sehr präsent. Dort erscheint die Gnade Gottes lehrmässig als ein kleiner Beitrag, als der letzte Schubs, den wir noch benötigen, während wir selbst uns abmühen müssen, für die Gnade und die Rettung würdig zu werden. Das nennt man Werksgerechtigkeit, eine Gerechtigkeit durch eigene Werke. Das ist ein falsches Evangelium. Man muss es leider so deutlich festhalten. Aber auch unter evangelischen und evangelikalen Christen trifft man immer wieder auf Äusserungen, die zeigen, dass sie eine ähnliche Ansicht vertreten, sich für «etwas Besseres» halten, weil sie meinen, es sei ihre Klugheit, ihre Demut oder was auch immer gewesen, das sie auszeichne. Sie meinen, die Gnade Gottes sei eine Antwort auf etwas Gutes gewesen, das in ihnen selbst zu finden sei.

Aus der Bibel geht dagegen absolut klar hervor, dass wir alle krank – ja: todkrank! – sind und dass es diesbezüglich keinen Unterschied zwischen den Menschen gibt. Natürlich gibt es «bessere» und «schlechtere» Menschen, aber keiner ist so gut, dass er als ein «Gesunder» vor Gott stehen kann. Einer mag wohl denken, er gehöre zu den «Starken» (Mt 9,12), aber in Wahrheit sind wir alle krank. Nicht bei allen zeigen sich die Symptome gleich deutlich, aber die Krankheit ist bei allen da und sie wird bei allen zum Tod, zur Verdammnis führen. Christen sind nichts Besseres als die andern, sie haben nur die göttliche Medizin erhalten, die sie gesund macht. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen, damit wir das Evangelium ja nie «von oben herab» predigen. Unser Wunsch muss es immer sein, anderen Kranken zu jener Medizin zu führen, die auch uns selbst gesund gemacht hat.

Vers 13

Geht aber hin und lernt, was das ist: «Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer.» Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. Mt 9,13

Die Antwort des Herrn Jesus enthält ein Zitat aus dem Buch des Propheten Hosea: «Denn an Güte habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, und an der Erkenntnis Gottes mehr als an Brandopfern» (Hos 6,6). Wie müssen wir das verstehen? Hat Gott an all den Schlachtopfern, die Er selbst angeordnet hatte, kein Gefallen gehabt? Wieso hatte Er sie dann angeordnet? Die Antwort ist einfach: Es gibt ein einziges Opfer, das Ihm wirklich Wohlgefallen bereitet hat, weil es Ihn in einer vollkommenen Weise verherrlicht hat – das Opfer, das der Herr Jesus am Kreuz auf Golgatha dargebracht hat. Natürlich war es schrecklich in den Augen des Vaters, Seinen einzigen, Seinen geliebten Sohn auf diese Weise hingeben zu müssen, aber zugleich war es auch jener eine Moment in der Menschheitsgeschichte, in dem Er mehr geehrt und verherrlicht worden ist als jemals zuvor oder danach. Die Schlachtopfer, die Israel regelmässig – mehrmals täglich – darbringen sollte, sprachen sinnbildlich von diesem einen grossen Opfer und hatten daher als eine «Vorschau» auf das Kreuz von Golgatha einen grossen Wert für den Vater in den Himmeln.

Doch nicht nur das Opfer, das dargebracht wurde, musste makellos sein, um ein angemessener Vorausblick auf Golgatha zu sein. Auch der Priester, der es darbrachte, musste makellos sein, denn jener Priester, der das Opfer auf Golgatha darbrachte, war es ebenfalls. Wir müssen nämlich bedenken, dass der Herr Jesus Sich selbst in eigener Kraft und aus eigenem Antrieb geopfert hat, dass Er also nicht nur das Brandopfer, sondern auch der Priester gewesen ist, der es dargebracht hat. Das Volk Israel war allerdings nicht, was es hätte sein sollen. Es befand sich fast andauernd auf Irrwegen, war fast die ganze Zeit über all die Jahrhunderte hindurch widerspenstig und halsstarrig. Es erfüllte wohl seine rituellen Pflichten, aber sein Herz war weit entfernt. Äusserlich gesehen brachte das Volk dem HERRN jene Schlachtopfer dar, die Er angeordnet hatte, aber in Seinen Augen war das nur ein hohles Ritual, fast schon ein Hohn und ein Verspotten Seines heiligen Wesens. An diesen Schlachtopfern konnte Er kein Gefallen haben!

Der Beginn des sechsten Kapitels von Hosea beschreibt den Missstand im Volk Israel. Wenn es dort einmal Güte (oder: Treue gegenüber Gott) gab, dann nur wie eine Morgenwolke und wie ein Tau, der rasch verschwindet (Hos 6,4). Deshalb hatte der HERR das Volk schon in den Jahren davor so oft schlagen müssen (Hos 6,5). Der Zustand des Volkes war so schlimm, dass sich die Israeliten nur noch mit der Hoffnung trösten konnten, dass Der, der geschlagen hatte, auch wieder verbinden werde (Hos 6,1), dass Er sie nach zwei Tagen neu beleben und sie am dritten Tag wieder aufrichten werde (Hos 6,2). Doch dafür mussten sie zuerst lernen, was der HERR wirklich von ihnen wollte, nämlich nicht hohle Rituale, sondern Wahrheit im Innern, Herzen, die sich Ihm zuneigten: «Denn an Güte habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, und an der Erkenntnis Gottes mehr als an Brandopfern» (Hos 6,6).

Die Pharisäer meinten, sie würden Gott perfekt dienen. Sie hielten sich für gerecht. Sie meinten, sie könnten vor Gott treten und Er müsste unglaublich zufrieden mit ihnen sein. Der Herr Jesus erklärte ihnen, dass sie völlig falsch lagen. Waren sie nicht die Söhne derer, zu denen Hosea gesprochen hatte? War ihre Haltung nicht dieselbe wie jene ihrer Väter? Sie mussten lernen, was die Bedeutung von Hos 6,6 ist. Dann würden sie erkennen, dass der Vater in den Himmeln Seinen geliebten Sohn gesandt hatte, um Sünder zu rufen, um sie zu retten und zu erneuern, damit sie nun wirklich vor Gott stehen konnten.

Vers 14

Dann kommen die Jünger des Johannes zu ihm und sagen: Warum fasten wir und die Pharisäer oft, deine Jünger aber fasten nicht? Mt 9,14

Die nächste Frage kam nicht von den Pharisäern oder den Schriftgelehrten, sondern von den Jüngern des Johannes des Täufers. Diese Jünger waren aufrichtig. Sie wollten nicht «beweisen», dass Jesus unmöglich der Christus sein konnte, sondern sie hatten eine Frage, die sie beschäftigte. Ihre Aufrichtigkeit zeigte sich unter anderem darin, dass sie nicht einen «Angriff» auf die Jünger starteten, sondern den Herrn Jesus direkt fragten. Viel zu oft schämen wir uns für unsere Fragen! Wir meinen, wir müssten die Antwort doch schon lange kennen, weil alle um uns herum so verständig erscheinen. Wir wollen den HERRN nicht damit belästigen und suchen im Internet nach der erstbesten Antwort, die uns einleuchtet. Wie viel besser wäre es, wenn wir mit unseren Fragen ohne jede Scheu zum HERRN gehen würden! Wie viel besser wäre es, wenn wir uns direkt von Ihm belehren lassen würden! Natürlich gibt es sehr gute Quellen im Internet, die wir konsultieren sollen. Aber auch wenn wir die Gaben des HERRN – die Lehrer im Volk Gottes – in Anspruch nehmen, sollten wir den Blick zur Quelle, zum Herrn Jesus, gerichtet haben, die Gemeinschaft mit Ihm suchen und unsere Fragen direkt mit Ihm besprechen. Antworten, die wir uns von Ihm erfleht haben, haben eine ungleich stärkere Wirkung auf unser Herz als solche, die uns in den Schoss gefallen sind.

Die Jünger des Johannes fasteten – wie auch die Pharisäer – oft. Der prahlerische Pharisäer im Tempel (Lk 18,11.12) war ein aufgeblasener religiöser Heuchler, aber wohl kaum ein Lügner. Er fastete wohl wirklich zweimal pro Woche! Aus den jüdischen Schriften ist bekannt, dass es zudem bestimmte jährliche Fastentage gab, von denen einige im Buch des Propheten Sacharja erwähnt werden. Wir dürfen davon ausgehen, dass das Fasten, das Beten und das Almosengeben drei wesentliche Säulen der jüdischen Religion bildeten; sie stellen auch in der islamischen Religion drei von fünf Säulen dar. Interessanterweise finden wir im Alten Testament aber kaum Anweisungen zum Fasten. Das «Kasteien der Seele», das für den grossen Versöhnungstag angeordnet war, ist wohl das einzige regelmässige Fasten, das Gott Seinem Volk verordnet hat. Sehr viel häufiger hatte Er Seinem Volk regelmässige Freude und Festfeiern verordnet. In erster Linie sollte sich das von Ihm erlöste Volk an Seiner Gegenwart und an Seiner Güte erfreuen. Es ist bezeichnend, dass sich das Fasten im Judentum schritthaltend mit der Abkehr von Gott entwickelt hat. Damit will ich nicht sagen, dass das Fasten an sich falsch wäre. Keinesfalls! Aber man müsste blind sein, wenn man keinen Zusammenhang zwischen der Abwendung des Volkes vom HERRN und der parallel dazu aufkommenden Gewohnheit des Fastens sehen würde. Auf diesen Zusammenhang wollen wir bei der Betrachtung der folgenden Verse etwas näher eingehen.

Vers 15

Und Jesus sprach zu ihnen: Können etwa die Hochzeitsgäste trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen weggenommen sein wird, und dann werden sie fasten. Mt 9,15

Bereits bei der Betrachtung zu Mt 6 haben wir gesehen, dass das Fasten nichts weiter als ein Hilfsmittel für ein intensives Gebet ist. Wer um des Fastens willen fastet, wie es gerade jetzt wieder in den 40 Tagen vor Ostern getan wird, hat nicht verstanden, worum es beim Fasten geht. «Sprich zum ganzen Volk des Landes und zu den Priestern: Wenn ihr im fünften und im siebten Monat beim Wehklagen gefastet habt, und dies siebzig Jahre, habt ihr etwa mir gefastet?» (Sach 7,5). Fasten ist keine «religiöse Übung» und auch keine «Säule des Glaubens», sondern ein Weg, uns mehr Zeit und Konzentration für das Gebet zu verschaffen, damit wir unsere Anliegen mit mehr Nachdruck vor dem Thron der Gnade ausbreiten können.

Wer den Zweck des Fastens verstanden hat, hat auch verstanden, dass das Fasten nichts für gute Zeiten, sondern etwas für schlechte Zeiten ist. Wir fasten, wenn wir selbst in Not sind, wenn ein Nächster in Not ist, wenn das Volk Gottes in Not ist, oder auch, wenn unser Land, in dem wir leben, in Bedrängnis und Nöte kommt. Fasten geht nicht Hand in Hand mit Lobpreis, sondern mit Flehen.

Als das Volk Israel ganz frisch von Gott selbst in das gute Land Kanaan geführt worden war, wurde kaum je gefastet. Der Grund liegt auf der Hand: Das Volk erlebte eine Zeit der Freude und des Wohlstandes. Jene Zeit war wie das jährliche Laubhüttenfest ein Vorgeschmack auf die zukünftige Freude, wo man «wirklich fröhlich» respektive «nur fröhlich» sein wird (vgl. 5.Mose 16,15). Aber schon nach kurzer Zeit entfernten sich die Herzen immer weiter von Gott, was nicht ohne Folgen blieb. Schliesslich kam es zur ersten nationalen Katastrophe, der Zerstörung des Tempels im Jahr 586 v.Chr. Da finden wir die Juden plötzlich regelmässig fastend an. Der Prophet Daniel fastete regelmässig (Dan 9,3), einmal sogar drei Wochen am Stück (Dan 10,2.3). Ist das verwunderlich? Natürlich nicht! Das Volk befand sich in grosser Not, weshalb es sich für gottesfürchtige Männer von selbst verstand, zu fasten und zu flehen.

Viele Jahre später war der Herr Jesus als Mensch hier auf der Erde, der verheissene Messias, der Erlöser, der Bräutigam am Tag Seiner Hochzeit. Überall in Israel sollte gepredigt werden, dass das lang ersehnte Friedensreich nahe gekommen war. Wie hätten die Jünger (sehr schön: die «Söhne des Brautgemachs» – aber nicht: «die Braut»!) da traurig sein oder fasten können? Das wäre völlig unpassend gewesen. Doch der Bräutigam sollte von ihnen weggenommen werden. Dann würden sie fasten.

Vers 16

Niemand aber setzt einen Flicken von neuem Tuch auf ein altes Gewand; denn das Eingesetzte reisst von dem Gewand ab, und der Riss wird schlimmer. Mt 9,16

Mit zwei kurzen Gleichnisssen erklärte der Herr Jesus den Pharisäern auf eine anschauliche Weise, dass sich nun einiges ändern sollte. Ihre Gebräuche, ja der ganze israelitische Gottesdienst glich einem alten Gewand mit Löchern. Bitte nicht falsch verstehen! Die Anordnungen des HERRN für Israel waren gut, das Gesetz war gerecht, heilig und gut (Röm 7,12), aber in all den Jahrhunderten war es den Juden (im Allgemeinen) nicht wirklich gelungen, den Sinn von all dem wirklich zu erfassen. Sie kratzten immer nur an der Oberfläche und begnügten sich mit Äusserlichkeiten. Mit ihren eigenen, von Menschen erfunden Zusätzen untergruben sie die göttlichen Anordnungen teilweise, sodass sich «Löcher im Gewand» bildeten. Einmal wird der Tag kommen, an dem sie ausrufen werden, dass ihre Gerechtigkeiten (nicht: ihre Ungerechtigkeiten) wie ein beflecktes Kleid seien (Jes 64,5), d.h. den göttlichen Ansprüchen niemals genügen konnten.

Was war die Reaktion Gottes auf diesen Missstand? Wer diese Frage beantworten kann, kann den Übergang vom Alten zum Neuen Testament erklären, was leider nur den wenigsten Christen wirklich gelingt. Aber mehr noch: Wer das verstanden hat, wird erkennen, dass das Handeln Gottes zu allen Zeiten einem ganz bestimmten Muster gefolgt ist. In Seinem Gleichnis erklärte der Herr Jesus, dass Er keinen Flicken von neuem Tuch auf das alte Gewand setzen werde, weil das den Riss nur schlimmer machen würde. Wir haben in diesem Gleichnis also ein altes Gewand, ein neues Tuch und die Entscheidung, dies nicht zu vermischen.

Gott ändert Sein Wesen niemals. Da ist nicht einmal der Schatten eines Wechsels (Jak 1,17). Deshalb ändert sich auch Sein Handeln mit den Menschen niemals grundsätzlich. Die ganze Menschheits- oder Heilsgeschichte ist von einer unvergleichlichen Kontinuität gekennzeichnet. Das ganze Wort Gottes ist in sich eins; überall, in allen Schriften weht derselbe Geist. Ist ein Gewand kaputt gegangen, wird zwar ein neues Gewand, aber nicht etwas grundsätzlich anderes besorgt. Wesensmässig sind das alte und das neue Gewand dasselbe.

Aber doch haben wir ein neues Gewand vor uns, ein anderes Tuch. Wenn Gott eine neue Sache begonnen hat, sei das in der Erschaffung des Menschen, mit der Reinigung der Erde durch die Sintflut oder mit der Befreiung Israels, und wenn der Mensch diese gute Sache, dieses «Gewand» durch eigenes Versagen kaputt gemacht hat, dann gibt es keinen «Reset». Die Räder der göttlichen Vorsehung drehen sich immer nur vorwärts, niemals rückwärts (vgl. Hes 1,17). Das Verlorene wird nicht wiederhergestellt, sondern beseitigt und durch etwas Neues ersetzt. Wer sich einmal darauf achtet, wird sofort feststellen, dass jeder neue Abschnitt in der Heilsgeschichte von neuen Grundsätzen geprägt gewesen ist. Der Mensch wurde nach dem Sündenfall nicht zurück in den Garten Eden geführt, sondern angehalten, sich auf einem verfluchten Erdboden zu bewähren und seinem Gewissen zu folgen. Nachdem eine katastrophale Entwicklung eingetreten war, hat der HERR die Sintflut über die Erde gebracht. Anschliessend hat Er Noah und dessen Söhne nicht etwa aufgefordert, dieses Mal nun wirklich dem Gewissen zu folgen, sondern Er hat neue Regeln aufgestellt, die Todesstrafe und damit eine menschliche Regierungsgewalt sowie den Fleischverzehr eingeführt. So ging es immer weiter. Das Gewand musste mehrfach gewechselt werden, aber es blieb wesensmässig immer ein Gewand. Eine Vermischung von Neuem und Altem wäre fatal gewesen; beides wäre beschädigt worden.

Wie viele Christen verstehen diesen wichtigen Punkt falsch! Wie viele Christen sehnen sich z.B. danach, die apostolische Zeit nochmals aufleben zu lassen, wieder zurück zu jener ersten glücklichen Zeit der Christenheit zu kehren! Aber es ist unmöglich. Wir können das, was durch unser Versagen verloren gegangen ist, nicht wieder herstellen. So handelt Gott nicht. Oder betrachten wir einmal das System der römisch-katholischen Kirche! Das ist nichts anderes als ein israelitischer Gottesdienst unter christlicher Flagge! Der Sonntag ist der Sabbat 2.0, es gibt eine Priesterklasse, es gibt Gewänder, Musik, Weihrauch, Tempelgebäude, Feiertage etc. Der römisch-katholische Gottesdienst ist geprägt von Dingen, die zum israelitischen Gottesdienst gehören und in einem christlichen Gottesdienst nichts verloren haben. Oder denken wir nur an die unzähligen Christen, die das Gesetz für Israel bzw. die Zehn Gebote halten wollen! Sie nähen Stücke vom alten Gewand auf das neue. Und wie viele Christen können nicht erklären, wie das Alte und das Neue Testament zusammenpassen? Sie haben nicht verstanden, was es bedeutet, dass ein altes Gewand durch ein neues ersetzt wird.

Vers 17

Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreissen die Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche verderben; sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche, und beide bleiben zusammen erhalten. Mt 9,17

Dieses zweite Gleichnis sagt in seinem Kern dasselbe wie das erste Gleichnis vom alten Gewand und dem Flicken aus neuem Tuch aus, aber es betont zusätzlich einen ganz bestimmten Aspekt. Noch immer geht es darum, dass der HERR einen Zeitabschnitt, in dem der Mensch versagt hat, (mit Gericht) beendet und dann etwas Neues schafft, statt das Alte wiederherzustellen. Doch als der Herr Jesus dieses Wort an die Pharisäer richtete, stand Gott im Begriff, den aussergewöhnlichsten aller Zeitabschnitte in Seinem Handeln mit den Menschen einzuläuten, nämlich die christliche Zeit, die Zeit der ekklesia (wörtlich: die Herausgerufene; biblischer Ausdruck für die Gesamtheit aller echten Christen, also: die Gemeinde, die Versammlung). Nur von diesem Zeitabschnitt heisst es, «damit jetzt den Gewalten und Mächten in der Himmelswelt durch die Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes zu erkennen gegeben wird» (Eph 3,10). In unserer christlichen Zeit erfüllen sich die grössten und herrlichsten Pläne, die Gott je gefasst hat. Jede Zeit ist für sich besonders, aber diese, unsere Zeit sticht aus allen anderen Zeiten deutlich hervor. Und diesen Punkt soll dieses zweite Gleichnis verdeutlichen.

Man erntet ja bekanntlich keinen vergorenen Wein, sondern (unvergorenen) Traubensaft. Im Altertum füllte man diesen in Lederschläuche. Da Traubensaft den idealen Nährstoff für Hefen bildet, beginnt er ohne eine Behandlung innert Stunden zu gären. Dabei wandeln die Hefen Zucker in Alkohol und Kohlendioxid um. Das gasförmige Kohlendioxid benötigt zusätzlichen Platz. Der Saft beginnt zu schäumen. Befindet er sich in einem Lederschlauch, wird dieser gedehnt. Ein alter, spröder Schlauch wird dem Druck von innen nicht standhalten, sondern reissen. Ein neuer, noch geschmeidiger Schlauch wird dagegen halten. Deshalb muss neuer Wein in neue Schläuche gefüllt werden.

Was Gott im Begriff stand zu schaffen, sollte von Kraft, von Dynamik, von einem unbändigen Wirken des Heiligen Geistes geprägt sein. Hätte man versucht, dieses Wirken in die alten Schläuche des etablierten jüdischen Systems zu zwängen, wäre dieses gesprengt worden. Tatsächlich entstand ab Pfingsten ein Riss zwischen den ersten Christen (die allesamt aus Israel stammten!) und den Juden, der rasch immer tiefer wurde. Die Juden waren im Allgemeinen nicht bereit, den neuen Weg zu betreten. Sie kannten den alten Wein und wollten lieber weiter von diesem trinken (vgl. Lk 5,39). Jene Juden, die Christen geworden waren, konnten dagegen nicht lange weiter im religiösen System bleiben; neue Gefässe wurden geschaffen, die lokalen Zeugnisse (Gemeinden).

Schon nach wenigen Jahrhunderten hat man es leider geschafft, ein neues pseudo-christliches System aufzurichten, das in praktisch allen Aspekten dem ehemaligen jüdischen System glich. Es gab eine zentrale Schaltstelle, eine Priesterklasse, Gewänder, Tempel, pompöse Musik und Zeremonien etc. Wie konnte das geschehen? Man hatte sich von der neuen Kraft des Heiligen Geistes abgewendet. Wo der Heilige Geist noch weiter mächtig wirksam war, konnten die Leute nicht in diesem falschen System bleiben. Sie bildeten neue Gruppen ausserhalb des religiösen Lagers, die von «der Kirche» so blutig verfolgt wurden, wie die Christen einst von den Juden verfolgt worden waren.

Vers 18

Während er dies zu ihnen redete, siehe, da kam ein Vorsteher herein und warf sich vor ihm nieder und sprach: Meine Tochter ist eben jetzt verschieden; aber komm und lege deine Hand auf sie, so wird sie leben. Mt 9,18

Noch während der Herr Jesus über die unbändige Kraft sprach, die den soeben neu eröffneten Zeitabschnitt im Handeln Gottes mit den Menschen kennzeichnen sollte, wurde Er gebeten, ein totes Mädchen zurück ins Leben zu rufen. Wir finden zwar im Alten Testament einige Berichte über Toten-Auferweckungen, aber die Finger einer Hand sind mehr als genug, um diese Begebenheiten zu zählen. Toten-Auferweckungen waren etwas komplett Aussergewöhnliches gewesen, aber nun wurde der Herr Jesus gebeten, dies zu tun, als wäre es eine Aufgabe wie jede andere auch. Doch wie passend! Eben hatte Er über die Kraft Gottes gesprochen, nun sollte sie ein weiteres Mal unter Beweis gestellt werden.

Es ist bezeichnend, dass der Vater, der so für seine Tochter bat, ein Vorsteher einer Synagoge war. In den Synagogen kamen die Juden zusammen, um Gott zu suchen, aber sie taten dies selbstverständlich innerhalb der vorgegebenen engen Formen des jüdischen Gesetzes und ihrer Traditionen. Obwohl dieser Mann eine solche Synagoge leitete, war ihm offensichtlich bewusst, dass er dort nicht mit jener Hilfe rechnen konnte, die er nun brauchte und suchte. Das ist ebenso auffällig wie etwa die Schilderung in Mk 1 von einem Menschen, der ganz unauffällig an einem Gottesdienst in einer Synagoge teilnehm, obwohl er von Dämonen besessen war (Mk 1,21.22). Erst als der Herr Jesus auf den Plan trat, musste sich der Dämon zu erkennen geben – und weichen (Mk 1,23–26). Das ist eben der Unterschied: Wo Gott selbst anwesend ist und frei wirken kann, da entfaltet sich Seine göttliche Macht. Wo man sich dagegen in starren Formen bewegt und nicht mit Seiner Gegenwart und Seiner Kraft rechnet, da ist diese Kraft in der Regel nicht zu finden.

Vers 19

Und Jesus stand auf und folgte ihm, und seine Jünger. – Mt 9,19

Hier in diesem unscheinbaren Vers haben wir eine schöne Veranschaulichung des Gegensatzes zwischen dem Gesetz und der Gnade vor uns. Der Synagogenvorsteher war sicher ein gewissenhafter Beobachter des Gesetzes gewesen, aber selbst wenn er alles gehalten hätte, was das Gesetz forderte, hätte er sich dadurch keinen Anspruch auf ein Eingreifen Gottes zugunsten seiner Tochter verschaffen können, denn das Maximum dessen, was das Gesetz bieten konnte, war das Leben desjenigen, der alles halten würde. Wir können auch sagen, dass jemand, der das ganze Gesetz eingehalten hat, Gott nur dasjenige gegeben hat, was er seinem Schöpfer ohnehin schuldig war. Wir wissen aber aus der Bibel, dass es niemals einem Menschen gelungen ist, das ganze Gesetz zu halten. Die lange und bewegte Geschichte des Volkes Israel ist ein beeindruckendes Mahnmal für diese traurige Tatsache. Wir wissen auch, dass 99 Prozent nicht reichen. «Denn wer das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller Gebote schuldig geworden» (Jak 2,10).

Das Gesetz bezweckte aber auch gar nie, dem Menschen einen Anspruch auf irgendetwas zu verschaffen. Es sollte dem Menschen nur zeigen, was er sein sollte – und dass er das nicht ist (vgl. Röm 3,20). Es ist wie ein Spiegel, der den Ist- und den Soll-Zustand zeigt, aber keine Kraft gibt, vom Ist- zum Soll-Zustand zu kommen. Das Gesetz ist niemals für einen Menschen in irgendeiner Weise tätig geworden.

Im Gegensatz dazu genügte ein Wort, eine Bitte aus dem Mund des Synagogenvorstehers an den Herrn Jesus – und Er stand auf und wurde in Gnade für ihn tätig. Nun gut, mag man einwenden, der Synagogenvorsteher sei aber auch würdig gewesen, dass ihm eine solche Gnade widerfahren sollte. Der nächste Vers wird uns allerdings eindrücklich zeigen, dass die Gnade nicht auf das sieht, was im Menschen zu finden ist (sonst wäre sie nicht Gnade!), sondern allein davon abhängt, was in Gott zu finden ist.

Vers 20

Und siehe, eine Frau, die zwölf Jahre blutflüssig war, trat von hinten heran und rührte die Quaste seines Gewandes an; Mt 9,20

Während der Herr Jesus unterwegs war, um dem Synagogenvorsteher zu helfen, trat eine Frau mit einem völlig anderen Hintergrund an Ihn heran. Wir wissen nichts über sie als nur, dass sie seit zwölf Jahren schwer krank und rituell unrein war, denn im Gesetz Moses heisst es: «Und wenn eine Frau ihren Blutfluss viele Tage ausser der Zeit ihrer Absonderung hat oder wenn sie den Fluss über ihre Absonderung hinaus hat, soll sie all die Tage des Flusses ihrer Unreinheit sein wie in den Tagen ihrer Absonderung: Unrein ist sie» (3.Mose 15,25). Wir erfahren über diese Frau also nur, dass sie in Not war, aber den Anforderungen des Gesetzes nicht genügte und deshalb auf dem Boden des Gesetzes nichts zu erwarten hatte.

In ihrer Not wendete sie sich an den Herrn Jesus. Sie musste die feste Überzeugung haben, dass Er ihr helfen und das geben könne, was das Gesetz ihr notwendigerweise vorenthalten musste. Zugleich zögerte sie aber, Ihn «richtig» anzurühren oder gar anzusprechen, denn sie wusste ja genau, dass sie unrein war und deshalb jeden Menschen, den sie berührt hätte, verunreinigt hätte. Also rührte sie nur die Quaste an, ein Fadenbündel, das an den Ecken des Obergewandes angebracht sein musste (vgl. 4.Mose 15,38.39). Das war die denkbar zurückhaltendste Form der Berührung. Mochte eine solche Frau, die vom Gesetz nur als unrein verurteilt werden konnte, beim Herrn Jesus wohl Gnade finden?

Vers 21

denn sie sprach bei sich selbst: Wenn ich nur sein Gewand anrühre, so werde ich geheilt werden. Mt 9,21

Diese arme, geplagte Frau hatte echten Glauben, denn sie traute dem HERRN alles zu. Was sie selbst betraf, so war sie unsicher und ängstlich, denn sie näherte sich dem Herrn Jesus nur versteckt in einer grossen Volksmenge und dazu noch von hinten. Sie wagte es nicht, Ihn «richtig» anzurühren. Ihr Glaube bewegte ihre Hand nicht weiter als nur bis zu einer Quaste. Aber gleichzeitig rechnete ihr Glaube fest damit, dass der HERR selbst auf diese kleine Regung mit Seiner unermesslichen Gnade reagieren würde. Die Frau wusste, dass Gott wirklich allmächtig ist, und nur der Glaube konnte ihr dieses Wissen vermitteln.

Wir bekennen ja auch oft, dass Gott allmächtig sei. Aber rechnen wir wirklich damit? Glauben wir wirklich, dass Er jede Situation im Bruchteil einer Sekunde komplett verändern kann? Oder gleichen wir eher den Israeliten, die, nachdem sie durch Wunder und Plagen aus Ägypten, mitten durch das Rote Meer und durch eine schreckliche Wüste geführt worden waren, wo der HERR sie übernatürlich gespiesen und getränkt hatte, noch immer dachten, Er würde sie dort umkommen lassen?

Vers 22

Jesus aber wandte sich um, und als er sie sah, sprach er: Sei guten Mutes, Tochter! Dein Glaube hat dich geheilt. Und die Frau war geheilt von jener Stunde an. – Mt 9,22

Die Parallelstellen in den Evangelien nach Markus und Lukas (Mk 5,25–34 und Lk 8,43–48) zeigen, dass diese Begebenheit im Evangelium nach Matthäus sehr verkürzt dargestellt wird. Wir lesen hier nichts vom Gespräch zwischen dem Herrn Jesus, den Jüngern und der Frau, sondern finden nur die abschliessende Antwort des Herrn sowie das Ergebnis der Begegnung: die vollständige Heilung der Frau. Der Grund dafür dürfte im Umstand zu finden sein, dass die Kapitel 8 und 9 des Evangeliums nach Matthäus uns aufzeigen sollen, dass der verheissene Messias-König für Israel da gewesen und Seine Macht unter Beweis gestellt hat. Mochten Blinde rufen, ein Synagogenvorsteher bitten, ein Zöllner gefunden werden oder eine unreine Frau nur eine Quaste des Gewandes anrühren – der Messias war reich für alle. Sämtliche Bedürfnisse wurden gestillt. Sogar den Heiden widerfuhr Gnade!

Diese Frau war eine Tochter Abrahams und musste deshalb vom Segen profitieren, der vom Messias ausging. Vielen Christen ist diese Tatsache nicht bewusst. Sie kennen nur den Himmel und die Hölle, wiedergeborene oder verlorene Menschen. Ihnen ist nicht bekannt, dass Gott der HERR auch noch Pläne mit dieser Erde hat, dass Er hier auf dieser Erde noch einmal für tausend Jahre zeigen will, wie Er Sich Seine Schöpfung wirklich gedacht hatte, was der Mensch nach Seinem Willen sein sollte, welcher Segen ausgehen wird, wenn ein Mann nach Seinem Herzen regiert. All das hatte Er Seinem Volk Israel verheissen – und Er wird jedes Detail Seiner Verheissungen erfüllen! Wie könnte es auch anders sein?

Israel wird als Nation ein ganz besonderes Teil dieses Segens geniessen, weil der HERR Sich dieses Volk dazu auserwählt hat. Das bedeutet nicht, dass jeder Israelit automatisch für die Ewigkeit errettet wäre, denn das Schicksal des Volkes an sich hat nichts mit dem Schicksal der einzelnen Angehörigen dieses Volkes zu tun. Diese beiden Dinge muss man klar unterscheiden. Die Nation als Ganzes ist momentan noch verworfen, aber doch gibt es viele einzelne Israeliten die in dieser Gnadenzeit zum echten Glauben an den Herrn Jesus gefunden haben und dadurch das ewige Leben erhalten haben. Bald wird die Nation wieder vollständig bei Gott angenommen sein, aber doch wird es einzelne Israeliten geben, die auf ewig verloren gehen werden.

Als der Herr Jesus als Mensch auf der Erde war, war dieses Königreich Gottes auf der Erde nahe gekommen, denn der König war da. Das ist die Botschaft der ersten Hälfte des Evangeliums nach Matthäus. Deshalb wird die Begegnung mit der blutflüssigen Frau so kurz geschildert. Sie war eine Tochter Abrahams? Sie kam zum Messias-König? Sie musste geheilt werden!

Vers 23

Und als Jesus in das Haus des Vorstehers kam und die Pfeifer und die aufgeregte Volksmenge sah, Mt 9,23

Die Tochter des Vorstehers musste bereits einige Zeit sehr schwer krank gewesen sein, denn kaum hatte sie den Kampf gegen die Krankheit verloren, waren bereits die «Pfeifer» und eine «aufgeregte Volksmenge» da, um die Trauerklage zu halten. Das waren allesamt Menschen, die man üblicherweise für Geld anstellte, damit sie den Verlust eines Familienangehörigen lautstark betrauerten. Dieses Geschäft war offenbar schon zur Zeit des Propheten Amos bestens bekannt gewesen, denn in Amos 5,16 heisst es, dass das untreue Volk Israel in der Zeit der Züchtigung durch die Hand des HERRN «den des Klageliedes Kundigen» herbei rufen wird, also jemanden, der für Geld trauert.

Wir werden in den folgenden Versen sehen, dass die Trauer im Haus des Vorstehers nur ein Schauspiel und nicht echt gewesen ist. Wieso wird das hier so betont? Leider hat man Stellen wie diese aus einem Missverständnis heraus herangezogen, um Christen zu belehren, dass Trauer und Totenklage für einen Gläubigen ungeziemend seien. Vom Verstand her dürfen wir zwar die wunderbare Gewissheit haben, dass ein wiedergeborener Gläubiger nur durch eine Tür in die Herrlichkeit eingeht, dass der Tod der Frommen kostbar ist in den Augen des HERRN (Ps 116,15). Aber das bedeutet nicht, dass wir sämtliche Regungen unseres Herzens unterdrücken sollen. Wir sind doch keine Roboter! Unser perfektes Vorbild hat es uns vorgemacht: Als der Herr Jesus am Grab Seines Freundes Lazarus stand und ganz genau wusste, dass Er ihn in wenigen Minuten aus dem Tod zurück ins Leben rufen würde, nahm Er doch teil an der Trauer der nächsten Angehörigen und vergoss still Tränen (Joh 11,35), sodass die Umstehenden sagten: «Siehe, wie lieb hat er ihn gehabt!» (Joh 11,36). Echte, tiefe Trauer um einen geliebten Menschen ist nie fehl am Platz!

Vers 24

sprach er: Geht fort! Denn das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft. Und sie lachten ihn aus. Mt 9,24

Wäre der Herr Jesus im Haus des Vorstehers auf echt Trauernde gestossen, hätten diese auf Seine unpassend anmutende Bemerkung hin irritiert oder gar beleidigt reagiert, aber gewiss nicht gelacht. Das Lachen dieser Leute zeugt nicht nur von mangelndem Respekt, sondern zeigt auch deutlich auf, dass die Trauer nur gespielt war. Mit einer solchen Trauer kann der HERR genauso wenig anfangen wie mit jeder anderen Form von Heuchelei. «Siehe, du hast Gefallen an Wahrheit im Innern» (Ps 51,8).

Aber was hatte der Herr Jesus denn gesagt, das eine solche Reaktion hervorgerufen hat? Er hat das für alle erkennbar gestorbene Mädchen als schlafend, aber lebend bezeichnet. Das mochte wohl wirklich etwas gar abenteuerlich klingen in den Ohren dieser Leute! Sie werden sich wohl gedacht haben, dass Er nicht einmal die offensichtlichsten Dinge wahrnehmen und einordnen könne. Aber in Wahrheit hat Er natürlich weitaus klarer gesehen, als sie es je gekonnt hätten.

Erinnern wir uns an Mt 8,22? Jemand hatte sich dem Herrn Jesus anschliessen, aber erst noch seinen gerade verstorbenen Vater begraben wollen. Der Herr Jesus hatte ihm geantwortet, dass er die Toten ihre Toten begraben lassen solle. Damals hatte Er als Lebende als Tote bezeichnet, während Er hier eine Tote als eine Lebende bezeichnete. Ganz offensichtlich bezog Er sich in beiden Situationen nicht auf das Irdische, sondern auf das Geistige. Er sprach nicht von der Verbindung bzw. Trennung von Seele (sowie Geist) und Körper (erster Tod), sondern vom Zustand des Geistes.

Der menschliche Geist ist einerseits jenes Teil, das uns zu höherem Denken befähigt (vgl. Ps 77,7), andererseits aber auch das Verbindungsstück zu Gott, der ja auch Geist ist (vgl. Joh 4,24; Röm 8,16). Wir können das mit einem elektronischen Gerät vergleichen: Solange es am Stromnetz angeschlossen ist, bezieht es «Leben» vom Kraftwerk; wird die Verbindung getrennt, «lebt» es noch weiter, solange es in sich selbst noch Restenergie gespeichert hat (z.B. in einem Akku). Der Mensch ist als ein direkt an den Schöpfer «angekoppeltes» Wesen geschaffen, hat diese Verbindung aber gekappt und lebt gott-los in der Welt. Er ist von Natur aus tot (vgl. Eph 2,1), weiss es aber nicht. Für eine gewisse Zeit kann er autonom leben, aber diese Zeit ist begrenzt und kurz. Danach ist es aus. Nur wer die Verbindung zum Schöpfer wieder herstellen lässt, lebt wirklich. Der Geist eines solchen Menschen ist lebendig und der Mensch lebt, auch wenn er stirbt.

Vers 25

Als aber die Volksmenge hinausgetrieben war, ging er hinein und ergriff sie bei der Hand; und das Mädchen stand auf. Mt 9,25

Die Volksmenge musste hinausgetrieben werden, weil sie mit der Sache nichts zu tun hatte. Diese Leute hatten für Geld ein erbärmliches Schauspiel veranstaltet und den HERRN der Herrlichkeit verspottet. Wieso sollte Er sie an einem der grössten Wunder teilhaben lassen, die die Menschheit je gesehen hat? Andere Evangelien erwähnen weitere Details, aber die Schilderung von Matthäus ist gerade durch ihre Kürze sehr eindrucksvoll: Der Herr Jesus ging hinein, ergriff das Mädchen bei der Hand und schenkte ihr in einem Augenblick das Leben wieder. Das Mädchen stand auf und bewies dadurch, dass es wirklich ins Leben zurückgekehrt war.

Hier haben wir einen wichtigen Grundsatz vor uns, wenn auch nur angedeutet: Leben macht sich bemerkbar. Ein Tier, das lebt, atmet und bewegt sich. Man kann seinen Herzschlag spüren. Selbst eine Pflanze bewegt und verändert sich, wenn sie lebt. Befindet sie sich in der Winterruhe und ist der besorgte Gärtner nicht sicher, ob sie noch lebt, kann er die Rinde anritzen. Kommt grünes, saftiges Gewebe (das Kambium) zum Vorschein, lebt die Pflanze noch. Sie wird die Wunde in den kommenden Tagen verschliessen. Es gehört zur Eigenheit des Lebens, dass es sich bemerkbar macht.

Erhält ein Mensch aus Gottes Gnade neues, ewiges Leben, so wird sich das bemerkbar machen. Manchmal sind wir diesbezüglich vielleicht etwas zu ungeduldig und manchmal sehen wir nicht genau hin, weil wir uns auf bestimmte Taten und Verhaltensweisen beschränken, die wir beobachten. Aber wenn wir einmal einen Schritt zurück gehen und über einen längeren Zeitraum beobachten, wie eine Person, die von sich sagt, sie habe das ewige Leben erhalten, früher gewesen ist und wie sie jetzt ist, dann wird sich in den allermeisten Fällen doch recht deutlich zeigen, ob neues Leben vorhanden ist oder nicht. Hat sich über Jahre am Wesen der betroffenen Person nichts zum Guten verändert, dann müssen wir die Bekehrung in Zweifel ziehen oder zumindest befüchten, dass diese Person in geistlicher Hinsicht schwer krank ist. Der Normalfall ist, dass sich die Bekehrung über kurz oder lang bemerkbar macht. Das vom Herrn Jesus auferweckte Mädchen ist aufgestanden und umhergegangen. Jeder konnte eindeutig erkennen, was geschehen war.

Vers 26

Und die Kunde hiervon ging hinaus in jene ganze Gegend. Mt 9,26

Die Auferweckung eines Mädchens aus den Toten war tatsächlich ein gewaltiges Wunder, weshalb es wenig überrascht, dass die Kunde davon sofort die Runde machte. Obwohl die Leute viel darüber sprachen und sich verwunderten, gab es aber offenbar nur Wenige, die den naheliegenden Schluss zogen, nämlich dass die Hand Gottes hier im Spiel sein musste. Nur Gott kann Leben schenken. Tote Materie wird nicht lebending, es sei denn auf Sein Wort hin. Wir Menschen haben es zwischenzeitlich sehr weit gebracht, aber etwas zum Leben zu erwecken ist uns noch immer so unmöglich, wie es schon immer gewesen ist. Leider macht uns dieses Wissen nicht demütig. Auch wenn es viele Menschen gibt, die die verschiedenen Wunder Gottes in der Natur und in der Geschichte bestaunen, so gibt es doch nur Wenige, die dadurch in Seine Arme geleitet werden.

Die (echte) Bekehrung eines Menschen ist genauso ein grosses Wunder wie die Auferweckung des Mädchens, denn sie bedeutet, dass ein Mensch, der geistlich tot gewesen ist, wieder lebendig geworden ist, dass er neues Leben in einer unvergleichlichen Qualität erhalten hat, lebendig gemacht worden ist. So gewaltig ist eine Bekehrung! Auch ein solches Wunder müsste heute noch die Runde machen! Vielleicht würden dann einige Menschen kommen und sich selbst vergewissern wollen, dass dieses «Mädchen», das tot gewesen ist, wieder lebt, umhergeht und alle nur erdenklichen Zeichen des geschenkten Lebens zeigt. Und vielleicht würden sie dadurch überzeugt werden. Liebe Geschwister im Herrn Jesus Christus, jeder von uns ist ein solches Wunder! Sind wir uns dessen bewusst? Wir zeugen nur schon dadurch von der Auferstehungskraft Gottes, dass wir leben und alle Anzeichen für dieses neue Leben zeigen. Verhalten wir uns entsprechend, oder werfen wir eine Decke über unsere leuchtenden Angesichter, um ja niemandem auf die Füsse zu treten?

Vers 27

Und als Jesus von dort weiterging, folgten ihm zwei Blinde, die schrien und sprachen: Erbarme dich unser, Sohn Davids! Mt 9,27

Die Schilderung von typischen messianischen Wundern, mit denen die Worte der sogenannten Bergpredigt bestätigt werden sollten, ist noch nicht zu Ende. Kaum war ein Mädchen aus den Toten auferweckt worden, kamen zwei Blinde, die sich nach Augenlicht sehnten. Interessant ist, dass sie den Herrn Jesus als «Sohn Davids» (hebr. Ben David) ansprachen. Der Bedeutungsumfang des hebräischen Wortes «Ben» ist weiter als jener des deutschen Wortes «Sohn». Es bezieht sich nicht nur auf den direkten Nachkommen in der nächsten Generation, sondern kann für jeden direkten Nachkommen – egal, welcher Generation – verwendet werden. Auch der Enkel, der Urenkel und der Ururenkel sind «Ben». Weil das Alte Testament sehr deutlich davon spricht, dass der Messias ein direkter Nachkomme von David sein sollte, war klar, dass Er ein «Ben David» sein werde. Deshalb hat sich dieser Ausdruck als einer von mehreren Titeln für den Messias eingebürgert.

Die beiden Blinden sprachen den Herrn Jesus also mit einem der bekanntesten Ehrentitel für den Messias an. Wenn wir bedenken, wie sehr sich die grosse Masse des jüdischen Volkes geweigert hat, Ihn als den anzuerkennen, als den Er sich so deutlich zu erkennen gegeben hatte, ist es doch erstaunlich, dass diese beiden Blinden besser und klarer gesehen haben als alle anderen. Gewisse Dinge sieht man eben mit dem Herzen besser als mit den Augen. Wer die Wahrheit nicht sehen will, wird sie auch nicht erkennen, wenn sie offen vor seinen Augen ausgebreitet liegt. Für jenen hingegen, der ernsthaft nach der Wahrheit sucht, wird bereits ein kleiner Hinweis ausreichen, um ihn auf die richtige Spur zu führen.

Vers 28

Als er aber in das Haus gekommen war, traten die Blinden zu ihm; und Jesus spricht zu ihnen: Glaubt ihr, dass ich dies tun kann? Sie sagen zu ihm: Ja, Herr. Mt 9,28

Die Blinden hatten den Sohn Davids um Hilfe angerufen und wurden erhört. Wir werden später bei der Betrachtung einer anderen Begebenheit sehen, dass dies nicht ganz selbstverständlich gewesen ist. Diese Blinden waren Israeliten; sie gehörten zu Gottes auserwählten Volk, das in einer Bundesbeziehung zu Ihm und zu Seinem Messias stand. Nun war der Messias da, sie riefen Ihn an und wurden erhört. So wird es im Tausendjährigen Friedensreich sein, wo der Segen ungehindert zu den Menschen ausströmen wird – und zwar durch eine Person, nämlich durch den dann auf der Erde anwesenden und regierenden Messias. Passend dazu wird hier in Mt 9,28 wie nebenbei erwähnt, dass der Herr Jesus zusammen mit den Blinden ein Haus betreten hat, wo sie für sich waren. Das Haus ist der Ort der intimen Gemeinschaft. Die Juden nannten übrigens den Tempel unter anderem einfach «ha Bajt» – «das Haus». Bei einer Hausgemeinschaft denkt man vor allem an die Familie. Wenn also der Herr Jesus hier zusammen mit zwei Angehörigen des Volkes Israel ein Haus betritt, dann spricht das vorbildlich vom Segen, in den Israel im künftigen Zeitalter in ganz besonderer Weise eingeführt werden wird. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir davon lesen, wie der Herr Jesus ein Haus verlassen wird, was ebenfalls von vorbildlicher Bedeutung ist.

Indem die Blinden den Herrn Jesus als den Sohn Davids angesprochen und Ihn um Hilfe gebeten hatten, hatten sie bereits Glauben an Seine Person gezeigt. Trotzdem sollten sie nun nochmals ihren Glauben klar bekennen. «Glaubt ihr, dass ich dies tun kann?» Diese Frage beinhaltet die wesentlichen Punkte des wahren Glaubens im biblischen Sinn. Es geht nicht um eine allgemeine, vage Hoffnung, sondern um ein festes Vertrauen. Dieses Vertrauen bezieht sich auf eine ganz bestimmte Person. Die Menschen «glauben» vieles, zum Beispiel, dass am Ende alles irgendwie gut gehen wird, dass man nur eine positive Einstellung zum Leben haben muss und so weiter. Aber das ist nicht Glaube im biblischen Sinn. Biblischer Glaube besteht darin, einer ganz bestimmten Person unbedingt zu vertrauen, etwa so, wie wenn man einen Tandem-Fallschirmsprung absolviert: Man lässt sich mit einem anderen Menschen zusammenbinden, der dann in schwindelerregender Höhe aus einem Flugzeug springt – ohne Netz und doppelten Boden. Vertraut man diesem Menschen, lässt man das mit sich machen; vertraut man ihm nicht, wird man sitzen bleiben und ihm zusehen, wie er alleine aus dem Flugzeug springt. Glückselig, wer dem Herrn Jesus uneingeschränkt vertraut! Glückselig, wer die Frage: «Glaubt ihr, dass ich dies tun kann?» mit: «Ja, Herr!» beantworten kann!

Vers 29

Dann rührte er ihre Augen an und sprach: Euch geschehe nach eurem Glauben! Mt 9,29

Der Herr Jesus hat während Seines öffentlichen Dienstes in Israel mehrere Blinde geheilt. Verschafft man sich einmal einen Überblick über alle Begebenheiten, stellt man fest, dass Er nicht nach einem bestimmten Schema vorgegangen ist, sondern jedes Mal wieder etwas anders gehandelt hat. Alle Einzelheiten hätten uns eine Menge zu sagen, aber wir wollen uns hier mit der Feststellung begnügen, dass das Handeln Gottes immer neu, immer frisch und oft überraschend ist. Diese beiden Blinden heilte Er mit einer Berührung der Augen. Der Herr hätte sich diese Berührung sparen können und nicht einmal ein Wort sprechen müssen, um die Blinden zu heilen, aber es gefiehl Ihm, die Heilung mittels einer sanften, liebevollen Geste zu bewirken. Genauso hatte Er bereits den Aussätzigen geheilt, von dem in Mt 8 die Rede ist. Es sind auch in unserem Leben diese Berührungen mit dem Herrn Jesus, die uns heil und gesund machen. Heilung findet dort statt, wo Er selbst anwesend ist.

Interessant ist auch der Ausspruch des Herrn: «Euch geschehe nach eurem Glauben!» Weder bei einer Heilung noch bei der Errettung kann der Mensch irgendeinen Beitrag leisten. Gott ist in Seinem Handeln absolut souverän, d.h. Er handelt, wann, wo und wie Er will, ohne dass irgendjemand ein Wort mitzureden hätte. Kein einziger Mensch könnte je errettet werden, wenn Gott untätig bliebe, denn Er ist es, der die Menschen zu Sich zieht, sie in Sein Licht stellt, sie durch den Heiligen Geist überführt und sie ruft. «Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es» (Eph 2,8). «Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen» (Röm 3,27). Und doch finden wir in der Bibel verschiedene Beispiele, die zeigen, dass das Mass des Glaubens eines Menschen ausschlaggebend für das Mass des Segens gewesen ist, den er erfahren hat. Abraham «feilschte» mit dem HERRN betreffend Sodom und hörte dabei kein einziges Nein; die «Verhandlung» endete dort, wo Abraham sich nicht mehr weiter vor wagte (1.Mose 18,16ff.). Die Witwe, die durch den Propheten Elisa auf wundersame Weise mit Öl versorgt wurde, erhielt so viel, wie jene Krüge fassen konnte, die sie gesammelt hatte; hätte sie mehr Krüge besorgt, hätte sie mehr Öl erhalten (2.Kön 4,1ff.). Joasch, der König von Israel, wurde einmal scharf getadelt, weil er auf die Anweisung des Propheten hin nur dreimal und nicht fünf- oder sechsmal mit Pfeilen auf die Erde geschlagen hatte (2.Kön 13,14ff.). Noch viele weitere Beispiele zeigen, dass das Mass des Glaubens des Menschen durchaus nicht ohne Bedeutung ist.

Das klingt nach einem Widerspruch, denn wir kann alles von Gott hoheitlich bestimmt sein und trotzdem vom Mass des Glaubens eines Menschen abhängen? Diese Frage können wir mit unserem begrenzten und durch den Sündenfall korrumpierten Verstand nicht endgültig beantworten. Aber wir können vielleicht eine Ahnung davon erhalten, wie sich diese Dinge verhalten könnten. In solchen Situationen ist der HERR allein der Handelnde. Der Segen, den Er geben kann, ist potentiell unbegrenzt, aber genau auf die Situation zugeschnitten. Im Prinzip könnte der HERR einfach tun, was Er Sich vorgenommen hat. Aber es gefällt Ihm, Sich von uns bitten zu lassen. Dabei geht es nicht darum, dass wir Ihn dazu bewegen, etwas anderes zu tun, als Er Sich vorgenommen hat, sondern es geht um Gemeinschaft. Ein Vater kann seinem Kind das lang ersehnte Geschenk einfach so geben, aber es ist für beide schöner, wenn das Kind ihn darum bittet und er es dann quasi als Reaktion auf die Bitte des Kindes überreicht. Zudem gefällt es dem HERRN, uns in Sein Werk einzuspannen, denn Er ist ein Belohner (Hebr 11,6). Er will uns beteiligen und dann so belohnen, als wäre der Erfolg des Projektes ganz wesentlich von uns abhängig gewesen.

Entscheidend ist dabei stets unser Glaube. Die Blinden wurden nicht durch die richtigen Worte oder das richtige Verhalten, sondern durch ihren Glauben geheilt. Gott reicht das Mass des Glaubens dar, aber Er will, dass wir ihn betätigen. Die Kehrseite ist, dass wir hinter dem zurück bleiben können, was der HERR vorgesehen hat, wie im Beispiel des Königs Joasch von Israel. Dann kann es sein, dass wir einen Teil des vorgesehenen Segens verpassen. Wir können also zwar von Gott nicht mehr erhalten, als Er uns geben will, aber es ist möglich, dass wir weniger erhalten, als möglich gewesen wäre, weil wir nicht geglaubt haben. Deshalb wollen wir Gott so viel wie nur möglich zutrauen!

Vers 30

Und ihre Augen wurden geöffnet; und Jesus bedrohte sie und sprach: Seht zu, niemand erfahre es! Mt 9,30

Wenn der Herr Jesus Sich anschickte, jemanden zu heilen, trat immer sofort eine vollständige Heilung ein. Heute gibt es viele, die angeblich in Seinem Namen Heilung versprechen, aber diese Leute können in aller Regel keine einzige echte Heilung vorweisen, die sich mit den Berichten in den Evangelien vergleichen liesse. Andere Menschen wenden sich nicht an den Herrn Jesus, sondern an andere Adressen. Gerade unter Katholiken ist es z.B. weit verbreitet, Heilung bei Maria, der «Himmelskönigin» (regina coelis; vgl. Jer 7,18 und Jer 44,17!), bei anderen «Heiligen» oder aber an besonderen «heiligen Stätten» zu suchen. Das ist Götzendienst in seiner finstersten Form! Hütet euch davor! Echte Heilung gibt es nur beim Herrn Jesus Christus zu finden – Heilung nicht nur für den Körper, sondern auch für den Geist und die Seele.

Beim Herrn dienten Heilungs- und andere Wunder allerdings nie einem Selbstzweck. Sie waren allesamt Zeichen, d.h. Wegweiser auf etwas Wichtigeres hin, nämlich auf Seine Botschaft. Sein öffentlicher Dienst bestand in erster Linie darin, das Wort Gottes zu predigen. Die Wunder flankierten lediglich die Botschaft. Sie spielten vor allem für die Juden eine wichtige Rolle, «weil denn Juden Zeichen fordern» (1.Kor 1,22). Der Herr Jesus stellte deshalb die Wunder nie in den Vordergrund. Teilweise – wie hier – wollte Er sogar, dass nicht einmal darüber gesprochen werde. Das hier in Mt 9,30 verwendete Wort («bedrohte») ist sehr stark. Es zeigt an, dass der Herr Jesus die Blinden mit Nachdruck angehalten hat, ihre Heilung nicht an die grosse Glocke zu hängen.

Vers 31

Aber sie gingen hinaus und verbreiteten die Kunde von ihm in diesem ganzen Lande. Mt 9,31

So schön der Glaube ist, den die Blinden gezeigt haben, so auffallend ist ihr offensichtlicher Ungehorsam. Der Herr Jesus hatte sie bedroht, das Geschehene nicht an die grosse Glocke zu hängen, aber sie wussten nichts Besseres, als hinauszugehen und die Kunde im ganzen Land zu verbreiten! So ist der Mensch. Wenn Gott sagt: «Schweig!», spricht er; wenn Gott sagt: «Rede!», schweigt er. Natürlich verstehen wir nur zu gut, dass diese Blinden ihre Begeisterung über das, was geschehen war, und über Den, dem sie begegnet waren, nicht für sich behalten konnten. Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Der Herr Jesus hatte Seine Gründe und das hätte ihnen genügen müssen, um sich selbst zurück zu nehmen und zu schweigen.

Wenn wir das Leben unseres geliebten Herrn betrachten, stellen wir fest, dass Sein ganzer Wandel von zwei grossen Grundsätzen gekennzeichnet gewesen ist, nämlich von Abhängigkeit und Gehorsam. Als Gott war Er der Einzige, der je wirklich unabhängig agieren konnte, aber als Mensch hat Er sich ganz bewusst und mit vollkommener Entschiedenheit von Seinem Vater in den Himmeln abhängig gemacht. Nie hat Er einen Schritt getan, ein Wort gesagt oder einen Gedanken verfolgt, der seinen Ursprung nicht im himmlischen Vater gehabt hätte. Als der Teufel Ihn aufforderte, einen Stein in Brot zu verwandeln, weigerte Er sich trotz seines enormen Hungers. Wieso? Was wäre daran verkehrt gewesen? An sich nichts. Aber Er wollte keinen Bissen zu sich nehmen, der Ihm nicht vom Vater selbst dargereicht wurde! Lieber wollte Er verhungern, als unabhängig zu handeln! Dann zeigte Er aber auch einen unvergleichlichen Gehorsam. Was immer der Vater in den Himmeln gebot, es war Ihm eine Freude zu gehorchen! Ja, das war das grosse Motto Seines vollkommenen Lebens: «Da sprach ich: Siehe, ich komme (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben), um deinen Willen, o Gott, zu tun» (Hebr 10,7). Zu den Jüngern sagte Er einmal: «Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk» (Joh 4,34).

Ach, möchten wir doch unsere Blicke mehr auf Ihn gerichtet haben, auf dass Seine Herrlichkeit auf uns abstrahle und wir Seine Herrlichkeit in unserem Leben widerspiegeln! Möchte sich doch in unserem Leben verwirklichen, was geschrieben steht: «Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des HERRN anschauend, werden verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit als durch den HERRN, den Geist» (2.Kor 3,18)! Möchten wir doch mehr in Abhängigkeit und Gehorsam gegenüber unserem Vater in den Himmeln wandeln, wie es uns unser grosses Vorbild vorgemacht hat!

Vers 32

Als sie aber weggingen, siehe, da brachten sie einen stummen Menschen zu ihm, der besessen war. Mt 9,32

Die Menschen waren tief beeindruckt von den Zeichen, die sie gesehen hatten. Der Herr Jesus hatte jede Art von Krankheit geheilt, jeden Besessenen befreit, sogar eine Tote auferweckt. Jeder, der zu Ihm gekommen war, war erhört worden. Die weiteren Ereignisse sollten aber zeigen, dass sie für Ihn selbst, für Seine Person, weder Bewunderung noch Wertschätzung empfanden. Sie nahmen gerne alles, was Er gab, aber Ihn selbst wollten sie nicht.

Dass die Menschen einen stummen Besessenen zum Herrn Jesus brachten, zeigt uns, dass sie Ihm sehr viel zugetraut haben. Schon die alten Rabbiner hatten Dämonen ausgetrieben, aber sie waren darauf angewiesen, dass der Dämon seinen Namen nannten. Das gab ihn einen wichtigen «Hebel», den sie nutzen konnten, um den Dämon zu befehligen. War ein Besessener stumm, konnte der Name des Dämons nicht in Erfahrung gebracht werden. In einem solchen Fall konnten die Rabbiner nichts ausrichten. Sie sollen gesagt haben, dass nur der Messias einen stummen Besessenen befreien könne. Wenn die Menschen also einen stummen Besessenen zum Herrn Jesus führten, zeigten sie damit, dass sie Ihm mehr zutrauten als den angesehensten Rabbinern. Das war wie eine Art Test: Wird Er auch dieses schaffen?

Vers 33

Und als der Dämon ausgetrieben war, redete der Stumme. Und die Volksmengen wunderten sich und sprachen: Niemals wurde so etwas in Israel gesehen. Mt 9,33

Und wieder zeigte sich ganz deutlich, dass der Herr Jesus ein Wunder getan hatte: Der ehemals Stumme redete ganz normal! Die Volksmengen hatten es zwar angesichts der davor geschehenen gewaltigen Zeichen, die der Herr getan hatte, für möglich gehalten, dass Er auch diesen Dämon austreiben könne, aber als es dann tatsächlich vor ihren Augen geschah, waren sie ausser sich. Selbst wenn wir das Zeugnis aus den rabbinischen Schriften nicht hätten, wonach es für einen gewöhnlichen Menschen unmöglich sei, einen stummen Dämon auszutreiben, hätten wir hier einen eindeutigen Beweis vor uns, dass der Herr Jesus hier etwas getan hatte, das noch niemand vor Ihm je getan hatte. Und dann finden wir diesen Beweis sogar in der Heiligen Schrift selbst!

Es gibt bis heute (nicht wenige) Menschen, die meinen, der Herr Jesus habe nie behauptet, Er sei mehr als ein Mensch. Aber diese Menschen kennen offensichtlich die Bibel nicht, denn Er hat das nicht nur – mehrfach – gesagt, sondern auch – wiederholt – durch Zeichen bekräftigt. Bereits den damals lebenden Juden war das ganz klar bewusst. Hier haben wir nur eine von zahlreichen Begebenheiten vor uns, wo diese Wahrheit deutlich hervorgestrahlt – und von den Menschen erfasst worden ist.

Vers 34

Die Pharisäer aber sagten: Er treibt die Dämonen aus durch den Obersten der Dämonen. Mt 9,34

Die Volksmengen haben also verstanden, dass hier etwas geschehen war, das es noch nie zuvor gegeben hatte. Der logische Schluss lag nahe, wurde hier aber noch nicht gezogen: Musste Dieser nicht der lange ersehnte Messias sein? Wenn schon die einfachen Volksmengen das alles richtig beurteilen konnten, wie viel mehr die Pharisäer und die Schriftgelehrten! Für die Pharisäer musste das bereits der x-te deutliche Hinweis dafür sein, dass wahrhaftig der Messias vor ihnen stand: Die Abstammung (Mt 1,1ff.), die sie damals noch anhand des zentralen Registers im Tempel hatten überprüfen können, die Geburt in Bethlehem (Mt 2,6), das Zeugnis von Johannes dem Täufer (Joh 1,29), die Heilung eines Aussätzigen (Mt 8,1ff.), die Heilung eines Gelähmten in Anwesenheit aller religiösen Führer aus ganz Judäa und Galiläa (Lk 5,17ff.), die Auferweckung eines toten Mädchens (Mt 9,23ff.) und nun die Befreiung eines stummen Besessenen! Die Beweise hätten nicht klarer, die Schlussfolgerung nicht nahe liegender sein können: Hier stand der Messias.

Die Pharisäer waren die strengste Sekte der Juden. Sie verfügten über die beste Bibelkenntnis. Aber sie hatten keine Liebe für die Person des Messias. Er passte ihnen nicht. Sie hätten lieber jemand anders als diesen verachteten Nazaräer gehabt. Und deshalb stolperten sie über Ihn. Sie wollten nicht wahrhaben, dass dies der Messias war, sie lehnten Ihn ab und deshalb lagen sie letztlich in jedem einzelnen Punkt falsch. Gute Schriftkenntnis ist wichtig, aber aufrichtige Liebe zu Gott ist wichtiger. Wir erkennen Ihn mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand. Deshalb hatten selbst die einfachsten Leute keine Probleme, wirklich zu Jesus Christus zu kommen, während die gebildetsten und eifrigsten Verfechter des Wortes Gottes kläglich scheiterten.

Nach der Ansicht der Pharisäer durfte das nicht der Messias sein. Also mussten sie Seine Kraft einer anderen Quelle zuschreiben, was sie auch ohne jeden Skrupel taten: «Er treibt die Dämonen aus durch den Obersten der Dämonen». Sie bezeichneten Ihn wider besseres Wissen als einen Gesandten des Teufels!

Vers 35

Und Jesus zog umher durch alle Städte und Dörfer und lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium des Reiches und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen. Mt 9,35

Nachdem der Evangelist Matthäus unter der Leitung des Heiligen Geistes in den Kapiteln 8 und 9 einzelne besondere Begebenheiten näher beschrieben hatte, um zu zeigen, dass der Herr Jesus nicht nur mit Worten (sog. «Bergpredigt» in den Kapiteln 5–7), sondern in wahrer Kraft anwesend war, um das messianische Zeitalter einzuläuten, hat er in den Versen 35–38 des Kapitels nochmals überblicksmässig dargestellt, was der öffentliche Dienst unseres Herrn beinhaltet hat.

Prägend für den Dienst waren weniger die Zeichen und Wunder, auch wenn diese auf uns einen grösseren Eindruck machen mögen, sondern die Worte, die Predigten. Beachten wir, dass der Herr Jesus das Evangelium des Reiches, präziser: des Königreiches predigte. Die gute Botschaft, die sich exklusiv an Israel richtete, wie wir bald sehen werden, bestand darin, dass der lange ersehnte Messias nun gekommen und bereit war, das messianische Friedensreich auf der Erde, von dem die alttestamentlichen Propheten so oft gesprochen hatten, aufzurichten. Die mit diesem Reich zusammenhängenden Verheissungen sind primär irdisch-materieller Natur, weshalb die Predigt vom Evangelium des Reiches mit der Heilung jeder Krankheit und jeden Gebrechens einher ging. Das Evangelium des Reiches spricht also vom bestmöglichen Leben auf dieser Erde, während das Evangelium, das wir heute predigen, nicht von irdischen und materiellen Hoffnungen, sondern von einer himmlischen Berufung mit geistlichen Segnungen geprägt ist. Beide Evangelien drehen sich zentral um die Person unseres geliebten Herrn Jesus Christus, aber die Charakteristika sind unterschiedlich.

Vers 36

Als er aber die Volksmengen sah, wurde er innerlich bewegt über sie, weil sie erschöpft und verschmachtet waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Mt 9,36

Der Herr Jesus predigte das Evangelium nicht aus Zwang; das war für Ihn keine lästige Pflicht, sondern eine Herzensangelegenheit. Er sah die Volksmengen, die sich von Gott losgesagt, ihr eigenes Leben geführt und all Seine Gütigkeiten verschmäht hatten. Dieser Anblick weckte keinen Zorn, der durchaus berechtigt gewesen wäre, sondern tiefes Mitleid. Der Herr Jesus war «innerlich bewegt» – ein schöner Ausdruck, den wir immer wieder an Schlüsselstellen in den Evangelien finden. Diese Menschen hatten sich mehr oder weniger bewusst von Gott abgewendet, denn sie waren ja Sein Volk, aber das Verfolgen der eigenen Wege hatte ihnen kein bleibendes Glück gebracht, sondern sie im Gegenteil erschöpft und ermattet. Ein Schaf ohne einen Hirten ist verloren. Es wird umkommen. Der Teufel lockt mit dem Gras hinter dem Zaun, das immer grüner scheint, aber er ist ein Menschenmörder von Anfang an und der Vater der Lüge (Joh 8,44). Er kommt nur, um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben (Joh 10,10). Wer seinen Verlockungen folgt, wird im Elend enden.

Frau Torheit ist leidenschaftlich im Verführen, sonst kann sie nichts. Und sie sitzt an der Tür ihres Hauses, auf einem Sitz auf den Höhen der Stadt, um einzuladen, die des Wegs vorübergehen, die geradehalten ihre Pfade: Wer unerfahren ist, der kehre hier ein! – Wer ohne Verstand ist, zu dem spricht sie: Gestohlenes Wasser ist süss, und heimliches Brot schmeckt lieblich. – Und er weiss nicht, dass dort die Schatten sind, in den Tiefen des Scheol ihre Geladenen. Spr 9,13–18

Wie viele Menschen leben heute gottlos – von Gott losgelöst! Sie meinen, sie hätten endlich das bedrückende Joch des Christentums abgeschüttelt und seien dadurch frei geworden, aber ihre Abwendung vom Evangelium hat sie nur ins Unglück geführt! Ungefähr in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hat der grosse Abfall vom christlichen Glaubensgut in Europa eine ganz neue Dimension erreicht und ungefähr ab jener Zeit ist die Zahl von psychisch (= seelisch) kranken Personen sprunghaft angestiegen. Unglückliche Menschen, zerbrochene Ehen, orientierungslose Kinder und so vieles mehr sind die schrecklichen Konsequenzen davon, dass die Schafe sich von ihrem Hirten losgerissen haben und ins eigene Elend trotten! Sind wir – wie unser grosses Vorbild – auch innerlich bewegt über diese erschöpften und verschmachteten Volksmengen?

Vers 37

Dann spricht er zu seinen Jüngern: Die Ernte zwar ist gross, die Arbeiter aber sind wenige. Mt 9,37

Heutzutage glauben die meisten Menschen, dass es keinen Gott gebe oder dass man schlichtweg nicht wissen könne, ob es einen Gott gebe. Einige glauben an einen Schöpfer-Gott, also an einen Gott, der alles erschaffen, aber dann sich selbst überlassen habe. In Wahrheit gibt es genau einen Gott, der ein Schöpfer-Gott, aber auch ein Retter-Gott ist. Er hat alles erschaffen, aber nichts sich selbst überlassen. Selbst als die Menschen, die Krone Seiner Schöpfung, sich von Ihm losgesagt haben, hat Er sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Von der ersten Sekunde an ist Er aktiv darum besorgt gewesen, uns den Weg zurück zu Ihm, zur Quelle des Lebens zu ermöglichen.

Dies ist gut und angenehm vor unserem Retter-Gott, welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. 1.Tim 2,3.4

Der Herr verzögert nicht die Verheissung, wie es einige für eine Verzögerung halten, sondern er ist langmütig euch gegenüber, da er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Busse kommen. 2.Petr 3,9

Die Rettung aller Menschen ist nicht nur ein frommer Wunsch, den Gott hegt, sondern ein Herzensanliegen. Auch wenn Er niemanden zwingt, das Heil zu ergreifen, geht Er doch mit Nachdruck jedem einzelnen Menschen nach. Er will eine möglichst grosse Ernte einfahren. Dabei gefällt es Ihm, Menschen in die Arbeit einzubeziehen. Er will, dass jene, die zum lebendigen Glauben gekommen und von Neuem geboren worden sind, zu den Ihren gehen und diesen bezeugen, was mit ihnen geschehen ist, wie Menschen gerettet werden können. Die Menschen sollen das Evangelium von anderen Menschen hören, nicht von Engeln und auch nicht von einer Stimme aus den Himmeln.

Obwohl viele Menschen im Lauf der Zeit zu Kindern Gottes geworden sind, gibt es leider nur wenige Arbeiter. Theoretisch müsste jedes Kind Gottes auch ein Jünger, ein Arbeiter sein. Das wäre normal. Aber leider ist das nicht der Fall. Viele Christen machen eine ungesunde Entwicklung durch. Nicht selten kommt es zu einem geistlichen Wachstumsstillstand. Die Gründe dafür sind vielfältig und die Problematik ist oft komplex. Aber die gute Nachricht ist, dass jeder jederzeit die Möglichkeit hat, daran etwas zu ändern. Wir haben jeden Tag neu die Chance, das Alte hinter uns zu lassen und einen Schritt voran zu gehen. In den vor uns liegenden Versen finden wir eine schöne Anleitung, wie dies geschehen kann.

Vers 38

Bittet nun den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter aussendet in seine Ernte! Mt 9,38

Wie kommt der HERR zu mehr Arbeitern, die Er für die Ernte einsetzen kann? Die Antwort auf diese Frage finden wir in diesen und den nächsten Versen. Leider erweist sich die Kapitel-Einteilung hierbei (ausnahmsweise) als unglücklich gewählt und deshalb störend, weil die ersten Verse von Kapitel 10 noch zu diesem Thema gehören, das in den letzten Versen von Kapitel 9 angeschnitten wird. Das darf uns aber nicht irritieren. Das Wort Gottes enthält im Original keine Einteilung in Kapitel und Verse. Die Kapitel- und Versnummern wurden im Mittelalter eingeführt, um das Suchen in der Bibel zu erleichtern. Sie sind eine Lesehilfe, nicht mehr und nicht weniger.

Der erste Schritt ist, dass wir hören, was das Wort Gottes sagt: Es gibt viel Arbeit und wenig Arbeiter (Mt 9,37). Ist uns das bewusst? Schätzungen zufolge gibt es heute noch etwa zwei Milliarden Menschen, die das Evangelium noch nie gehört haben, und etwa weitere zwei Milliarden Menschen, die es noch nie richtig gehört haben. Im Gespräch mit jüngeren Menschen stellt man regelmässig fest, dass selbst in unser «christlichen» Gesellschaft kaum bekannt ist, was das Evangelium ist. Vielleicht denken wir, dass wir nichts ausrichten oder dass der HERR uns nicht brauchen kann. Das ist unsere Einschätzung. Seine Beurteilung lautet: «Die Ernte zwar ist gross, die Arbeiter aber sind wenige». Glauben wir Seinem Urteil mehr als unserer eigenen Einschätzung? Nehmen wir Sein Wort ernst?

Der zweite Schritt besteht darin, Sein Anliegen zu unserem Anliegen zu machen oder – mit aller Ehrfurcht und Zurückhaltung gesagt – Seine Not zu teilen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist der Apostel Paulus, der einmal geschrieben hat:

Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, wobei mein Gewissen mir Zeugnis gibt im Heiligen Geist, dass ich grosse Traurigkeit habe und unaufhörlichen Schmerz in meinem Herzen; denn ich selbst, ich habe gewünscht, verflucht zu sein von Christus weg für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch. Röm 9,1–3

Das sehnliche Verlangen des Apostels, dass so viele Israeliten wir nur möglich gerettet würden, hat dem Herzen Gottes entsprochen, denn dem HERRN hat es gefallen, diesen sehnlichen Wunsch in Sein ewiges Wort aufzunehmen und ihm dadurch Sein göttliches Siegel einzuprägen. Nun lautet die Frage an uns, ob wir auch so empfinden, wie Gott empfindet. Fühlen wir die Not, werden wir fast automatisch ins Gebet getrieben. Wir werden unsere eigene Unfähigkeit empfinden und uns an Den wenden, der alles vermag. Wir werden Ihn bitten, Arbeiter in Seine Ernte auszusenden. Das ist der zweite Schritt.

← Kapitel 8 Kapitel 10 →